Black Mirror - Der dunkle Spiegel der Seele - Test, Adventure, PC

Black Mirror - Der dunkle Spiegel der Seele
08.04.2004, Jörg Luibl

Test: Black Mirror - Der dunkle Spiegel der Seele

E.A. Poe als Kritiker

Wer könnte ein düsteres Gruseladventure besser beurteilen als der Altmeister der phantastischen Erzählung höchstpersönlich? Wir haben keine Mühen gescheut und den amerikanischen Kultautor Edgar Allan Poe in einem Akt investigativer Nekromantie wiederbelebt. Warum er Black Mirror fast uneingeschränkt empfehlen kann, verrät das Test-Interview!

E.A. Poe: Selbstverständlich. Mein Name ist Poe, Edgar Allan Poe. 1809 in Boston geboren, in England zur Schule gegangen, in Virginia studiert - leider ohne Abschluss. Danach habe ich einige Jahre in West Point beim Militär gedient und meine ...hüstel... Cousine geheiratet. Der elende Rest ist bekannt: Als Journalist und Erzähler habe ich mir bis 1849 vollkommen verarmt die Seele vom Leib geschrieben.

4P: Herr Poe, in Zeiten von PISA und Küblböck steht die klassische Literatur hierzulande etwas im Abseits. Könnten Sie sich daher kurz vorstellen?

Das Schloss Black Mirror zeigt sich in altenglischer Spukidylle. Die 2D-Statik wird durch bewegte Zweige, Regen und animiertes Wasser aufgelockert.
E.A. Poe: Alles schön und gut, aber ihre Schmeichelei kommt zu spät. Zu Lebzeiten hat mir mein Schrieb keinen Penny eingebracht! Der Tod meiner Frau hat mich in einen Abgrund voller Grüner Feen [Herr Poe sprach dem hochprozentigen Absinth zu, der aufgrund seiner Farbe auch "Grüne Fee" genannt wurde; Anm. d. Red.] und Suizidgedanken gestürzt. Wie ein Bettler bin ich in Baltimore vor die Hunde gegangen…

4P: Aber die Nachwelt haben Sie reich beschenkt: Man denke an Ihr grandioses Gedicht "Der Rabe" oder die Novelle "Der Untergang des Hauses Usher"! Sie gelten als Erfinder der Detektivgeschichte und Meister der Schauerliteratur!

E.A. Poe: Eine dumme Frage. Erstens vegetiere ich seit mehr als 150 Jahren im Reich der Toten und vertreibe mir die Zeit am liebsten mit Adventures und Rätseln. Zweitens hat mich dieses Spiel magisch angezogen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Alleine der Untertitel "Der dunkle Spiegel der Seele" weckt bittersüße Erinnerungen. Meine Neigungen und Triebe, die prima mobilia meiner körperlosen Menschenseele, haben mich an den Zauberschirm gefesselt.  

4P: Wieso haben Sie sich bereiterklärt, für uns ein neumodisches Computerspiel wie Black Mirror zu testen?

E.A. Poe: Unsinn! Es ist nicht so albern wie Tony Tough. Es ist nicht so langweilig und bunt wie The Westerner. Es ist nicht so ekelhaft charmant und neumodisch wie Baphomets Fluch. Nein, dieses Schmuckstück aus Tschechien ist ernst, morbide und humorlos. Es ist voller verräterischer Herzen. Genau das hat meine konservativen Knochen an die Maus gelockt.

4P: Interessant, aber zurück zum Thema: Was unterscheidet Black Mirror denn von anderen Adventures? Es ist doch auf den ersten Blick ein typisches Point&Click alter Schule.

Auch ein kleines Dorf gehört zu den zahlreichen Örtlichkeiten, die im Laufe des Abenteuers zugänglich sind. In der Taverne darf Samuel Gerüchten lauschen.
E.A. Poe: Ja, die Herren bewegen sich lethargisch, fast schon wie die Scheintoten. Aber die Künstler haben liebevolle Zeichen- und Kolorisierungsarbeit geleistet und entführen mich an malerische Schauplätze, die mich an meine Kindheit in Schottland und England erinnern - egal ob kaltes Irrenhaus, überwucherte Friedhöfe, schauriger Druidenhain oder verschlungene Gewölbe. Und dann diese Urgewalten: Blitze zucken, Donner grollt und Regen prasselt – wunderbar!

