The Getaway - Test, Action-Adventure, PlayStation2

The Getaway
17.12.2002, Mathias Oertel

Test: The Getaway

Mit über sieben Millionen Euro Produktionskosten ist The Getaway (ab 21,00€ bei kaufen) der bislang teuerste europäische Software-Titel aller Zeiten. Doch haben sich die Investition und die jahrelange Entwicklungszeit rentiert? Kann das Spiel mehr bieten außer annähernd fotorealistischer Grafik? Um Antworten zu finden, haben wir uns knietief in den Morast des Londoner Untergrunds begeben. In unserem Mega-Test erfahrt Ihr, mit welchen Mitteln The Getaway versucht, neue Standards im Action-Genre zu setzen.

Mark Hammond hat sein Verbrecher-Leben hinter sich gelassen. Doch als seine Frau getötet und sein Sohn von dem East End-Boss Charlie Jolson entführt wird, hat er keine Wahl: Um den kleinen Sohn zu retten, muss Hammond selbstmörderische Aufträge für Jolson erledigen. Doch er weiß nicht, dass er nur ein Bauer in dem gigantischen Schachspiel des Gangster-Bosses ist. Und welche Rolle spielt der Polizist Frank Carter? Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt, in dem Hammond eine Spur der Zerstörung durch London zieht.

Ab in den Untergrund

Und nachdem man den ersten Schock über die getötete Frau verdaut hat, ist man mittendrin und wird mit dem ersten Spielelement vertraut gemacht, das sich durch die insgesamt 24 Missionen zieht: Autofahren. In einer waghalsigen Verfolgungsjagd quer durch London hetzt Ihr dem Wagen nach, in dem Euer Sohn entführt wurde.

Allein gegen alle

Von der ersten Sequenz an wird man von der in Spielgrafik erzählten Story gefangen genommen, hat sofort Ansatzpunkte zur Identifikation und möchte dem geläuterten Ex-Gangster Mark Hammond liebend gern unter die Arme greifen.

Obwohl es hilfreich ist, wenn man schon mal als Tourist in London war, wird man in den fast vierzig Quadratkilometern London (vom Hyde Park bis Tower Bridge und von Westminster Abbey bis King´s Cross), die akkurat nachgebildet wurden, immer mal wieder in einer Sackgasse landen. Doch obwohl die beigefügte Karte total nutzlos ist, da sie nur das Stadtgebiet und typische Touri-Attraktionen zeigt, braucht Ihr die Flinte nicht ins Korn werfen: Denn die Blinker des Fahrzeugs zeigen Euch an, wenn Ihr irgendwo abbiegen müsst. Und nach ein paar Missionen habt Ihr auch ein Gefühl für das Stadtgebiet und fahrt auch nicht mehr auf der rechten Seite.

Trotzdem wäre es sinnvoll gewesen, einen Mini-Radar oder eine Entfernungsanzeige zum Ziel einzubauen. Denn vor allem in späteren Missionen seid Ihr gut und gerne zehn bis 20 Minuten unterwegs.

Doch Ihr seid nicht allein: Neben den "normalen" Fahrern, die sich auf den Straßen tummeln, warten auch immer wieder Polizei oder rivalisierenden Gangs auf Euch, die vor nichts zurückschrecken, um Euch aus dem Verkehr zu ziehen.

Straßensperren, wahnwitzige Verfolgungsjagden und Kugeln, die mit Vorliebe Euren Motor oder Eure Reifen treffen, machen ein häufiges Umsteigen notwendig. Was an sich ja nicht schlimm wäre. Doch der Schwierigkeitsgrad ist genau so hoch wie der Realismus-Faktor des Fahrverhaltens und sorgt immer wieder für Sorgenfalten.

Gut gelungen ist jedoch das Fahrverhalten der NPCs: Unbeteiligte Fahrer verhalten sich mit wenigen Ausnahmefällen genau so wie man es erwarten würde und weichen Euch auch schon mal aus, wenn Ihr ihnen in einer Einbahnstraße oder als Polizist mit vollem Blaulicht entgegenkommt. Auch die Polizei bemüht sich nach Leibeskräften, Euch zum Anhalten zu bewegen und rammt Euch, dass es eine wahre Freude ist. Allerdings sind die Aktionen der Polizeikräfte nach einigen Missionen vorhersehbar und meist mit einem leichten Bremsmanöver zu kontern.

