Oddworld: Strangers Vergeltung - Test, Action-Adventure, PlayStation2, PC, XBox, Switch, PlayStation3, PS_Vita

Oddworld: Strangers Vergeltung
03.03.2005, Paul Kautz

Test: Oddworld: Strangers Vergeltung

Was hat ein Löwengesicht, smaragdgrüne Augen und eine tiefere Stimme als Barry White, trägt einen Schlapphut, galoppiert wie ein Gepard über Steppen und ballert mit Munition, die er vorher erst bewusstlos geschlagen hat? Bruce Willis in einer eher ungewöhnlichen Rolle? Nein: Der »Stranger« - ein Kopfgeldjäger mit Attitüde und einer Vorliebe für unorthodoxe Munition: Denn statt mit Blei geht es der gegnerischen Brut hier mit fluchenden Eichhörnchen, Stinktieren und penetranten Wespen an den Kragen. Willkommen im außergewöhnlichsten Action-Adventure, das jemals das grüne Licht der Xbox erblick hat: Oddworld Strangers Vergeltung.

Die bisherigen Games der Oddworld Inhabitants, einer Gruppe der außergewöhnlichsten Gamedesigner der Spielebranche, waren eher Adventures – sehr knobel- und geschicklichkeitslastig, weniger auf Action gemünzt. Der Stranger, der auch mit den bisherigen Helden, den schlafmützigen Abe und Munch, nun wirklich gar nichts gemein hat, geht den genau umgekehrten Weg: Jede Menge Action,

In der Außenperspektive lässt der Stranger die Fäuste sprechen...
gewürzt mit Hüpfeinlagen und einigen Puzzles. Ein ausführliches Tutorial bringt euch die Besonderheiten des Spieldesigns näher: Ihr habt es hier nicht mit einer, sondern mit zwei Steuerungsvarianten zu tun, je nachdem, ob ihr den Stranger aus der Ego- oder der Schulterperspektive steuert, zwischen denen per einfachem Druck auf den rechten Analogstick umgeschaltet wird. In der Außenansicht lauft und rennt ihr durch die Pampa, schlagt mit euren mächtigen Tatzen oder eurem noch mächtigeren Kopf zu, und springt präziser.

Tödliche Labertaschen

Aus dem Blickwinkel des Fremden hingegen wird es actionlastig. Hier wird Stranger zum Ego-Shooter, allerdings nur mit einer Waffe – die es auf der anderen Seite mächtig in sich hat! Denn geschossen wird nicht mit einfachem Blei, sondern mit lebenden Tieren, die der Stranger vorher betäuben und einsammeln muss. Da wäre z.B. das labertaschige »Arschbackenhörnchen« (was für ein großartiger Name!), welches euch schon mal anfängt zu beleidigen, wenn es ihm auf der Sehne eurer Armbrust zu langweilig wird - und sonst so lange auf eure Feinde einquasselt, bis die genervt auf den Nager losgehen. Oder wie wäre es mit den fiesen Fellbüscheln »Fuzzles« (die man aus »Munch’s Oddysee« kennt), die sich, bissig wie sie sind, erbarmungslos auf ahnungslose Gegner stürzen, und sich daher großartig für Fallen eignen? Praktisch auch die explodierenden Fledermäuse, die knollenartigen Käfer, die jeden Feind von den Socken hauen oder die Stinktiere, die eure Widersacher wörtlich zum Kotzen finden. Jedes Viech macht aus eurer Armbrust eine neue Waffe, außerdem könnt ihr sie auf jeder der

..aus der Ego-Sicht hingegen übernimmt die mit lebender Munition bestückte Armbrust das Wort.
zwei Seiten anders aufmunitionieren. Allerdings dürft ihr von jedem Tierchen nur eine begrenzte Menge mit euch herumschleppen – um nicht gerade in den hitzigeren Gefechten ohne Munition dazustehen, solltet ihr daher die Augen stets nach Nestern aufhalten. Die Munitionswahl ist denkbar einfach: per Druck auf das Digitalpad wählt ihr das Getier aus einer Liste aus, die Action ist währenddessen eingefroren.

Da der Stranger ein Kopfgeldjäger ist, ist seine Beute lebend natürlich mehr wert als tot. Um also Gegner einzusacken, müsst ihr sie bewusstlos bekommen. Das geht entweder mit ein paar gezielten Hieben, einem guten Treffer aus der Armbrust oder einer Umwickelung mit Spinnen-Munition, welche den Feind für kurze Zeit hilflos zappeln lässt – schnell hinrennen, und den Burschen in die praktische Vakuum-Beuteaufbewahrvorrichtung saugen! Übertreibt ihr es mit der Gewalt, ist der Feind nur noch ein Klumpen Fleisch, und somit kaum mehr etwas wert. Das gilt besonders für die Bosse: Ihr pickt euch einen Auftrag aus dem Kontingent heraus, bekommt noch einige Hinweise, wo der Übeltäter zu finden ist, und trabt los. Habt ihr euch durch die Horden normaler Feinde gekämpft, kommt der Obermotz heraus. Der ist um einiges stärker und zäher als der Rest der Bande, bringt aber auch viel mehr, speziell, wenn er an einem Stück im Gefängnis landet. Es gibt immer mehrere Wege mit einem Boss fertig zu werden; ein Teil der Herausforderung liegt darin herauszufinden, auf welche Art Munition er besonders allergisch reagiert. Und natürlich ist es einfach, ihn zu töten, aber gerade der Kampf um sein Überleben macht einen großen Teil des Spielreizes aus – man will einfach die komplette Belohnung abgreifen, egal wie oft man es versuchen muss! In dem Zusammenhang ist die Speicherfunktion eine große Hilfe: Sie sichert automatisch an bedeutenden Stellen, etwa direkt vor einem Bosskampf. Ihr könnt allerdings auch jederzeit selbst einen Spielstand anlegen,

