Rise of Nations - Test, Taktik & Strategie, PC

Rise of Nations
20.05.2003, Jörg Luibl

Test: Rise of Nations

Ihr wollt Feldherr, Finanzminister, Spionagechef und Diplomat in einem sein? Kein Problem: Microsoft sucht im Echtzeit-Strategiespiel Rise of Nations (ab 29,48€ bei kaufen) fähige Staatengründer, die sich von der Antike bis zur Moderne wirtschaftlich, militärisch und politisch durchsetzen. Warum das Team von Big Huge Games das überlaufene Genre um einen glänzenden Meilenstein bereichert hat, erfahrt Ihr im Test!

Ganz gegen den Trend verzichtet das Team von Big Huge Games auf eine epische Story, die in anderen Spielen meist mit aufwändigen Zwischensequenzen die Einzelspielerkampagne umrahmt. Lediglich im Tutorial wird ein historisches Szenario aufgebaut. Hier werdet Ihr am Beispiel der englischen Geschichte je nach Spielerfahrung Schritt für Schritt in die Geheimnisse von Rise of Nations eingeweiht; sehr kurzweilig und von überzeugender deutscher Sprachausgabe begleitet.

Strategie pur

Ziel des Spiels ist es, eine von 18 Nationen durch acht Zeitalter von der Frühgeschichte über das Mittelalter bis in die Moderne zu führen. Auf dem Weg dorthin könnt Ihr Euer Volk in den vier Bereichen Militär, Staatswesen, Handel und Wissenschaft fördern. Dazu müsst Ihr sechs Rohstoffe und diverse Luxusgüter abbauen. Etwa 100 militärische Einheiten können Euch dabei unterstützen - je nach Volk vom griechischen Hopliten bis zum deutschen Leopardpanzer. Hört sich alles bekannt an?

Stille Wasser sind tief

Aber auch wenn nach den ersten Spielminuten die Alarmglocken der Abkupferung im Hinterkopf läuten, weil sehr viele optische und spielerische Elemente an die Age of Empires-Reihe oder Empire Earth erinnern, weicht die Skepsis schnell der Faszination. Denn unter der altbekannten Oberfläche aus Rohstoffabbau, Gebäudebau, Forschung und Kampf schlummern dermaßen viele neue und vor allem innovative Details, dass das Strategenherz vor Freude lacht.

Fangen wir bei den Siegbedingungen an: Geht es in den meisten Strategiespielen meist bloß um die totale Vernichtung des Gegners samt seiner Infrastruktur, bietet Rise of Nations ein großes Repertoire an Zielen, die auch defensiven oder wirtschaftsorientierten Spielern Freiraum geben. In "Keine Erstürmung" ist das frühe Überrollen des Gegners z.B. verboten; erst zu Zeiten des Schießpulvers darf attackiert werden. Im kooperativen Modus könnt Ihr sogar zu zweit eine Nation führen.

Sieg & Spiel

In der "Blitzentscheidung" bedeutet der Verlust der ersten Stadt den Untergang, im rein friedlichen Modus gewinnt der erste Spieler, der das Informations-Zeitalter erreicht. Und wenn Ihr "Attentäter" wählt, bekommt jeder Spieler einen Gegner zugewiesen, den er vernichten muss. Greift er einen anderen an, gibt`s empfindliche Nachteile. Nicht zu vergessen die Extrem-Zeitlupe: Ihr könnt vorher festlegen, ob und wie oft man etwa 15 Sekunden stark verlangsamt spielen darf, was natürlich große Vorteile bringt. Gerade im Multiplayer-Bereich sorgt diese Vielfalt für frischen Wind.

Was das Spiel so reizvoll und anders macht als herkömmliche Titel, ist insbesondere der Einfluss der dynamischen Grenzen. Zum einen verlieren feindliche Truppen innerhalb Eures Landes Lebenspunkte und können keine Gebäude bauen. Das ist sehr wichtig, denn so wird der nervigen, aber allgemein üblichen Bau-direkt-am-Feind-Taktik ein Riegel vorgeschoben.

Grenzen für alle!

 

Zum anderen verändert sich die Größe Eures Reiches mit staatlichen Weiterentwicklungen und Bauten. Eine Stadt oder Festung nahe der Grenze verschiebt diese z.B. automatisch weiter Richtung Nachbar. Wer strategisch klug und schnell Städte gründet, kann sich große Vorteile verschaffen; nur Mauerbau ist nicht möglich.

Aber jede Siedlung kann erobert werden. Und ist es sogar die Hauptstadt, die den Katapulten und Soldaten zum Opfer fällt, hat der Angreifer das Spiel gewonnen. Hört sich einfach an, aber auch hier haben die Entwickler gierigen Tank Rush-Spezialisten eine Hürde in den Weg gestellt: Denn die Stadt muss von den Angreifern eine bestimmte Zeit belagert werden, um als endgültig erobert zu gelten. In dieser Zeit muss die militärische Besatzungsmacht im Umfeld der Stadt größer sein, als die der Verteidiger. Wenn von Eurer Angriffsarmee also nur noch zwei Reiter und ein Katapult übrig sind, könnt Ihr die Eroberung vergessen.

