Gothic 2 - Test, Rollenspiel, PC

Gothic 2
29.11.2002, Jörg Luibl

Test: Gothic 2

Wetzt die Klingen, ölt das Leder: In Kürze kommt mit Gothic 2 (ab 29,96€ bei kaufen) ein Rollenspiel-Schwergewicht in den Handel, auf das sich Genre-Fans ganz besonders freuen. Denn die Lokalmatadoren von Piranha Bytes zauberten bereits mit dem Vorgänger ein innovatives Fantasy-Erlebnis, das die Herzen der Fans im Sturm eroberte. Kann der Nachfolger an die alten Stärken anknüpfen? Was hat sich optisch getan? Und ist Gothic 2 besser als Morrowind? Die Antworten, Abenteurer, gibt`s im Test!

"Da ist wieder eins von diesen Drecksviechern!" Wütend stürmt ein bärtiger Hüne mit Mistgabel im Anschlag auf mich zu. Erschrocken zücke ich meinen mickrigen Dolch, doch der grimmige Bauer ignoriert mich und hetzt an mir vorbei. Ich drehe mich verdutzt um. Ein junger Wolf jault verzweifelt, bevor er blutend zusammenbricht. "Was willst Du hier?", fragt mich der Bauer grob.

Derb und offen

Dort lassen Euch die Wachen aber nicht rein. Bestecht Ihr sie? Oder lasst Ihr Euch einen Passierschein von einem obskuren Händler geben? Schon zu Beginn lässt Euch Gothic 2 die Qual der Wahl zwischen verschiedenen Wegen und präsentiert eine erfrischend offene Spielstruktur. Und im Gegensatz zum Vorgänger sind die Aufträge wesentlich abwechslungsreicher.

Tja, abgebrannt und ohne Heldenbonus könnt Ihr dem Charmeur jetzt bei der Feldarbeit helfen. Oder weist Ihr ihn mutig zurecht und riskiert einen Kampf? Ihr könnt den Griesgram auch ignorieren und zur Stadt weiter ziehen.

Leider kann die Story trotz eines dramatischen Intros zunächst nicht wirklich begeistern: Ihr schlüpft erneut in die Haut des namenlosen Abenteurers, der im großen Finale von Gothic den Schläfer besiegen und die Kuppel zerstören konnte. Fast hättet Ihr dabei Euer Leben verloren, doch der ausgestoßene Magier Xardas rettet Euch und begrüßt Euch recht nüchtern in seinem Turm. Warum? Er braucht einen neuen Helden. Denn der Preis für die Vernichtung des Schläfer-Ungetüms war groß: Sein Todesschrei hat alle bösen Kreaturen des Landes geweckt, darunter Orks und sogar Drachen, die jetzt das Land bedrohen.

Vom Handlanger zum Drachentöter

Ihr sollt die Paladine in der Stadt Khorinis davon überzeugen, Euch ein magisches Artefakt auszuhändigen, mit dem Ihr die Armee des Bösen besiegen könnt. Schon jetzt ist von Dramatik und Geheimnis keine Spur mehr, denn ich weiß, dass ich zum Drachentöter mutieren soll - schade, etwas mehr erzählerische Innovation hätte dem zweiten Teil sicher nicht geschadet. Aber so einfach ist die Helden-Karriere nicht: Ihr seid so schwach und unerfahren wie zu Beginn von Gothic, und die stolzen Ritter wollen einem heruntergekommenen Fremden wie Euch kein Gehör schenken…

Das Team von Piranha Bytes bleibt seinem Stil treu und entführt Euch in eine Welt, die abseits von überlaufener Dungeons&Dragons-Fantasy einen ganz eigenen, derben Charme versprüht. Das Leben im Königreich Myrtana ist rau, es brodelt zwischen Bauern und König und die Bewohner sind knapp bei Kasse.

Pinte, Puff & Penner

Kraftausdrücke gehören ebenso zum Alltag wie Prügeleien oder Schutz- und Schmiergeldzahlungen. Und im Puff warten Nadja und ihre Freundinnen auf zahlungskräftige Freier. Belohnt wird der Besuch übrigens von einer der längsten Sex-Szenen der PC-Geschichte. Zartbesaitete Elfenfreunde werden schnell merken, dass sie hier eher in einem deftigen Mittelalter als in Avalon gelandet sind.