Die Bosse sind um einiges schwieriger zu knacken als Standard-Widersacher - bringen aber auch deutlich mehr Geld.
z.B. in einer Feuerpause. In der dürft ihr euch auch heilen: Mangels Medizinpäckchen schüttelt ihr lästige Blessuren einfach wie Staub von eurem Poncho ab – allerdings kostet das Ausdauer, welche sich jedoch schnell wieder regeneriert.

High-Noon in Oddworld

In jeder Stadt gibt es neben dem Gefängnis auch ein Kopfgeldjägerfachgeschäft, in dem ihr euer hart verdientes Geld ausgeben dürft. Dort findet ihr u.a. Clips, mit denen ihr mehr Munition halten könnt, zusätzliche Tiere (falls mal kein Nest auszumachen ist), oder Lockstoffe, welche mehr Tiere aus ihren Verstecken holen.  Viel wichtiger sind jedoch bestimmte Ausrüstungsgegenstände, die euch das Leben vereinfachen: verstärkte Handschuhe z.B verleihen euren Schlägen mehr Wumms, andere Items beschleunigen den Nachladevorgang, spezielle »Breeder« lassen Munition automatisch nachwachsen. Das ist allerdings gleichermaßen Segen wie Fluch: Über kurz oder lang seid ihr nicht mehr auf Munitionssuche angewiesen und außerdem so stark mit Tierchen bestückt, dass euch das verdiente Geld im Grunde egal sein kann – dadurch geht der Reiz, die Gegner lebendig zu schnappen etwas flöten. Abwechslung bringen z.B. Rettungsmissionen, in denen ihr bestimmte Personen aus den fiesen Händen der Gangster befreien müsst. Die bringen viel Geld, sind aber auch riskanter, da die Zielperson in jedem Fall lebend zurückkommen sollte.           

Optisch wirkt Stranger auf den ersten Blick weder sonderlich spektakulär noch wirklich beeindruckend: Anfangs erwartet euch ein Wildwest-Szenario, später wird’s dann zunehmend dschungeliger. Doch schon nach kurzer Zeit merkt man, wie stimmig die Umgebung in sich ist, wie 

Der lange Marsch: Ihr beginnt in einem klassischen Wildwest-Szenario...
konsequent und vor allem wie lebendig. Das hier vermittelte Gefühl einer atmenden Welt bekommt ihr sonst nur in den Games der GTA-Reihe. Wenn euch in einem Canyon eine Staubwolke umweht, ihr durch ein Meer von Pusteblumen trabt oder die Sonne sanft durch die Bäume blinzelt, ist man einfach nur hingerissen. Die cartoonigen Animationen, speziell die der Gegner und der huhnigen Stadtbewohner, sind der Hammer – werdet ihr z.B. niedergestreckt, freuen sich eure Feinde scheckig, kommen angewackelt und feiern einen Freudentanz um euren leblosen Körper. Der Stranger selbst könnte cooler kaum sein: kontrollierte Bewegungen, ein tief ins Gesicht gezogener Schlapphut und das obligatorische Ausspucken von Kautabak machen ihn zum tiefgekühltesten Spielehelden seit Max Payne. Auch effektmäßig hält sich das Programm nicht zurück: realistisch plätscherndes Wasser, fette Explosionen, die den Bildschirm kurz in einen Partikeloverkill stürzen und der dramatische Übergang von Gebäuden nach außen bei vollem Gegenlicht sind eine Augenweide. Lediglich die gelegentlich niedrig aufgelösten und zum Flimmern tendierenden Texturen mögen ein Dorn im Auge sein, den man aber zugunsten des harmonischen, und vor allem jederzeit flüssigen Gesamteindrucks gerne vernachlässigt.

Eine runde Sache

Wie in Half-Life 2 erwartet euch hier eine durchgehende Welt ohne Stilbrüche oder Levelsprünge: Ihr könnt zwar nicht jederzeit überall hin, auch verlasst ihr Bereiche komplett, nachdem ihr z.B: in einer Stadt alle Aufträge erledigt habt – aber die Locations sind immer logisch miteinander verbunden. Die Interaktivität der Umgebung könnt ihr außerdem zu eurem Vorteil nutzen: schubst Gegner in gigantische

...und landet schon bald in einem lauschigen Dschungel.
Ventilatoren, bringt Benzinfässer zum Explodieren oder bedient einen Kran, der ein gigantisches Gewicht auf unbedarfte Feinde plumpsen lässt – es gibt viele Möglichkeiten, sich das Leben einfacher zu machen. Der glanzvolle Höhepunkt sind schließlich die Renderfilme: Toll animiert, den abgefahrenen Grafikstil konsequent weiterführend und fantastisch in Szene gesetzt führen sie die Story weiter, die anfangs gemächlich, später aber immer besser ins Rollen kommt.

