Jade Empire - Test, Rollenspiel, PC, XBox

Jade Empire
21.04.2005, Jörg Luibl

Test: Jade Empire

China ist im Kommen - politisch, wirtschaftlich, spielerisch. Nachdem die asiatische Großmacht bisher nur als alternativer Bösewicht in Strategie- und Actiontiteln herhalten durfte, kann sie in Jade Empire (ab 5,99€ bei kaufen) endlich ihre uralte mythische Pracht entfalten: Geister und Dämonen, Drachen und Chi, Kampfkunst und Philosophie. Bioware entführt euch in ein zauberhaftes Martial Arts-Abenteuer. Rollenspieler aller Länder bejubelt es?

Glaubt ihr an Feng-Shui? An Harmonie und Geister im Raum? Schauen wir uns mal um: Wenn ich sitze, blicke ich auf eine mandeläugige Kämpferin mit brennendem Krummsäbel. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich einen blutroten Samurai. Wenn ich in meine Schublade greife, finde ich eine vergilbte Kinokarte von House of the Flying Daggers - das chinesische Schwertkampfepos von Yimou Zhang.

Epische Euphorie

Seit der ersten News vom 11. September 2003 haben sich immer mehr martialische Spuren fernöstlicher Kultur um meinen Schreibtisch herum angesammelt. Selbst die Fensterbank blieb nicht verschont: Dort thront ein Pappaufsteller von Jade Empire, handsigniert von allen Bioware-Größen: Greg Zeschuk, Ray Muzyka, James Ohlen, Rob Bartel - die Kreativköpfe hinter Fantasy-Abenteuern wie Baldur`s Gate, Neverwinter Nights und Star Wars: Knights of the Old Republic (KotOR).

Ein Held, eine Aufgabe: Rettet die kosmische Balance des Jade-Imperiums!
Liebe auf den ersten Blick

Was ich damit sagen will? Der Arbeitsplatz ist ein Spiegel der Testerseele. Ich bin ein Bioware-Verehrer. Meinetwegen ein Fanboy. Ich habe mich wie ein frisch gebackener Glückskeks gefreut, als die Kanadier ihr asiatisches Epos ankündigten. Kein Wunder: Ich liebe Martial Arts. Ich liebe Rollenspiele. Jade Empire schien beide Leidenschaften in einem großen Meisterwerk vereinen zu können. Und genau das habe ich erwartet: einen Blockbuster in vollendet veredeltem Platinglanz. Was sollte auch schief gehen? Schließlich hat bereits das erste Star Wars-Epos die Xbox im Sturm erobert. Es wurde auch bei uns mit satten 91% gefeiert.

Und es gab Augenblicke, da habe ich auch Jade Empire bejubelt: Wenn man bei gleißendem Sonnenlicht mit einer Seitwärtsrolle dem tödlichen Tritt eines schnaufenden Elefanten-Dämonen ausweicht, der das sanft wehende Gras mit seiner Magie plötzlich in eine Steinwüste verwandelt - die Kulisse ist grandios. Oder wenn man grübelnd vor einem Damm steht, dessen Öffnung einerseits viele soziale Vorteile, andererseits jedoch persönliche Nachteile bringen würde - die Entscheidungen sind frei. Oder wenn man sich geschickt durch die Dialoge argumentiert, um den freundlich lächelnden Gesprächspartner als mordenden Scharlatan zu entlarven - die Texte sind lesenswert. Jade Empire hat ohne Zweifel viele starke Seiten, viele bemerkenswerte Momente.

Aber während der knapp 20 Stunden währenden Reise durch verfluchte Höhlen, gespenstische Wälder und pulsierende Städte schlichen sich immer wieder böse Geister der Ernüchterung ein, die einige schwache Seiten enthüllten und die Euphorie dämpften. In der Kombination sorgen sie letztlich dafür, dass dieses Abenteuer trotz seiner Reize auf gutem bis sehr gutem Niveau stagniert, statt wie vermutet und erhofft höchste 90er-Gipfel zu erklimmen. Jade Empire erinnert in dieser Hinsicht an Fable, denn beide Spiele haben im Vorfeld eine hohe Erwartung, fast schon eine Euphorie ausgelöst - am Ende bieten beide auch sehr gute Unterhaltung, aber lassen gleichzeitig viele Wünsche offen.

Gutes Abenteuer, böse Geister

Woran liegt das? Als eingefleischter Rollenspieler habe ich ein Wechselbad der Gefühle erlebt. Auf der einen Seite gibt es nicht nur viele unerwartete Ähnlichkeiten, sondern auch klare Beschneidungen im Vergleich zu KotOR. Mathias hat in seiner Vorschau daher schon zu Recht von "Knights of the Chinese Republic" gesprochen - ich würde sogar noch ein "light" hinzufügen, wenn es um die Rollenspielaspekte und die Spieltiefe geht Auf der anderen Seite gibt es wunderbare Höhepunkte in Sachen Quests und Erzählkultur. Auch als Kampfkunst-Fan wurde ich zwar dank der Taktik gut unterhalten, aber aufgrund der Leichtigkeit nicht begeistert. Und selbst die Mini-Spiele, das Party-Management und die Technik hinterlassen gemischte Gefühle: Heiß und kalt, hoch und tief - das zieht sich durch das ganze Spiel wie Yin und Yang durch die chinesische Philosophie.

