Baldur's Gate 2 (engl.) - Test, Rollenspiel, PC

Baldur's Gate 2 (engl.)
16.10.2000, Jörg Luibl

Test: Baldur's Gate 2 (engl.)

Biowares Meisterstück

Die Rollenspiel-Flut ebbt nicht ab und Interplay setzt der AD&D-Schwemme mit Baldurs Gate 2 noch eins drauf. Gerade hat man sich durch das Eiswind-Tal gekämpft, und schon soll man den sonnigen Süden der Schwertküste unsicher machen! Kann das gut gehen?

Am Anfang stand jedenfalls die gesunde Skepsis gegenüber Nachfolgern: Immerhin bieten Story, Spielprinzip, Kampfsystem sowie die grafische Darstellung auf den ersten Blick nichts Neues. Dennoch überzeugen die Entwickler von Bioware mit der konsequenten Ausmerzung alter Kritikpunkte und der Perfektionierung von Grafik, Sound und Gameplay. Hinzu kommt eine düstere und vor allem ausgereifte Story, die dem Vorgänger um Längen voraus ist und selbst Planescape Torment das Fürchten lehrt.

Nachfolger haben es schwer

Auch wenn man nicht zur eingeschworenen AD&D-Gemeinde gehört, und vielleicht nicht einmal Baldurs Gate gespielt hat, sollte man sich ruhig in den Süden der Schwertküste wagen. Obwohl die Story nahtlos an den Vorgänger anknüpft, dürften selbst Neueinsteiger keine Probleme haben, sich in der Welt von Faerun zurechtzufinden.

Kampf und Magie bestimmen das Abenteuer.
Dafür sorgt ein sehr ausführliches Tutorial, das den Anfänger Schritt für Schritt mit der Steuerung und dem Kampfsystem vertraut macht. Im Spiel selbst gibt es zudem immer wieder Nicht-Spieler-Charaktere oder None-Player-Characters (NPCs), die bereitwillig zu Personen, Begebenheiten und Orten aus dem ersten Teil Auskunft geben. Baldurs-Gate-Veteranen dürfen sich übrigens auf zahlreiche alte Bekannte freuen: Waldläufer Minsc und sein Hamster Boo sind ebenso vertreten, wie Langfinger Imoen und die scharfzüngige Druidin Jaheira.

Minsc und Boo lassen grüßen

Am Anfang steht das Ritual der Charaktererschaffung. Im Gegensatz zu Icewind Dale darf man lediglich einen der insgesamt sechs Charaktere selber erschaffen, der aber gleich in der siebten Stufe startet. Man kann natürlich auch seinen Veteranen aus dem ersten Teil importieren. Das Erfahrungspunkte-Limit liegt übrigens bei unglaublichen 2.950.000 Punkten, was zu extrem hochstufigen AD&D-Charakteren mit Halbgott-Qualitäten führen wird.

Für die Qual der Wahl sorgen elf Charakterklassen, die auch noch mit Spezialisierungen locken. Der Kämpfer kann sich z.B. zwischen dem Berserker, dem Magierkiller und dem Kensai (Schwertexperte) entscheiden. Neu dabei sind der Barbar, der Zauberer und der Mönch. Außerdem darf man sich auch endlich für einen kriegerischen Halb-Ork entscheiden, was angesichts der Story sogar gut passen würde.

Abenteuer in Athkatla

Das Spiel beginnt in der für ihre Intrigen berüchtigten Stadt Athkatla. Die Hauptstadt Amns gilt als Händler- und Meuchlerparadies. Bestehend aus acht Stadtteilen ist diese Metropole übrigens noch größer als ihre nördliche Partnerstadt Baldur's Gate. Hunderte von NPCs sorgen alleine in Athkatla für eine realistische Großstadt-Atmosphäre. Selbst nach einer Woche Spielzeit dürfte also hier und da noch Neues zu entdecken sein.

Da hat es jemanden erwischt...
Das hervorragende Intro drückt dem Spiel gleich von Beginn an seinen düsteren und morbiden Stempel auf: Die Kamera rast durch ein schauriges Gewölbe, Ketten rasseln, Gefangene stöhnen und bizarre Folterinstrumente warten griffbereit auf euren mysteriösen Peiniger. Das Ganze erinnert atmosphärisch eher an Planescape Torment als an klassische Fantasy.

Gefangen im Verlies

Man beginnt das Spiel völlig irritiert und ahnungslos, eingesperrt in einen Käfig. Schmerzen lassen den Abenteurer plötzlich aufschreien, als der Unbekannte gerade ein bisschen mit Feuer und Säure experimentiert. Angeblich soll das helfen, eine in euch schlummernde Macht zu finden und euch schwant nichts Gutes: Immerhin hattet ihr ja im ersten Teil erfahren, ein Abkömmling des dunklen Gottes der Mörder, genannt "Bhaal", zu sein. Will dieser Wahnsinnige euch benutzen? Oder gar helfen?