Eure Hatz wird die meiste Zeit von erstaunlich ruhiger, an Ennio Morricones Werke erinnernde Wildwest-Musik begleitet, die sich dem Spielgeschehen anpasst, und somit in wilderen Momenten dramatisch an Tempo gewinnt. Klares Highlight ist aber die deutsche Sprachausgabe: Der Stranger hat eine bodenlose tiefe Stimme, Bewohner schnattern und krächzen wild umher, Bossgegner krakeelen wütend - die Sprecher sind super besetzt, die Texte (selbst Schilder und Beschriftungen in den Renderfilmen wurden übersetzt) sind fehlerfrei. Allerdings vermisst man genau wie in der englischen Fassung die Untertitel.

Trotz der »Einsamer Wolf«-Einstellung des Strangers seid ihr nicht allein: Neben den Gegnern bevölkern auch die vogelähnlichen Stadtbewohner (»Clakkerz«) die Welt. Ihr könnt jeden davon zum aktuellen Auftrag befragen, wobei die Antwort entweder hilfreich, neutral oder barsch ausfällt – je nachdem,

Die Dorfbewohner haben immer einen schlauen Tipp oder albernen Spruch parat.
welchen Eindruck die Leute von euch haben: Seid ihr freundlich, geben sie einem Tipps oder führen Dialoge, die einem nützen. Haut ihr sie hingegen um, um z.B. schnell an etwas Geld zu kommen, werden sie immer wortkarger, verbreiten die Kunde von dem bösartigen Fremdling sogar in andere Städte und werden, wenn ihr es zu sehr auf die Spitze treibt, feindselig. Wenn ihr gar nicht mehr weiterwisst, haltet einfach kurz an und drückt die »X«-Taste – schon murmelt der Stranger einen Tipp, was als nächstes zu tun ist. Habt ihr nach 15 bis 20 Stunden die interessante, aber linear verlaufende Story beendet, bietet der Stranger leider nicht mehr viel Weiterführendes – ein Mehrspielermodus, in dem man sich gegenseitig die verrückte Munition um die Ohren haut, wäre nett gewesen.   

Sprechende Hühner

Fazit

Wo nehmen die Oddworld Inhabitants nur diese ganzen wundervoll bescheuerten Ideen her? In welchem anderen Spiel wurdet ihr z.B. von eurer Munition am laufenden Band beleidigt, weil sie sich beim Warten auf ihren Einsatz langweilt? In welchem anderen Spiel schüttelt ihr lästige Verletzungen einfach so ab, wie ein Hund Flöhe los wird? In welchem anderen Spiel ballert ihr mit gefräßigen Fellknäueln um euch? Es gibt einfach kein Game, das man mit Strangers Vergeltung vergleichen kann – bestenfalls die klassischen Oddworld-Games, die gleichermaßen verrückt sind, aber spielerisch einen anderen Ansatz haben. Der Stranger trabt und rennt durch ein ebenso faszinierendes wie süchtig machendes Szenario, das vor bizarren Einwohnern, durchgeknallten Gegnern, großartigem Humor und nicht zuletzt toller Optik nur so strotzt. Okay, im Missionsdesign gibt es auf Dauer die eine oder andere Abnutzungserscheinung, die in engen Räumen unzuverlässig torkelnde Kamera fällt auch unangenehm auf, außerdem finde ich den Namen etwas gestelzt. Aber der Rest ist Spielspaß pur: Oddworld Strangers Vergeltung ist das bislang beste Action-Adventure für die Xbox, und eine glasklare Empfehlung für alle, die ihre Spiele gerne etwas verrückter haben.

Pro

  • unvergleichlicher Grafikstil
  • verrückte »lebende Munition«
  • mitreißende Atmosphäre
  • toller Humor
  • interessante Story
  • skurrile Charaktere
  • großartige Sounduntermalung
  • super Sprachausgabe
  • detaillierte Grafik
  • fette Explosionen
  • liebevolle Umgebungen
  • fetzige Bosskämpfe
  • herausfordernde Hüpfeinlagen
  • zwei Steuerungsvarianten
  • intuitive Kontrolle
  • angemessen umfangreich
  • coole Renderfilme
  • praktisch kein Ladezeiten
  • jederzeit speicherbar

Kontra

  • gelegentlich schwache Texturen
  • vereinzelter Leerlauf im Missionsdesign
  • sporadische Kameraprobleme
  • Geld wird später fast überflüssig
  • keine Untertitel
  • kein Mehrspielermodus
  • hat mit dem klassischen Oddworld nicht viel zu tun

Wertung

XBox

Genial-verrücktes Action-Adventure mit kauzigem Helden.