4P: Sie haben in letzter Zeit fleißig gespielt – Respekt! Aber technisch angestaubt ist es schon, oder? Keine pompöse 3D-Grafik, träge Animationen…

E.A. Poe: Zugegeben, es gibt kleine stilistische Inkonsequenzen wie z.B. das Gemälde von Ludwig II. (was soll ein schwärmerischer Bayer in einem englischen Herrenhaus?) oder das anachronistische Porträt des Ahnherren, das eher an einen Zauberer als an einen mittelalterlichen Lord erinnert. Aber das sind nur kleine Ungereimtheiten, die mit der Zeit im stilvollen Gesamtbild untergehen. Diese Stille, die gedämpfte Atmosphäre, die bedächtigen Dialoge, das Ticken der Uhr…als wäre die Zeit stehen geblieben. Und man darf nicht vergessen: Die Schauplätze verändern sich mit der Zeit, alles wird beklemmender, Figuren verschwinden im Strudel…

4P: Gut, die Kulisse ist tatsächlich edel und stimmungsvoll. Und ab und zu sorgen Wettereffekte für Abwechslung. Gibt es denn gar nichts an der Optik auszusetzen?

4P: …bitte nicht so schnell, Herr Poe! Wir wollen unseren Lesern ja nicht die Spannung rauben. Aber Sie haben bereits die Veränderungen angesprochen, die im Laufe der sechs Kapitel Einzug halten. Das hat uns an ihr Werk "Der Untergang des Hauses Usher" erinnert. Fühlen Sie sich kopiert?

4P: Auch die Story rund um den Protagonisten Samuel bietet Parallelen: Der Tod seines Großvaters zwingt den adligen Jungspund zurück in seine englische Heimat, die traumatische Erinnerungen weckt. Kaum angekommen, traut er seinen Augen nicht: Da war er ein Jahrzehnt außer Haus und es hat sich scheinbar nichts verändert. Doch der nostalgische Schein trügt...

E.A. Poe: Keineswegs! Ich sehe hier eindeutig Inspiration; das ehrt mich!

Edel & stilvoll: Das Interieur weiß zu gefallen. Obwohl die Story in den 80ern spielt, scheint die Uhr hier kunsthistorisch anders zu ticken.
E.A. Poe: Ja, Parallelen zu meinen Geschichten sind da: die schaurige Vergangenheit, die fiebrigen Träume, die mysteriöse Wirkung von Orten, das Grauen unter der Oberfläche. Aber das ist doch das Herrliche an diesem Spiel! Es wirkt zunächst so friedlich und still, aber der Geist des Bösen weht im Verborgenen. Der Spannungsbogen steigt sanft an und stellt mich schnell vor kribbelnde Fragen: Warum gibt es z.B. keinen Abschiedsbrief vom Großvater? Und welches Motiv gäbe es für einen Selbstmord?

E.A. Poe: Genau! Gerade diese Geheimnisse, die die analytischen Fähigkeiten fordern, haben mich fasziniert. Vielleicht erinnert sich jemand an meine "Tales of Ratiocination" [hierzulande z.B. als "Der Doppelmord in der Rue Morgue" bekannt; Anm. d. Red.] mit dem Amateurschnüffler C. Auguste Dupin? Dem ersten Privatdetektiv der Literaturgeschichte!

4P: Stimmt, Samuel muss schnell wie ein guter Kommissar zu Werke gehen und mit Zeugen sprechen, Indizien sammeln und Schlüsse ziehen.

E.A. Poe: Man fühlt sich wie auf einem Schiff, das von den Story-Strömungen sanft, aber unaufhaltsam in immer unruhigere Gewässer gezogen wird, bis man sich vor lauter Morden, Enthüllungen und Grausamkeiten in einem stürmischen Unwetter wiederfindet. Mit einem erzählerisch atemberaubenden Finale, das…



4P: Ähm, natürlich - damit haben Sie das Genre der modernen "Detektivgeschichte" begründet! Aber zurück zum Thema: Wie würden Sie das Spielgefühl beschreiben?