Und Morrowind-Spieler werden sich über die Lebendigkeit und Intelligenz der Figuren in der Stadt Khorinis wundern: Betretet Ihr ein fremdes Haus, werdet Ihr rausgeschmissen. Stört Ihr jemanden beim Schlaf, ist er mürrisch. Außerdem müsst Ihr vorsichtig mit Antworten und Taten sein, denn Gesprächspartner merken sich alles und Bestohlene zücken sofort die Waffe. Den Höhepunkt der KI bildet allerdings das Anschwärzen: Fallt Ihr irgendwie auf, verpetzen Euch eifrige Bewohner beim Chef der Miliz.

Intelligent, lebendig, natürlich

Auch das rege Treiben überzeugt - Händler bieten ihre Waren an, irgendwo hämmert ein Schmied, Wachen patrouillieren, die Miliz übt sich im Schwertkampf und Mägde tratschen. Zwar wiederholen sich die Wortfetzen schnell, aber alles wirkt authentisch. Abends gehen die Bewohner schlafen, am Morgen beginnt jeder wieder mit seiner Arbeit.

Schon nach wenigen Gesprächen könnt Ihr hinter den Kulissen der Stadt ein soziales Milieu mit fester Hierarchie, Fehden und Rivalitäten entdecken - und das alles in Sprachausgabe! Zwar wurden einige Figuren mit dem selben Sprecher besetzt, aber insgesamt sorgen die schauspielerisch überzeugenden Stimmen für virtuelle Emotionen: es gibt Genervte, Besoffene, Neugierige.

Zu Beginn seid Ihr lediglich geduldeter Besucher. Quest für Quest müsst Ihr das Vertrauen einflussreicher Bewohner gewinnen, damit Ihr das Bürgerrecht erlangt und die Paladine Euch endlich anhören. Außerdem könnt Ihr mit dem Lösen kleiner Aufgaben sowie Kämpfen in der Wildnis mehr Erfahrung gewinnen und im Level aufsteigen. Erst dann gibt`s Lernpunkte, mit denen Ihr z.B. Eure Stärke oder die Schwertkampfkünste verbessern könnt.

Kämpfer, Magier oder Dieb?

Wer seine Lernpunkte geschickt verteilt, kann sich trotz fehlender Klassen einen Charakter nach Maß schneidern. Ein Dieb soll es sein? Kein Problem: Einfach Schlösser knacken, Schleichen und jede Menge Geschicklichkeit fördern. Ähnlich wie in Gothic könnt Ihr zudem wieder drei verschiedenen Fraktionen beitreten: der Miliz in der Stadt, den Söldnern des Großbauern oder den Feuermagiern im Kloster.

Die Welt von Gothic ist größer, abwechslungsreicher und gefährlicher geworden. Abseits der markierten Wege gibt es dank Dutzender Höhlen, Lagunen und verschlungener Winkel viel zu entdecken. Und trotz grafischer Schwächen im Detail und teilweise hässlichen Texturen haben die Grafiker eine Meisterleistung vollbracht: Die Stadt ist ja schon ansehnlich und protzt mit altfränkischer Architektur und Fachwerk - auch wenn die Treppenstufen nur aufgemalt sind.

Der Ruf der Wildnis

Aber noch nie hatte ich das Gefühl, durch eine so natürlich und lebendig wirkende Landschaft zu streifen. Die Sichtweite von bis zu 500 Metern ermöglicht Panoramablicke, die direkt vom Harz oder Böhmerwald stammen könnten. Es gibt sanfte Höhenzüge, tiefe Schluchten und vor allem Wälder, die aufgrund der herrlichen Farbgebung und einem exzellenten Zusammenspiel von Farnen, Büschen und Bäumen fast abgefilmt wirken - Kompliment!