            

Bereits der Einstieg lässt kleine Alarmglocken läuten: Das Star Wars-Epos konnte mit seiner kargen Charaktererschaffung schon nicht glänzen; Jade Empire erweitert zwar das Angebot, bleibt aber leider dem einfachen Prinzip treu. Ihr habt die Wahl unter sechs männlichen und weiblichen Figuren, die sich auf vier Kampftypen (schnell, stark, ausgewogen, magisch) verteilen, aber ihr könnt ihr Aussehen nicht verändern und lediglich die Ausgangsstile wechseln. Außerdem werden noch

Tigerkrallen und Kicks: Martial Arts-Fans können sich frei austoben.
Punkte auf die drei Attribute Körper, Seele und Geist verteilt. Aber da niemand exklusive Fähigkeiten wie Schlösser knacken, Fernkampf oder Verwandlung besitzt, bleibt das Spiel- und Aufstiegserlebnis mit allen Figuren in etwa gleich. Jeder kann sich mit der Zeit all das aneignen, was andere können: Wer als starker Nahkampf-Hüne startet kann später ebenso Feuermagie einsetzen wie ein arkaner Typ. Warum hat man nicht wenigstens die Kämpfer in ihren Magiefähigkeiten beschnitten, um für etwas mehr Konturen zu sorgen?

Blasse Charakterentwicklung

Diese offenen Wünsche wirken sich natürlich gerade beim ersten Spielen nicht negativ auf die Motivation aus - egal, welchen Charakter man nimmt: In den ersten Stunden kann man jede Menge ausprobieren und das macht einen Heidenspaß. Und der Vorteil dieses offenen Systems ist, dass man nicht an Klassengrenzen gebunden ist, sich also frei entfalten darf: Jeder kann alles werden. Der Nachteil dieser Gleichmacherei ist allerdings, dass der Wiederspielwert sinkt. Auch wenn man die drei Schlüsselattribute Körper, Seele und Geist bei einem Aufstieg nicht gleichrangig, sondern einseitig verstärkt, ergeben sich keine neuen Wege, keine neuen Erlebnisse. Und da das Spiel selbst zu einer Balance zwischen den drei Kräften rät, um allen Herausforderungen gewachsen zu sein, gestaltet sich der Levelaufstieg recht langweilig: Man erhöht einfach alle Werte. Nur die Tatsache, dass man seine Kampfstile noch einzeln in Punkten wie Schnelligkeit, Schlagkraft oder Energieverbrauch verbessern kann, sorgt für ein wenig Würze im sonst blassen Charakter-Management. Aber dieses System der Alleskönner wertet auch die Taktik in der Party ab: Wenn mein Held ohnehin sowohl kämpferisch als auch magisch alle Kniffe beherrscht, warum soll ich mir noch Gedanken bei der Auswahl meines Gefährten machen? Ob er jetzt ein Säbel schwingender Nah- oder ein feuriger Fernkämpfer ist, spielt keine Rolle.

Immerhin kommt mit der Kulisse prächtige Farbe ins Spiel. Jade Empire ist eine ganze Klasse beeindruckender als das teilweise graue und dröge KotOR: Wenn man nach der Figurenwahl mit ersten zaghaften Schritten das Kloster erkundet, wird man gleich von einer Fülle an Farben und Eindrücken überflutet. Man betritt eine zauberhafte Welt, die mit ihren weichen Gold- und Rottönen, mit ihren leuchtenden Lampions und steinernen Statuen umgehend exotische Neugier entfacht. Gras und Laternen wehen im Wind, Räucherstäbchen qualmen idyllisch vor sich hin. Das absolute Sahnehäubchen genießt man später im göttlichen Himmel: Man wandert durch ein paradiesisches Panorama, umgeben von Regenbögen und gleißenden Lichtstrahlen - fantastisch!

Lampions & Räucherstäbchen

Auch gute alte Oger haben es in die bizarre Figurenwelt geschafft.
Bioware hat viel recherchiert, um ein ebenso glaubwürdiges wie exotisches asiatisches Reich zu präsentieren. Man spürt immer wieder die Sorgfalt, die nicht nur in die Grafik, sondern auch in die Seele des Spiels investiert wurde: Es gibt z.B. eine alte Sprache namens Tho Fan, die ab und zu als unverständliches Kauderwelsch ertönt. Hinzu kommen viele sprechende Namen: Ihr bekommt kein Langschwert +3, sondern den "Günstling des Glücks", keinen Stab +4, sondern den "Goldstern". Und natürlich haben all diese Waffen noch kleine Geschichten ihrer Entstehung parat, die zum Stöbern einladen.

