The Age of Decadence - Vorschau, Rollenspiel, PC
Als mein Assassine den Dolch mit einem kritischen Treffer versenkt, muss ich jubeln. Erstens, weil ich diesen Kampf schon zum vierten oder fünften Mal mit anderer Taktik ausprobiere - eigentlich wollte ich schon aufgeben und einem anderen Auftrag folgen. Zweitens, weil da endlich der miese dritte und damit letzte Gegner in einer Blutlache liegt. Warum ließ er sich in dem Dialog davor auch nicht einschüchtern? Und drittens, weil ich tatsächlich noch einen verdammten Lebenspunkt habe. Man kann auch sagen, dass das ein heikles Gefecht auf Messers Schneide war – also ab zum Heiler.
Mit dem letzten Lebenspunkt
Ein Niemand gibt sein Ehrenwort
Es gibt nicht nur einen, sondern satte sechs Bereiche für den eigenen Ruf: Die Zahl der Tötungen und der Kämpfe, die Loyalität gegenüber Auftraggebern, die eher friedlichen Lösungswege, das Prestige sowie das Ehrenwort gehören dazu. Wer einen einmal angenommenen Mordauftrag nicht ausführt, verliert z.B. an Loyalität. Trotzdem muss man auch ablehnen können: Selbst als Assassine in seiner schwarzen Lederrüstung ist man nicht der klassische Held, um dessen Karriere sich alles dreht. Es ist nicht nur so, dass an jeder Ecke der Tod lauert. Man wird auch wie ein Niemand in einer anarchistisch und dekadent anmutenden Welt behandelt – die Gespräche können noch gnadenloser sein als das Gefecht.
Das rundenbasierte Kampfsystem von The Age of Decadence folgt zwar auf den ersten Blick klassischen Regeln inklusive Aktionspunkten, Trefferabfragen und Lebenspunkten. Aber es ist trotz des ärgerlichen Fehlens physikalischer Deckungsabfragen angenehm komplex: Je nach Bewaffnung stehen einem zig Manöver zur Verfügung – nicht nur schnelle, normale oder schwere Hiebe, sondern auch Wirbelangriffe, Finten mit Positionstausch, lokale Attacken auf Arme, Beine oder Kopf sowie gezielte Stiche in Arterien, um für eine Blutung zu sorgen. Man kann Feinde zurückwerfen, entwaffnen, blocken, vergiften. Nach einem Rechtsklick auf eine der meist historisch belegten Waffen wie dem römischen Gladius oder dem ägyptische Sichelschwert Chepesch, erkennt man alle Manöver samt ihrer Kosten in Aktionspunkten.
Anspruchsvolles Kampfsystem
Das hässliche Entlein
Was hat The Age of Decadence als Ausgleich zu bieten? Einen reifen, höchst kreativen Hintergrund, erzählerische Hingabe und Offenheit sowie ein Klassen- und Fähigkeitensystem, das viele Hochglanzrollenspiele alt aussehen lässt. Hier macht die Charakterentwicklung richtig Laune! Gerade Letzteres ist ein Highlight: Denn vor allen in den Gesprächen und den damit verknüpften Quests wirken sich nicht nur die geistigen Hauptattribute Wahrnehmung, Intelligenz und Charisma, sondern auch die zwölf zivilen Fähigkeiten wie Schleichen, Stehlen, Verkleidung, Geschichte, Überzeugung, Straßenwissen etc. aus – hier spürt man wirklich jeden Aufstieg von „Unskilled“ auf Level 1 über „Proficient“ auf Level 5 bis zur Meisterschaft.
Sobald man eine Fähigkeit besitzt, die ein Gespräch oder eine Herausforderung beeinflussen kann, wird diese als Option angeboten. The Age of Decadence fühlt sich in diesen Passagen fast an wie ein Abenteuer-Spielbuch à la Sorcery!, in dem man von Entscheidung zu Entscheidung blättert: Meistert man eine Einschüchterung oder eine Überzeugung, geht es mit der nächsten Situation weiter – bis man vielleicht scheitert. Auch als Dieb klickt man sich bei einem Einbruch quasi durch (sehr gut beschriebene) Aktionen, die wie Multiple-Choice-Aufgaben links in Textform präsentiert werden, während man auf der rechten Seite ein statisches Bild sieht. Klettert man durch das Fenster, geht man per Seil über das Dach oder versucht man das Türschloss zu knacken? All das macht man nicht aktiv, sondern liest es.