Und das Herumstromern wird belohnt: Nicht nur Pilze, Kräuter und Felle locken in die Tiefen der Wälder oder an einsamen Stränden, sondern auch Tränke, Beutel voll Gold oder zurückgelassene Waffen. Aber es gibt auch genug zu fürchten, denn die Wildnis ist deutlich belebter als die Morrowind-Variante: Wenn plötzlich zwei riesige Warane aus dem hüfthohen Gras preschen, zuckt man unwillkürlich zusammen. Wölfe, Feldräuber, Blutfliegen, Snapper und Goblins lauern hinter Busch und Baum; Feuerwarane und Golems sorgen für den nötigen Respekt beim Erkunden.

Schätze, Monster, Abenteuer

Hinter jedem Streifzug in der Wildnis verbirgt sich ein kleines Abenteuer. Aber richtig spannend wird es, wenn Ihr auf heikle Mission ins alte Lager entsandt werdet. Gothic-Kenner dürfen sich auf die gesamte Landschaft des Vorgängers mit all den Minen, Brücken und Türmen freuen. Die Burg ist allerdings von einem gewaltigen Belagerungsring umschlossen. Überall lauert der Tod, denn Orks patrouillieren mit Wargen und planen den Sturm der letzten Bastion.

Die Aufgaben hier sind an Brisanz nicht mehr zu überbieten: Ihr müsst irgendwie in die Burg kommen, versprengte Paladine finden oder verängstigten Männern bei der Flucht helfen. Wenn man sich nachts in Wäldern versteckt, während schwerbewaffnete Grünhäute an einem vorbeiziehen, sind Adrenalin und Gänsehaut garantiert.

Im Gegensatz zu Morrowind bietet Euch Gothic 2 ein dynamisches Kampfsystem: Ihr könnt zunächst drei verschiedene Hiebe ausführen, in Shooter-Manier strafen und Schläge parieren. Ihr könnt aber auch Pfeile, Bolzen und etwa 50 Zauber einsetzen, darunter Eispfeile, Feuerbälle, Beschwörungen von Goblins oder gar Verwandlungen in einen Wolf.

Mitten drin, statt nur dabei

Blindes Draufloshauen trägt selten Früchte, denn die Gegner verhalten sich teilweise sehr geschickt: Während Riesenratten einfach zubeißen, attackieren Euch Blutfliegen schon ausgefeilter, Wölfe greifen im Rudel an und die wendigen Goblins halten Euch mit Angriffen im Kreis auf Trab. Wenn Ihr hier auf behäbige Überkopfschläge setzt, landet Ihr schnell auf dem Grill. Erst die richtige Mischung aus Ausweichen, Parieren und schnellen Hieben hilft weiter.

Bei einem Ork in Kettenpanzer sind zunächst Sprinter-Qualitäten gefragt. Hier zeigt sich dann, dass sich so manches Monster besser bewegt als unser Held, der scheinbar Rückenprobleme hat: Wie ein Segelschiff dreht er mit steifem Rücken seine Runden. Das Kreaturen-Design ist jedoch ein Highlight, denn dank vieler Eigenheiten und Texturdetails wirkt alles sehr natürlich. Erst an Ecken festhängende oder einen Meter über dem Boden schwebende Ratten zerstören die Illusion.

Die Kampf-Steuerung ist immer noch gewöhnungsbedürftig und wird vor allem Einsteiger zur Verzweiflung bringen, da es kein Tutorial gibt. Erstens können die Kämpfe ohne Übung schnell in hektisches Geklicke ausarten. Zweitens ist schon der Weg zur Stadt gespickt mit unangenehmen Gegnern, denen man nur mit Dolch oder Knüppel begegnen muss. Und drittens ist man im Dickicht der Wälder fast blind, weil mannshohe Büsche und Bäume nicht transparent werden. Das ist zwar realistisch, aber spielerisch ab und an frustrierend. In der Ego-Perspektive hat man zwar etwas mehr Durchblick, kann jedoch nicht kämpfen. Schade, denn diese Darstellung hätte für mehr Übersicht und Mittendrin-Gefühl gesorgt.