Kampf um die Hauptstadt

Die Gefahr bestand, dass all diese Details und Feinheiten bei der rasanten Achterbahnfahrt durch die Geschichte untergehen. Und tatsächlich ist es so, dass man die Vorzüge einer Epoche in einer schnellen Schlacht nicht wirklich ausspielen kann. Denn von der Antike bis zur Moderne, also vom Kurzschwert bis zur Atomwaffe, kann man schon mal in 20 Minuten rasen. Doch Brian Reynolds und sein Team haben einen fantastischen Spielmodus eingebaut, der episch lange Schlachten und weitreichende strategische Planungen ermöglicht: den Welteroberungsmodus - eine herrlich motivierende Mischung aus Runden- und Echtzeitstrategie.

Ihr beginnt ähnlich wie in Medieval: Total War auf einer Risiko-ähnlichen Weltkarte mit einer Nation und einer Armee. In jeder Runde könnt Ihr Eure Armee(n) verschieben, nützliche Karten kaufen, die Infrastruktur von Ländern voranbringen oder diplomatisch aktiv werden. All das kostet Punkte, die in Form von Tribut jede Runde angehäuft werden. Je größer Euer Reich, desto mehr kommt natürlich in die Kasse. Aber nicht nur das: Solltet Ihr Länder mit best. Rohstoffen oder Weltwundern erobern, bekommt Ihr Boni im nächsten Kampf - z.B. mehr Gold, Holz oder gar eine Unterstützungsarmee.

Welteroberungsmodus

Und selbst die geostrategische Lage spielt eine Rolle, denn wenn Ihr ein Land angreift, das in der Nachbarschaft noch einen Verbündeten samt Armee hat, wird diese während der Schlacht eingreifen. Umgekehrt heißt das, dass auch Eure Eroberungen und Truppenstationierungen gut überlegt sein wollen, denn im Optimalfall lässt sich ein Netz aus Unterstützung spinnen. Dieses könnt Ihr nicht nur militärisch, sondern auch politisch aufbauen, indem Ihr Nationen Bündnisse anbietet.

Gerade dieser diplomatische Teil bereichert Rise of Nations ungemein, denn die Allianz auf der 2D-Karte wirkt sich im Kriegsfall auch auf dem 3D-Schlachtfeld aus. Zum einen generiert die Karte eine authentische geographische Situation: Habt Ihr Spanien z.B. von Nordafrika aus den Krieg erklärt, zeigt die 3D-Landschaft die Straße von Gibraltar sowie die beiden Küstengebiete - sehr schön!

Und solltet Ihr Euch dabei die Unterstützung eines Verbündeten gesichert haben, wird dieser samt seiner Hauptstadt auf dem Schlachtfeld platziert. Die KI baut zwar hier relativ klug und selbstständig, aber Ihr könnt gezielt Anweisungen geben: z.B., dass er insbesondere Truppen bauen, den Gegner angreifen oder seine Truppen an einen bestimmten Punkt bringen soll. Manchmal reagiert die KI zwar störrisch, aber insgesamt ist dieser direkte Einfluss auf den Verbündeten sehr hilfreich.

Auf dem Schlachtfeld und in Sachen Einheiten spielt Rise of Nations weitere Stärken aus, die es deutlich von der Konkurrenz abhebt: Denn abgesehen von Hundert typischen Infanterie-, Kavallerie- und Artillerieeinheiten sowie sinnvollen Formationen wie Linie, Keil, Flankenschutz oder Umzingelung, überzeugen die Truppen mit effektiven Spezialeinheiten. Da wären zum einen Spione, die gegnerisches Gebiet auskundschaften, Einheiten bestechen oder gezielt töten können. Im weiteren Spielverlauf können diese Einzelgänger auch Gebäude sabotieren.

Generalissimo

Noch effektiver sind die Generäle, denn unter ihrer Führung lassen sich Gewaltmärsche, getarnte Angriffe und Ablenkungsmanöver starten. Das Highlight ist für mich allerdings der Befehl des Eingrabens: So lange man sich auf heimischem Boden befindet, können sich die eigenen Truppen im Ernstfall verschanzen. Das ist nicht nur spielerisch ausgesprochen effektiv, sondern auch optisch hübsch anzusehen, wenn z.B. Bogenschützen hinter gespitzten Pfählen in Deckung gehen. Endlich hat diese Defensivtaktik mal Einzug in ein Spiel gefunden!

Und fast übersehen könnte man die intelligente Form des Kampfverhaltens: Denn wo andere Titel nur die Optionen "defensiv" oder "aggressiv" bieten, könnt Ihr Eure Truppen hier z.B. anweisen, primär Gebäude oder feindliche Soldaten anzugreifen. So kann man schon mal einen kleinen Trupp Plünderer im Feindesland für Chaos sorgen lassen. Einziger Wermutstropfen: Höhen und Hügel lassen sich nicht besetzen und bleiben strategisch irrelevant - schade.