Wenig später stellt sich heraus, dass es sich bei dem Mann wahrscheinlich um einen mächtiger Magier namens Jon Irenicus handelt. Neben Imoen hält er noch andere Wesen gefangen, um auch an ihnen seltsame Experimente durchzuführen: Die dunklen Katakomben wirken daher eher wie ein alptraumhaftes Gen-Labor. Also nichts wie raus aus dem Horror-Haus! Dank der Hilfe der leicht verstörten Imoen gelingt das auch recht schnell.

Kurz nach der Flucht aus den Kerkern des Jon Irenicus wird man plötzlich mit den stadtinternen Machtkämpfen konfrontiert: Die so genannten "Kuttenmagier" sorgen im Auftrag des Rates dafür, dass sich niemand unbefugt der Magie bedient. Und als sich euer Peiniger Irenicus und Imoen ein kleines Zaubergefecht liefern, werden beide kurzerhand von einer Schar grauer Kuttenmagier gestellt; Dimensionstore öffnen sich und alle verschwinden. Aber wohin?

Kuttenmagier & Dimensionstore

Der Ratlosigkeit wird glücklicherweise von einer weiteren einflussreichen Gilde ein Ende gesetzt: Die "Schattendiebe" bieten ihre Hilfe für läppische 20.000 Goldstücke an. Ein schlechter Scherz! Die Gruppe kommt vielleicht gerade mal auf 1000. Aber warum dieses Angebot? Und soll man es überhaupt annehmen?

Tja, hier beginnt einer der großen Erzählstränge, die den Spieler oft vor die Qual der Wahl stellen, wem man denn sein Vertrauen schenken sollte. Der Grat zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht ist dabei oftmals sehr schmal, so dass die Entscheidung dem Spieler nicht leicht gemacht wird. Und noch eines ist für Baldur's Gate 2 charakteristisch: Es gibt fast keinen Leerlauf. Die Ereignisse überschlagen sich und man wird unweigerlich immer tiefer in die dramatische Geschichte hineingezogen. Aber keine Panik: Das überarbeitete Tagebuch zeichnet sorgsam alle Aufträge und wichtige Ereignisse auf. Hinzu kommen die übersichtlichen Karten, die diesmal alle wichtigen Örtlichkeiten - von den Ein- und Ausgängen bis zu den Händlern - markieren. Man kann auch selbst Hand anlegen und sich Notizen auf den Karten machen.

Zwischen Gut und Böse

Gute Ausrüstung ist lebenswichtig.
Für zusätzliche Spannung sorgen die immer wiederkehrenden Albträume, die in Form von düsteren Kurzfilmen die Story voranbringen. Immer wieder ist es Irenicus, der dem Spieler hier seine verlockenden Angebote macht und ihn beschwört, sich endlich der verborgenen Macht zu bedienen.

Die ersten Spieltage wird man jedenfalls damit beschäftigt sein, die 20.000 Goldstücke zu besorgen - es sei denn, man versucht Imoen auf eigene Faust zu finden. In vielen Tavernen bieten skurrile Charaktere zum Teil viel Geld für scheinbar einfache Aufgaben: Man soll eine kleine Burg befreien, oder z.B. einen Landsitz vor marodierenden Orks schützen. Trotz der Tatsache, dass die Charaktere in der siebten Stufe beginnen, ist dies meist leichter gesagt als getan. Aber auch in den Straßen der Stadt finden sich zahlreiche NPCs, die den Abenteurer mit teilweise lukrativen Miniquests versorgen.

Eine riesige Welt wartet auf neugierige Abenteurer und wird dem Spieler bei Lösung aller Rätsel und Aufträge wohl 200-250 Stunden Spielspaß bescheren. Amn, auch das "Königreich der Kaufleute" genannt, ist ein südländisch-orientalisches Reich voller Exotik und Geheimnisse. Gelten im hohen Norden noch Ehre und Tapferkeit als höchste Tugenden, so regiert in Amn der schnöde Mammon: Geld ist alles und die High Society des Südens kann nur verächtlich die Nase rümpfen, wenn sie stinkenden Abenteurern aus dem barbarischen Norden begegnet - da bringen selbst der gute Ruf, die zahlreichen Heldentaten und eine Million Erfahrungspunkte nichts.