Was verbirgt sich in den mittelalterlichen Gewölben?
E.A. Poe: Was soll das denn für eine Kritik sein? Alle meine Werke sind streng linear, aber sie vermitteln dank tragischer Wendungen die Illusion des offenen Abenteuers! Das ist doch gerade die Spannung! Auch Black Mirror lebt von seinen Überraschungen und gut inszenierten Filmchen. Was mich wirklich enerviert hat, waren die langen Phasen des sinnlosen Stolzierens…

4P: …ganz ruhig, Herr Poe! Haben Sie denn an der Erzählung nichts zu meckern? Immerhin ist sie streng linear.

E.A. Poe: Ich bin sehr oft zwischen den Örtlichkeiten unterwegs. Erstens, weil ich erst bestimmte Gespräche führen musste, um bis dato nicht benutzbare Gegenstände endlich aufnehmen zu können. Das hat mit Freiheit nichts zu tun; schließlich hatte ich den Schlüssel ja bereits entdeckt, darf ihn nur nicht nehmen! Zweitens, weil ich nicht immer wusste, was ich nun tun soll. Warum gibt es keine Hinweise? Hier hätten auch Tagebucheinträge geholfen. Wieso bringt Samuel seine Gedanken nicht zu Papier? Gut ist, dass man diese langen Laufwege durch einen Doppelklick auf den Ausgang abkürzen kann und dass sie gegen Ende des Spiels abnehmen.

4P: Könnten Sie das näher erläutern?

E.A. Poe: Der größte Knackpunkt sind die spartanischen Informationen. D.h., dass weder Samuel noch die Umgebung genug Informationen zu Situationen, Rätseln oder Gegenständen abgeben. Das führt dazu, dass man z.B. das Wesen eines Rätsels nicht versteht. Vor der Knobelei fragt man sich also, was man überhaupt tun soll – hier hätte Samuel wenigstens seine Gedanken in inneren Monologen kundtun können.

4P: Ja, ein Tagebuch haben wir auch vermisst. Aber wo Sie gerade bei der Kritik am Leerlauf sind: Können Sie hier bitte konkreter werden?

E.A. Poe: Abwechslungsreich, meist logisch aufgebaut und sehr delikat - kein abstruser Nonsens wie in anderen Spielen! Man muss aus Schnipseln ein Porträt puzzeln, kleine Schiebe-Brettspiele meistern, Planeten und Sternbilder richtig bestimmen,

Wer suchet, der findet: Auch in Black Mirror hat Maus-Sorgfalt oberste Priorität, denn Gegenstände verstecken sich überall.
Apparaturen in Gang bringen und durch Labyrinthe streifen. Als bibliophiler Lexikonfreund hat mich besonders gefreut, dass auch ein Nachschlagewerk bei der Lösung einiger Aufgaben nötig ist.

4P: Innere Monologe? Also mehr Selbstgespräche vor und bei Rätseln?

E.A. Poe: Die literarische Halbbildung des 21. Jahrhunderts ist beängstigend. Aber Sie haben Recht. Samuel hätte bei all den schönen Anflügen von Paranoia und Selbstzweifeln mehr mit sich selbst sprechen sollen.

4P: Zurück zum Adventure-Handwerk: Wie finden Sie die Rätsel eigentlich?

E.A. Poe: Ja, auch die  haben mir sehr viel Freude bereitet, denn sie waren –meist- nachvollziehbar. Wer über Messer, Feuer, Wasser und Licht Bescheid weiß, wird gut zurechtkommen. Ärgerlich wiederum, dass man die vielen Dinge nicht genauer unter die Lupe nehmen konnte; auch Samuel hält sich viel zu bedeckt, wenn es um sein interessantes Hab und Gut geht.

4P: Und die Item-Kombinationen?

E.A. Poe: Wie meinen?

4P: Was halten Sie von den Verknüpfungen der Gegenstände?