Die Bedienung von Rise of Nations ist intuitiv umgesetzt und vorbildlich dokumentiert: Denn es gibt nicht nur den üblichen Komfort bestehend aus Gruppenbildung, Lassomethode und Hotkeys, sondern auch hilfreiche Infofenster, die noch mal detailliert auf alle anvisierten Punkte des Interface eingehen: egal ob Forschung, Kampf, Einheiten oder Gebäude - alle Feinheiten, Anwendungsgebiete und Statistiken werden sofort per Rollover-Menü angezeigt; ein Blick ins Handbuch ist nicht nötig.

Herrlich automatisiert

So benutzerfreundlich geht es auch im Mikro-Management weiter: Kundschafter können die Karte automatisch erforschen, Karawanen suchen sich nach wenigen Sekunden Wartezeit selbst eine freie Stadt und Arbeiter können auf einen bestimmten Rohstoff angewiesen werden. Und damit das umständliche Verfrachten von Invasionstruppen in Schiffe entfällt, verwandeln sich Infanteristen automatisch in Amphibienfahrzeuge - klasse!

Aber auch ansonsten ist das Landschafts- und Gebäudebild ausgesprochen stimmungsvoll. Zwar wird man auf Schritt und Tritt an die altehrwürdige Age of Empires-Reihe erinnert, vor allem im Architekturbereich, aber dafür hat Rise of Nations eine ganz eigene Stärke.

Liebe zum Detail

Auch wenn die Szenerie nicht mit bewegten Bäumen oder umherstreifenden Tieren punkten kann, überzeugen z.B. die malerischen Strände mit azurblauem Wasser sowie Fischschwärmen und Walen - hier erreicht man fast Age of Mythology-Niveau.

Denn im Gegensatz zu anderen Spielen offenbart der freie Zoom selbst in der Totalen keinen Pixelbrei à la Empire Earth, sondern detaillierte Figuren und abwechslungsreiche Animationen: da flattern die Umhänge der Spione, wird hektisch nachgeladen oder die Gewehrschulter gelockert. Überhaupt bietet das Spiel eine Fülle an kleinen optischen Delikatessen, die immer wieder zum Hinschauen einladen. Wenn Scharfschützen z.B. katzengleich durchs Unterholz pirschen und in Deckung gehen, kommt Freude auf - die Grafiker haben im Animationsbereich wirklich ganze Arbeit geleistet.

Musikalisch hätte Rise of Nations etwas mehr orchestrale Wucht und Vielfalt vertragen können. Zwar passen die epischen Melodien wunderbar zum historischen Ambiente, aber sie wiederholen sich zu schnell. Die Soundeffekte überzeugen hingegen auf ganzer Linie - egal ob Mündungsfeuer oder Explosionen.

Witzig sind auch die Kommentare der verbündeten KI-Nationen: Werden sie zum Einmarsch aufgefordert, geben sie ihre markige Zustimmung zum Besten. Sehr angenehm ist übrigens auch, dass die Arbeiter bei Anweisungen keine nervige Befehlsbestätigung abliefern.

Fazit

Empire Earth ist vergessen, Civilization III verstaubt, Age of Mythology liegt in der Ecke - es kann momentan nur noch ein Strategiespiel geben: Rise of Nations. Dieses delikate Erstlingswerk aus dem Hause Big Huge Games vereint nicht nur die Prinzipien der Runden- und Echtzeitspiele auf meisterhafte Weise, sondern durchbricht die Lethargie des Genres mit erfrischend nützlichen und innovativen Spielelementen: die Generalsfähigkeiten, die Grenzen, die Spielmodi, die Diplomatie, die Automatismen - die spielerischen und taktischen Möglichkeiten sind enorm. Optisch zieht man zwar nur fast gleich mit Age of Mythology, aber spielerisch bietet Rise of Nations mehr Abwechslung, mehr Komfort und vor allem mehr strategische Tiefe. Und gerade Multiplayer-Generäle werden sich an den interessanten Siegbedingungen und riesigen Karten erfreuen. Brian Reynolds und sein Team haben ihrem Namen alle Ehre gemacht: Rise of Nations ist großartig!

Pro

  • <LI>18 Nationen<LI>sehr gute KI<LI>sehr gutes Tutorial<LI>klasse Grafikdetails<LI>innovative Grenzen<LI>detaillierte Statistiken<LI>nützliche Formationen<LI>viele Siegbedingungen<LI>Runden- und Echtzeitflair<LI>komplexer Wirtschaftsteil<LI>sehr gute Generalsfähigkeiten<LI>spaßiger Herausforderungsmodus<LI>motivierender Welteroberungsmodus<LI>Kampf zu Lande, zu Wasser, in der Luft<LI>rasend schnell oder episch langsam spielbar<LI>hervorragende Management-Automatisierungen</LI>

Kontra

  • <LI>kleine Wegfindungsprobleme<LI>etwas eintönige Musikuntermalung<LI>Höhenunterschiede strategisch irrelevant</LI>

Wertung

PC

Was für ein Erstlingswerk! Rise of Nations bietet mehr Abwechslung, mehr Komfort und mehr strategische Tiefe als jedes andere Spiel.