Umfangreiches Epos

Wo führt der Weg hin?
Bis zu sechs Helden finden in der Gruppe Platz. Im weiteren Spielverlauf erweist sich die Wahl der richtigen Gruppenmitglieder oftmals als schwieriges Unterfangen: Der Berserker-Zwerg ist zwar eine Kampfmaschine, aber leider chaotisch böse. Bei jeder guten Tat kommt ihm die Galle hoch. Außerdem hasst er Elfen. Die Elfe erwies sich aber mit ihren Zaubern bisher als äußerst hilfreich. Oder soll man doch lieber den Möchtegern-Paladin aufnehmen, und sich den ganzen Tag seine dummen Sprüche anhören? Nein, dann schon eher den asiatischen Kopfgeldjäger: er ist ziemlich effektiv, hat Kontakte zur Unterwelt und ist dabei relativ schweigsam. Aber was, wenn er mich letztlich an gedungene Meuchler verkauft?

Wie man schon erkennen kann, verdienen die NPCs wirklich die Bezeichnung "Charakter". Alle zeichnen sich durch ihre persönliche Vorgeschichte, ihre Vorlieben und Ängste aus. So ergeben sich innerhalb der Gruppe Rivalitäten, Freundschaften und sogar Romanzen. Je nachdem, wen man schließlich in die Party aufnimmt, verändert sich auch das Storyboard ein wenig. So kann es passieren, dass der ein oder andere NPC die Kampfkraft der Gruppe immens verstärkt, aber leider auch von unliebsamen Freunden gejagt wird. Oder dass z.B. ein relativ schwacher NPC plötzlich einen lukrativen Auftrag ermöglicht. Auch Verrat ist möglich und daher sollte man die Äußerungen und Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder genau verfolgen.

Es gehört natürlich zu den Pflichten eines Nachfolgers, die Schwächen des Vorgängers zu beseitigen, um den Spielspaß zu vergrößern. Bioware hat das allerdings vorbildlich in die Tat umgesetzt und zahlreiche Hinweise und Anregungen von Fans und Spiele-Magazinen berücksichtigt.

Frische Impulse

Das alte aber bewährte Echtzeit-Kampfsystem mit Pause-Funktion sorgt für übersichtliche, und vor allem taktische Kämpfe. Besonders lobenswert ist, dass jetzt eine automatische Pause-Funktion dafür sorgt, dass man auch während des Kampfes unbesorgt im Inventar stöbern kann. Anders als bei Diablo, kommt man mit den wilden Klick-Hau-Stech-Orgien an der Schwertküste nicht sehr weit. Die Gegner sind teilweise äußerst raffiniert und wenn Magie im Spiel ist, wird die Sache ohnehin zum Nervenkrieg: Soll man die Sprüche des Gegners neutralisieren, oder lieber sofort aggressiv kontern? Aber selbst Einsteiger sollten jetzt nicht zurückschrecken: Jederzeit, auch direkt vor Kämpfen(!), kann man eine von fünf Schwierigkeitsstufen wählen - braucht ja keiner zu wissen.

Sechs Gefährten passen in die Gruppe.
Die Figuren bewegen sich übrigens 1,5 mal so schnell wie im Vorgänger. Zusammen mit der optimierten Wegfindung, die man je nach Bedarf noch modifizieren kann, sorgt das für weniger Frust bei der Erkundung fremder Gebiete. Die Regeln entsprechen der zweiten AD&D-Edition, haben aber schon einige Ergänzungen aus der dritten Edition aufgenommen.

Endlich ist es auch möglich, zwei Waffen gleichzeitig zu benutzen und Fertigkeitspunkte auf verschiedene Kampfstile zu verteilen: Zur Auswahl stehen u.a. Schwert- und Schildkampf, der Kampf mit zwei Waffen und der Kampf mit einer zweihändigen Waffe. Hinzu kommt eine neue Unterteilung der Waffengattungen: So gibt es nicht nur die Kategorie "Klingen", sondern auch Einhänder, Zweihänder, Krummsäbel, Katanas und Bastardschwerter, auf welche Fertigkeitspunkte verteilt werden können.

Waffen für jeden Geschmack

Außerdem finden sich - à la Diablo - im Spiel verstreute Einzelteile mächtiger Waffen, die erst ein bestimmter Zwergen Schmied wieder zusammenfügen kann. Insgesamt gibt es 130 neue Zaubersprüche, was zu einem arkanen Kompendium von etwa 300 Zaubersprüchen führt. Über 130 Monster warten auf ihren Meister und es findet sich einfach alles darunter, was jemals in Fantasy-Büchern und Rollenspielen für Unruhe sorgte: Goblins, Orks, Trolle, Golems, Riesen, Dunkelelfen und einige Überraschungen aus der AD&D-Unterwelt. Doch vor allem die bildschirmfüllenden Drachen dürften für harte Kämpfe und optischen Hochgenuss sorgen.