E.A. Poe: Er sieht einfach nicht markant genug aus für einen guten Protagonisten – sein Haar muss ölig schwarz glänzen,  seine Mimik wie aus dem Gesicht gemeißelt sein. Das erzählerisch triviale Baphomets Fluch war in der Charakterdarstellung eine Klasse besser. Aber über die kleinen Schwächen der Optik habe ich ja schon gesprochen. Ansonsten hat er mir sehr gut gefallen. Keiner dieser gestriegelten Hollywood-Helden, kein Mann in der Menge, sondern ein junger zickiger Blaublüter, der seiner Arroganz und seinem Widerwillen gegenüber dem faulen Volk oft spöttischen Ausdruck verleiht. Manchmal kann man sich sogar aussuchen, ob man freundlich oder gereizt reagiert – das hat den Dialogen noch eine schöne persönliche Note gegeben, die man ruhig intensiver hätte ausbauen könnte.

4P: Was ist Ihnen sonst positiv aufgefallen?

E.A. Poe: Die kleinen adrenalinhaltigen Ereignisse wie der plötzliche Kampf mit dem Hund oder dem mysteriösen Totengräber. Nur, wer hier schnell reagiert, wird überleben. Was für ein morbider Spaß!

4P: Wie hat Ihnen der Hauptcharakter Samuel gefallen?

Schaurig: In der privaten Leichenhalle eines Arztes finden sich nicht nur medizinische Instrumente...
E.A. Poe: Samuels Antworten hätten erstens spielerisch mehr Einfluss haben sollen und zweitens noch böser ausfallen können. Viel böser.

4P: Wie meinen Sie das?

E.A. Poe: Ein Hörgenuss! Während meiner Zeit im Reich der Toten haben ich 666 Sprachen gelernt, darunter natürlich auch die deutsche. Im Vergleich zur absolut unwürdigen angelsächsischen Fassung entfacht die teutonische sofort schauspielerische Glaubwürdigkeit. Die Sprecher überzeugen auf ganzer Linie und gerade Samuel wurde gut getroffen – auch, wenn er für meinen Geschmack viel zu selten spricht.

4P: Ach so. Was halten Sie von seiner deutschen Stimme und der Sprachausgabe an sich?

4P: Vielen Dank Herr Poe. Könnten Sie zum Abschluss vielleicht noch ein Fazit ziehen?



E.A. Poe: Ihr, die Ihr lest, seid noch unter den Lebendigen; aber ich, der ich schreibe, werde schon lange meinen Weg ins Reich der Schatten gegangen sein. Also spreche ich kurz, genau, und dann nimmermehr: Black Mirror ist phantastisch!

Fazit

Ja, Edgar Allan Poe hat Recht - auch, wenn er zum Schluss poetisch überspitzt. Black Mirror ist für mich das derzeit beste Adventure. Es hat zwar keine moderne Prachtgrafik, aber es hat Stil – erzählerisch, spielerisch, optisch. Warum reicht es nicht für höhere Wertungsregionen? Leider sind die Animationen grausam steif und es fehlt ein Tagebuch, das die vielen interessanten Details zum Nachlesen archiviert. Außerdem vermisst man aussagekräftiges Item-Feedback: Man kann Gegenstände nicht genau genug begutachten und Samuel äußert sich zu spärlich in Rätselsituationen, so dass unnötiger Leerlauf entsteht. Trotzdem: Wenn es einen Grund gibt, sich in Zeiten von Havok-Physik und Shader-Technik in ein klassisches Point&Click-Abenteuer zu vertiefen, dann heißt er Black Mirror. Denn unter dem technischen Staub funkelt spielerischer Glanz!

Pro

  • sehr gute Story
  • klasse Lokalisierung
  • morbide Atmosphäre
  • wunderschöne Kulissen
  • schöne Wetterdarstellung
  • abwechslungsreiche Rätsel
  • logische Item-Kombinationen
  • viele erzählerische Überraschungen
  • sanft ansteigender Spannungsbogen
  • stimmungsvolle Musikuntermalung
  • glaubwürdige Charaktere & Dialoge

Kontra

  • kein Tagebuch
  • zu steife Animationen
  • zu wenig Item-Feedback
  •  einige unnötige Leerlaufphasen

Wertung

PC

Wenn es einen Grund gibt, sich in Zeiten von Havok-Physik und Shader-Technik in ein klassisches Point&Click-Abenteuer zu vertiefen, dann heißt er Black Mirror.