Kampf will gelernt sein

Aber dafür kann man Monstern auch geschickt ausweichen, oder sie in Kämpfe verwickeln: Einfach mit den Riesenratten im Nacken in ein Wolfsrudel laufen, und schon ist die Flucht oder Resteverarbeitung möglich. Versöhnlich stimmt auch die Möglichkeit, die alte Gothic-Steuerung über Bord zu werfen und alles frei zu konfigurieren.

Ist Gothic 2 besser als Morrowind? In vielen wesentlichen Bereichen ja, weshalb wir einen Prozentpunkt mehr geben: Die NPCs sind natürlicher, die Wildnis ist lebendiger, das Kampfsystem packender und die KI überzeugt mit Gedächtnis und empörten Reaktionen. Wären die technischen Mängel nicht, hätten wir ohne Bedenken den Award gezückt.

Der Morrowind-Vergleich

In anderen Bereichen ist das Team von Piranha Bytes den Kollegen von Bethesda allerdings unterlegen, weshalb beide Rollenspiele ihre Berechtigung haben: Morrowind bietet wesentlich mehr episches Fantasy-Flair mit klassischer Charaktererschaffung, einem mysteriösen Einstieg, Intrigen und besserer Story. Auch grafisch ist man Gothic überlegen, außerdem gibt es mehr Rassen und imposante Städte. Doch der Größe und Pracht Morrowinds fiel die Lebendigkeit zum Opfer - vieles wirkt zu steril in der Dunkelelfen-Welt.

Fazit


Gothic 2 entführt Euch in eine lebendige Fantasy-Welt, die mit glaubwürdigen Charakteren und herrlichen Landschaften überzeugt. Noch nie hat ein Spiel das Gefühl von Wildnis so gut vermittelt - tiefe Schluchten, dunkle Wälder und malerische Flussauen sorgen für Entdecker-Stimmung. Und in den Städten lockt das Abenteuer dank zahlreicher Quests und einer meisterhaften KI, die die Bewohner im Gegensatz zu Morrowind erschreckend lebendig macht: Ihr werdet rausgeschmissen, verpfiffen und bei Diebstahl angegriffen. Die exzellenten Sprecher sorgen dabei für derbe Atmosphäre. Über das dynamische Kampfsystem kann man sich als Gothic-Veteran zwar freuen, weil es ein authentisches Mittendrin-Gefühl vermittelt. Andererseits wird Einsteigern die Hektik und Unübersichtlichkeit in bewaldetem Gelände auf den Keks gehen. Das wäre noch zu verschmerzen, aber in Verbindung mit anderen Mängeln wird der Award verspielt: Zum einen kann Gothic 2 trotz eines homogenen Gesamteindrucks in Sachen Optik nicht vollauf überzeugen. Hinzu kommen Clipping-Fehler, Abstürze und nervige Neustarts, wenn die Figur irgendwo hängen bleibt. Zum anderen ist der Story-Einstieg mit dem Nobody-zum-Helden-Trott recht schwach. Doch trotz aller Kritik ist das Abenteuer-Erlebnis so gewaltig, sind die heiklen Missionen so spannend, dass die kleinen Fehler im Strudel der Begeisterung untergehen!

Pro

  • <li>sehr gute KI</li><li>zahllose Objekte</li><li>Hunderte Waffen</li><li>packende Aufträge</li><li>exzellente Sprecher</li><li>lebendige Spielwelt</li><li>offene Spielstruktur</li><li>etwa 50 Zaubersprüche</li><li>hoher Wiederspielwert</li><li>tolles Kreaturen-Design</li><li>glaubwürdige Charaktere</li><li>abwechslungsreiche Quests</li><li>delikate Zwischensequenzen</li><li>herrlich natürliche Landschaften</li><li>stimmungsvolle Musikuntermalung</li><li>ansehnlicher Tag- und Nachtwechsel</li>

Kontra

  • <li>steife Animationen</li><li>gelegentlich Abstürze</li><li>Spielfigur bleibt hängen</li><li>schwacher Spieleinstieg</li><li>sehr Hardware-hungrig</li><li>Stimmen wiederholen sich</li><li>teils hässliche Texturtapeten</li><li>teils unübersichtliche Kämpfe</li>

Wertung

PC

In Gothic II geht es bissig, derb und kantig zu - erwachsene Fantasy für Feinschmecker!