Auch wenn sich die Performance-Schraube im Zeitalter von Gigabytes und GeForce2-Karten weiter in schwindelerregende Höhen dreht, beweisen die Entwickler von Bioware, dass Spielspaß nicht allein von rauschenden Geschwindigkeiten und 3D-Grafikpower abhängig ist. Zwar sorgt auch die verbesserte Infinity-Engine für schönere Effekte durch optionale 3D-Unterstützung, die zahlreiche Zauber in neuem Glanz erstrahlen lässt. Man kann aber insbesondere vor den verantwortlichen Zeichnern nur den Hut ziehen. Wann hat es jemals eine so liebevoll gemalte und faszinierende Bilderlandschaft zu bestaunen gegeben?

Zeitgemäße Kulisse

Das sieht gefährlich aus...
Man lehne sich zurück, wähle mindestens eine Auflösung von 800x600 Bildpunkten (inoffiziell geht es je nach Rechenpower auch bis 1024x768), schalte den Interface-Rahmen aus und genieße den Ausblick: Pixelpracht pur!

Die Hintergrundlandschaften, Städte und Gebäude sind einfach wunderschön gezeichnet und verschaffen jeder Umgebung ihr charakteristisches Flair. Da gibt es z.B. die dreckigen Slums mit ihren Hinterhöfen und schummrigen Tavernen. Andere Stadtviertel verwöhnen den Wanderer mit ausgefeilter Architektur, großen Denkmälern oder Gartenanlagen.

Die vielen Kleinigkeiten, vom detaillierten Mobiliar der Räume bis hin zur Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt, zeugen von der Liebe zum Detail. Diese kennzeichnet ohnehin das ganze Spiel: Programmierer und Grafiker haben eine sehr authentisch und lebendig wirkende Umwelt erschaffen: Katzen pirschen anmutig über Dächer, Ratten jagen durch die Slums und auf dem Friedhof plätschert es friedlich aus einem Springbrunnen - tagsüber jedenfalls.

Hinzu kommt eine Soundpalette, die es in sich hat und zusammen mit der prächtigen Optik für die richtige Atmosphäre sorgt: Die epische Hintergrundmusik fesselt von Beginn an und braucht den Vergleich mit den Stücken aus Conan oder Braveheart nicht zu scheuen. Auch die stimmungsvollen Geräuschkulissen, die je nach Örtlichkeit wechseln, tragen zum authentischen Sounderlebnis bei: In den Slums geht es derbe zu, Kinder schreien und Väter motzen.

Stimmungsvolle Musik

Es gibt so einige Überraschungen.
Auf der Promenade kämpfen die Händler lautstark um ihre Kundschaft und feine Damen reagieren recht angewidert auf schwitzende Abenteurer. Insbesondere in den Dungeons inszenieren die Soundeffekte je nach Verhalten des Spielers tolle Spannungsmomente. Ein nettes Feature ist auch das integrierte Bildschirm-Wackeln, wenn es zu Kämpfen kommt: Da scheppert es wie in der Rappelkiste und man möchte fast seinen Monitor festhalten. Allerdings sollten die Wände nur bei wirklich heftigen Kämpfen wackeln, und nicht beim alltäglichen Goblin-Gemetzel.

Auch hier haben sich die Entwickler die Kritik zu Herzen genommen. Jetzt unterbrechen nur noch wichtige Gespräche den Spielfluss einer Multiplayer-Partie. Zu Beginn wird ein Spielleiter bestimmt, der die Führung des Haupthelden übernimmt und auch sonst das Sagen hat, mit wem gekämpft oder gesprochen wird. Dieser Modus bleibt wohl Geschmackssache, weil sich vielleicht nicht jeder dieser Gruppendynamik beugen möchte. Ein kleines Schmankerl hat Bioware für all jene eingebaut, die sich ihre Gruppe lieber komplett selbst zusammenstellen wollen: Man starte ein Multiplayer-Game, erstelle sich nach Herzenslust alle sechs Charaktere selbst und spiele die Schatten von Amn alleine - offline natürlich.

Multiplayer

Fazit

Baldur's Gate 2 ist einfach eine kleine Kostbarkeit und ein absoluter Pflichtkauf für alle AD&D- und sonstige Rollenspieler. Mit diesem grandiosen Epos hat Bioware endgültig Fantasy-Geschichte geschrieben und dürfte - trotz wenig spieltechnischer Innovation - zum zweiten Mal die Auszeichnung für das "Rollenspiel des Jahres" einheimsen. Die Story ist einfach so packend, die Charaktere so lebendig, dass man ernsthaft an eine Verfilmung denken sollte.

Wertung

PC

Baldur's Gate 2 ist einfach eine kleine Kostbarkeit und ein absoluter Pflichtkauf für alle AD&D- und sonstige Rollenpieler.