Denn solltet Ihr scheitern, müsst Ihr die Mission wieder von ganz vorne beginnen. Was bei der bereits angesprochenen Länge der Fahrereien sehr strapaziös für die Nerven sein kann.

Aber man wird es immer wieder gerne aufnehmen. Und sei es auch nur, um sich an der Umgebung zu erfreuen: Denn sowohl die zahlreichen lizenzierten Fahrzeuge inklusive umfangreichem Schadensmodell als auch das Stadtgebiet sind mit sehr viel Liebe zum Detail gestaltet. Jeder der schon einmal in London war, wird sowohl Wahrzeichen als auch ganze Straßenzüge zweifelsfrei erkennen. Bei den abwechslungsreichen Häuserfassaden wird zwar unmissverständlich klar, dass sich die Entwickler mit Kameras bewaffnet die Straßen eindringlich angeschaut haben, doch die Texturen wirken im Endeffekt etwas verwaschen.Trotzdem bleibt der Eindruck einer lebendigen Metropole, in denen die Bewohner ihrem Tagwerk nachgehen. Und auch das Ruckeln, das sich hin und wieder zeigt und die Engine fast in die Knie zwingt, kann den guten Gesamteindruck nicht weiter stören. Und was viel wichtiger ist: trotz Einbruch der Bildrate bleibt das Spielgefühl unbeeinträchtigt.

Trotzdem werden sich viele auf Grund des unausgegorenen Schwierigkeitsgrades der Fahr-Sequenzen ein ums andere mal ärgern und frustriert das Pad zu Boden werfen.

Denn um ihn zu finden, müsst Ihr Euch durch ein Lagerhaus voller Gangster kämpfen. Spätestens jetzt wird es Zeit für einen Blick ins Handbuch, denn Hammond verfügt über ein breit gefächertes Repertoire an Bewegungsmöglichkeiten. So kann er sich zum Beispiel an Wänden entlang schleichen oder hinter Kisten in Deckung gehen.

Mach sie nieder

Doch The Getaway hat ja noch ein anderes Spiel-Element zu bieten: Gnadenlose Gunfights, mit denen Ihr auch sofort konfrontiert werdet, nachdem Ihr den Wagen gestellt habt, in dem Euer Sohn saß.

Per Knopfdruck kann er nun wahlweise kurz aus dem Schutz der Wand oder der Kiste hervorlugen, um seine Gegner unter Feuer zu nehmen und dann wieder hinter der Deckung zu verschwinden. Oder er kann auch einfach nur seine Waffe nehmen und blind aus der Deckung schießen und auf ein paar Glückstreffer hoffen - eigentlich eine coole Idee. Allerdings im Spiel nur in Ausnahmesituationen sinnvoll oder wenn Ihr Gegner anlocken wollt.

Das "Deckung-Schießen-Deckung"-Spielchen ist da weitaus sinnvoller. Doch obwohl Ihr sowohl mit Zielhilfe als auch manuell Eure Gegner ins Visier nehmen könnt, bleibt auch hier ein schaler Nachgeschmack: Denn habt Ihr einen Feind ausgeschaltet, müsst Ihr die Zielhilfe erneut aktivieren, um den nächsten Gegner anzuvisieren. Falls sich mehrere Gegner um Euch herum befinden, schaltet die Hilfe immer auf den Nächststehenden - an sich kein Problem.

Werdet Ihr allerdings getroffen, geht die Zielhilfe kurzzeitig verloren. Aktiviert Ihr sie wieder und ist ein weiterer Gegner mittlerweile näher herangerückt, wird er ins Visier genommen. Was wiederum mit einem unglaublich lästigen und unübersichtlichen Kameraschwenk quittiert wird.

Das manuelle Zielen ist sehr schwerfällig, aber hervorragend dazu geeignet, um z.B. Fässer in die Luft zu jagen. Das kommt sehr gelegen, wenn sich in deren Umkreis gerade ein paar Gangster herumtreiben, die daraufhin meterweit durch die Luft geschleudert werden und in Flammen aufgehen.

Die bereits angesprochene Kamera wartet jedoch im Zusammenspiel mit der bei Drehungen sehr empfindlichen Steuerung mit weiteren Überraschungen auf Euch: Vor allem nach schnellen Bewegungen in kleinen Räumen hat man überhaupt keinen Plan mehr, wo man ist.