Wie ein Abenteuer-Spielbuch
Es macht aber auch so Spaß, eine identische Situation aus der Perspektive einer anderen Klasse zu spielen: Als Händler erlebt man z.B. die Situation als Opfer, die
man als Dieb oder Assassin vielleicht als Täter spielte. So erkennt man manchmal auch den wahren Charakter einer Nichtspielerfigur: Hinter dem weisen Antiquitätenhändler steckt also bloß ein gieriger Scharlatan? Es ist erstaunlich, mit wieviel Hingabe die Entwickler diese unterschiedlichen Pfade integriert haben.Abseits von dem persönlichen Verhältnis zu anderen Fraktionen hat man auch das angenehme Gefühl, dass sich die lokale Geschichte und die Story dynamisch entwickeln – kaum kehrt man von der ersten großen Reise nach Ganezzar zurück nach Teron, gibt es dort ein neues Kräfteverhältnis und die eigene Gilde der Assassine ist scheinbar geschlossen. Die Story ist allgemein gut konstruiert, man wird schnell neugierig gemacht: Zu Beginn geht es zwar lediglich um eine mysteriöse Karte, die man Lord Antidas zeigen soll, aber schon damit öffnen sich mehrere Möglichkeiten, denn man kann sehr subtil, sehr direkt oder über Aufträge zu ihm gelangen - dann müsste man noch das Banditenlager sowie die Mine erkunden und sich um Schmuggelware kümmern.
Antike Machtkämpfe mit dezentem Fantasy-Flair
Schon die erste Questreihe bis zum Treffen mit dem Lord ist sehr gut geschrieben. Danach zeigen sich nicht nur mehr Orte auf der Weltkarte, sondern es ergeben sich auch außenpolitische und religiöse Verstrickungen: Ähnlich wie in Telltales
Adventures wirken sich dann die Entscheidungen auf spätere Kapitel bzw. Orte aus – bei einem Wechsel wird einem angezeigt, welche Allianzen man geschmiedet oder für welche Fraktionen man etwas getan hat. Hat man z.B. dem Prediger in Teron zugehört oder ihn mit Steinen beworfen? Je nachdem wird man in einer anderen Stadt auch anders empfangen. Wer sich für Religionsgeschichte interessiert, wird einige interessante Parallelen zum Aufstieg des Christentums finden.Sterile Spielwelt mit wenig Interaktion
Das größte Problem von The Age of Decadence ist aber nicht die schwache Kulisse, sondern die schon erwähnte Statik: Die Erkundungsreize innerhalb der Spielwelt sind einfach kaum vorhanden und liegen weit unter dem Niveau des ersten Baldur's Gate. Selbst wenn man eines der wenigen offenen Gebäude betritt, kann man im Inneren kaum etwas tun, weil es nur ganz selten etwas per blauem Augensymbol zu
untersuchen oder per gelbem Icon zu interagieren gibt. Und das, obwohl vielleicht überall Kisten oder Regale stehen. Man kann auch nur sehr selten etwas einfach so finden. Man kann nichts aktiv stehlen oder Türen aufbrechen. So fühlen sich auch Tavernen & Co, die laut Fließtext voll sein sollen, eher wie Staffage an. Und das dämpft die Stimmung merklich, denn heutzutage gibt es auch in isometrischer Perspektive ansehnliche Vertreter wie etwa Shadowrun. Man kann auch lediglich die Siedlungen, aber nicht die eigentliche Spielwelt frei begehen bzw. bereisen – sobald man ein Tor verlässt, kann man auf der Weltkarte einen Ort anklicken (falls entdeckt) und reist automatisch dorthin. Dabei gab es bisher weder Zwischenfälle wie z.B. in Wasteland 2 noch muss man sich um die Versorgung kümmern.Ausblick
The Age of Decadence ist schon sehr lange ein Geheimtipp für Rollenspiel-Liebhaber alter Schule. Allerdings für jene, die nicht nur ein technisches Auge zudrücken: Die isometrischen Kulissen sind hoffnungslos veraltet - Wasteland 2 sieht dagegen aus wie Next Generation. Außerdem fehlen aktive Erkundungsreize und Interaktionen in der meist unbelebten Spielwelt. Warum kann ich mich trotzdem nicht davon lösen? Weil es sich stellenweise wie ein spannendes Abenteuer-Spielbuch anfühlt. Und weil es einige Pen&Paper-Tugenden pflegt: Das ist keine 08/15-Kitschfantasy, sondern ein historisch inspirierter Schmöker für Freunde von Entscheidungen und Konsequenzen mit wirklich guter Story. Ich kenne zudem kein Spiel, in dem sich die Werte, sowohl kriegerische als auch zivile, so stark auswirken: Wer seine „Überzeugungskraft“ oder sein „Straßenwissen“ erhöht, bemerkt sofort die Wirkung. Hinzu kommt ein anspruchsvolles Kampfsystem und eine Regie, die einen nicht als strahlenden Helden umarmt, sondern wie einen Nobody behandelt. Die Entwickler haben die Story für jede Klasse angepasst – so erlebt man als Händler eine Situation als Opfer, die man als Assassin vielleicht als Täter spielt. Auch wenn es mir jetzt schon unheimlich Spaß macht, die Perspektiven zu wechseln, scheint diese komplexe Regie ihren Tribut zu fordern: The Age of Decadence wirkt nach all den Jahren immer noch sehr leer, steril und spröde. Selbst das letzte Update "Ganezzar" sorgt in dieser Hinsicht für Ernüchterung. Hoffentlich können Vince D. Weller und sein Team dieses ambitionierte Rollenspiel dieses Jahr finalisieren.
Einschätzung: gut