Verletzungsgefahr

Es ist natürlich klar, dass Ihr während der heißen -und im Gegensatz zu den Fahrsequenzen gut ausbalancierten- Schusswechsel auch selber Kugeln einfangt. Die Verletzungen werden nicht nur optisch gut dargestellt, sondern wirken sich auch auf das Spiel aus. So läuft Hammond z.B. langsamer und kann auch manuell nicht mehr so sicher zielen.

Und wo wir gerade bei Problemen sind: Wieso kann ich nicht mehr automatisch zielen oder schießen, wenn ich mich auf einer Treppe befinde?

Doch wenn Ihr Euch an eine Wand anlehnt und Eurem Helden ein wenig Zeit gebt, regeneriert er sich wieder und kann mit frischer Kraft weiter machen. Das wirkt zwar im Vergleich zum Rest des Spieles unrealistisch, erfüllt aber seinen Zweck. Denn Medi-Kits sucht man hier vergebens.

Im Gegensatz zum Fahrspaß bleiben die Schuss-Sequenzen grafisch weitestgehend ohne Fehl und Tadel. Die Abschnitte sind clever designt und mit absolut passenden Texturen versehen, die für viel Stimmung sorgen. Zwar gibt es keine Möglichkeit mit der Umgebung in irgendeiner Form außerhalb von Blutspritzern oder Einschusslöchern zu interagieren, doch angesichts der Action, die auf einen einstürzt, nimmt man dies gern in Kauf.

Nur wieso wurde diese kleine, aber durchaus lebensrettende Kleinigkeit nicht in der Anleitung erwähnt? So kommt man meistens erst nach einigen frustrierenden Todessequenzen und per Zufall darauf, dass sich die Gesundheit wieder herstellen lässt.

Doch mit diesem Wissen im Hinterkopf beginnt man, die gnadenlose Ballereien zu genießen und kann sich an strategisch günstigen Punkten auf die kommenden Gefechte vorbereiten.

Dafür kann man sich an den annähernd fotorealistisch aussehenden Figuren laben, die geschmeidig animiert über den Bildschirm huschen, einen feinen Echtzeitschatten hinter sich herziehen und in spektakulären Sequenzen ihr Leben aushauchen.

Allerdings wird der gute und realistische Eindruck wieder etwas relativiert, wenn man eine Treppe hoch oder runter geht. Dann nämlich verfällt der Held in einen unfreiwillig komisch aussehenden "Tippelschritt", der einfach nur nervt.

Trotz der angesprochenen Probleme mit dem Schwierigkeitsgrad und der Steuerung/Kamera ist es unheimlich schwer, sich von The Getaway loszureißen. Denn zum einen ist die Story, die in Spielgrafik erzählt wird, absolut düster, packend, überraschend und kann sich nahtlos neben Filmen wie The Long Good Friday, The Krays oder Two Smoking Barrels sehen lassen. Zum anderen ist das Spiel nach der Rettung von Mark Hammonds Sohn noch lange nicht vorbei.

Weitermachen ist Pflicht

Dass sich The Getaway an einschlägigen Filmen orientiert, wird nicht nur anhand der Story deutlich. Den Entwicklern ist es gelungen, das schmutzige Bild des Londoner Untergrunds grandios nachzuzeichen: Überall wird geflucht, was das Zeug hält, Rassenhass kommt unverblümt zum Ausdruck und die Gewaltspirale dreht sich immer weiter.

Denn nachdem Ihr über zwölf Missionen lang Charlie Jolson gejagt habt, übernehmt Ihr die Kontrolle über den Polizisten Frank Carter, der ebenfalls hinter dem Boss aus Soho hinterher ist.

Dabei verfolgt Ihr einen komplett neuen Handlungsstrang, der sich gelegentlich zwar mit dem von Hammond überschneidet, aber trotzdem immer wieder für Überraschungen gut ist und so ganz nebenbei Pulp Fiction-Feeling entfacht.

Düstere Gewalt-Explosion

Und ehe man sich versieht, wird man als Spieler selber immer weiter in diesen düsteren Abgrund gerissen und kann so noch stärker mit den Charakteren mitfühlen, die diesem Treiben ein Ende setzen wollen. Ein derartiges Mittendrin-Gefühl habe ich selten in einem Spiel gehabt.

Die Schusswechsel sind blutig wie in einem frühen John Woo-Film und dürften sicherlich für heiße Diskussionen sorgen.

Ein Großteil der Atmosphäre wird von der rundum gelungenen Sound-Kulisse geschaffen. Die deutsche Sprachausgabe ist hervorragend und bringt die Story wunderbar auf den Punkt. Der düsteren Stimmung angepasst wird zwar verdammt viel geflucht, doch dürften sich daran nur die wenigsten stören, zumal man sich im Lauf der Zeit daran gewöhnt und es wunderbar zum gewählten Ambiente passt.

Sauber, brachial und gewaltig

Schön ist auch, dass im Falle von Missions-Wiederholungen nicht immer die gleichen Sprachsamples abgespielt werden, sondern dass man immer wieder neue Erkenntnisse über die Figuren gewinnt.

Der Kommentare der Autofahrer, die man rammt, und die der Polizei wird man aber recht schnell überdrüssig, da hier wesentlich weniger Abwechslung angesagt ist.

Die Musik ist im Stile einschlägiger Filme gehalten und gibt sich weitestgehend minimalistisch, passt aber wunderbar zum Geschehen.

Bei den Soundeffekten hat man sich ebenfalls ins Zeug gelegt: Die verschiedenen Fahrzeugtypen klingen alle anders und die gewaltigen Schusswechsel sind ebenfalls akustisch sehr spektakulär inszeniert und lassen an Intensität kaum Wünsche offen.

Zu schade nur, dass einigen Gameplay-Mechanismen nicht die gleiche Sorgfalt geschenkt wurde wie der Sound-Kulisse in ihrer Gesamtheit, die mit zum Besten gehört, was derzeit auf dem Markt ist.

Fazit

Selten hat mich ein Spiel so in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt wie The Getaway. Auf der einen Seite haben wir eine spannende Story, eine rundum gelungene Atmosphäre, die sich erfolgreich an britischen Gangster-Filmen orientiert, und ein Polygon-London, das trotz kleiner Schwächen ein lebendiges Bild der Metropole zeichnet. Doch die spielerischen Mängel machen es einem schwer, nach einem Fehlversuch abermals zum Pad zu greifen, um einen weiteren Anlauf zu starten. Vor allem die Fahrsequenzen hätten von einem kleinen Checkpoint-System profitieren können. Dass die Kamera in einigen Momenten ein seltsames Eigenleben entwickelt, ist dem Spielspaß auch nicht gerade zuträglich. Und dass man auf Treppen nicht schießen kann, ist schlichtweg eine Frechheit. Trotzdem fasziniert das Gangster-Drama und entwickelt eine Eigendynamik, der man sich nicht entziehen kann. So nimmt man trotz großer Frustmomente immer wieder das zu Boden geschmetterte Pad auf, um einen neuen Versuch zu starten. Spieler, die eine Herausforderung suchen, sind mit The Getaway sehr gut bedient und werden viel Spaß daran haben, in die düstere, gewalttätige und explosive Unterwelt Londons abzutauchen, die mit jeder Mission mehr Spaß macht. Pad-Akrobaten, die einen Einstieg ins Action-Genre suchen, sollten sich jedoch anderweitig umschauen, da sich der hohe Schwierigkeitsgrad als Stolperstein erweisen könnte.

Pro

  • <li>fantastische Filmatmosphäre</li><li>grandiose Umsetzung Londons</li><li>exzellente Lokalisation</li><li>abwechslungsreiche Missionen</li><li>zwei Handlungsstränge</li><li>spannende Story</li><li>sehr gute Fahrzeug-Physik</li><li>ausgereiftes Schadensmodell der Fahrzeuge</li><li>nach Eingewöhnung extrem unterhaltsam</li><li>16:9-Modus</li><li>60Hz-Modus</li>

Kontra

  • <li>Grafik-Engine hin und wieder am Rande des Nervenzusammenbruchs</li><li>schwerer Einstieg</li><li>gewöhnungsbedürftige Steuerung</li><li>Kamera-Probleme</li><li>Fahrsequenzen teilweise extrem schwer</li><li>fade Haustexturen</li><li>Sequenzen können nicht abgebrochen werden</li><li>nur ein Schwierigkeitsgrad</li>

Wertung

PlayStation2