Jade Empire bedient sich dabei frei aus dem reichhaltigen architektonischen und historischen Fundus asiatischer Kultur. Die Entwickler haben Fakten der chinesischen Geschichte mit mythologischen Stoffen und einem Schuss westlicher Fantasy vermischt: Es gibt Akupunktur und Fluggeräte, Kung-Fu und Magie, eine große Mauer und wilde Pferdefürsten, Prostitution und Steuereintreiber, Drachengeister und gehörnte Oger. Wer sich die Mühe macht, und all die Schriftrollen liest, kann sogar in die stürmische Chronologie dieses Reiches abtauchen, die viele Parallelen zur Entstehung Chinas offenbart, wie z.B. Anspielungen auf die Mongolen, die Große Mauer oder Tibet. Fleißige Leser werden zudem mit netten Boni belohnt, wenn sie alle Manuskripte eines Themas gefunden haben.

      

Aber zu Beginn wisst ihr von all dieser Fülle noch wenig, denn ihr seid in einem abgeschiedenen Kloster aufgewachsen und kennt lediglich euren weisen Meister Li sowie einige Mitschüler. Trotzdem müsst ihr euch gleich einige Fragen stellen: Warum seid ihr eigentlich der Liebling eures Meisters? Der greise Kämpfer bevorzugt euch dermaßen, dass sich bereits ein Duell mit einem eifersüchtigen Nebenbuhler ankündigt. Ihr geht zwar siegreich aus diesem Scharmützel hervor, aber danach beginnen die Probleme - das Dorf wird überfallen, Geister streifen durch die Wälder, eure Freundin wird entführt. Was ist da los? Nach einer mysteriösen unterirdischen Einweihung wird euer Schicksal enthüllt: Ihr seid der letzte Überlebende eines Bergvolkes, der nichts Geringeres als die kosmische Balance des Reiches retten muss!

Eifersucht & Unschuld

Das Figurendesign ist fantastisch, erinnert teilweise an japanische Animationskunst von Miyazaki.
Wo bleibt die Balance?

Das ist das treibende Leitmotiv des Abenteuers: die Balance. Denn genau darum geht es sowohl bei der Charakterentwicklung als auch im Kampf, sowohl bei der Wahl eurer Mitstreiter als auch in Gesprächen. Eure Fähigkeiten müssen genau so im Gleichgewicht gedeihen wie die Welt der Lebenden und der Toten, wie Aggressivität und Passivität - ein angenehmer Hauch chinesischer Philosophie weht hier durch Jade Empire. Bioware manifestiert das in einem frisch wirkenden Moralsystem: Ihr folgt entweder dem "Weg der offenen Hand" oder dem "Weg der geschlossenen Faust". Aber was sich nach einer kreativen Alternative zum Gut-Böse-System von KotOR anhört, mutiert im Laufe des Spiels zu einer Kopie unter anderem Namen. Denn die offene Hand ist der hohe, der gute Pfad; die geschlossene Faust der niedere, der böse Pfad.

Auch die Statistik wirkt wie ein Zwilling: Euer moralischer Zustand wird auf einer Skala angezeigt, die nach jeder Entscheidung angepasst wird. Wenn man plündert, mordet und schamlos ausnutzt wird sie sinken; wenn man selbstlos hilft und als Retter einspringt, wird sie steigen. Spielerisch hat man von einem Mittelweg allerdings wenig: Denn nicht nur viele der Juwelen, die eure Fähigkeiten verbessern können, sondern auch effektive Kampfstile und so manche Nebenquest kann man nur erhalten, wenn man sich deutlich zu einem Weg bekennt. Dieses System ist genau so zweigeteilt und schnell durchschaut wie das von KotOR. Aber irgendwie scheint der böse Weg hier von Anfang an weniger reizvoll, weniger interessant als in der Science-Fiction-Welt, denn man wird sofort in ein Netz von Freunden und Beziehungen eingespannt, die die dunkle Alternative deutlich abwerten. Trotz dieses Aha-Effektes macht es Spaß, wenn man in die altbekannten Gewissenskonflikte gestürzt wird, denn um alle ranken sich kleine Tragödien und Lebensläufe.

In Sachen Präsentation hat man das Star Wars-Rollenspiel klar überholt: Die Story wird mal von lieblichen, mal wuchtigen und nur an Schlüsselstellen laut auftrumpfender Musik getragen. Sehr gut arrangierte Dialogsequenzen in Spielgrafik und herrliche Filme in Renderqualität treiben sie voran: Egal ob es um spektakuläre Flüge über die Baumgrenze, flammende Luftangriffe oder den Auftritt Bildschirm füllender Monster geht - die entscheidenden Stellen werden prächtig inszeniert. Dadurch wirkt die mythische Welt wesentlich einprägsamer und lebendiger.

Hohe Erzählkunst

Der Garten der Gelehrten lockt mit knackigen Rededuellen.
Wie ist die Qualität der Story? Obwohl man für meinen Geschmack etwas zu direkt in die Rolle des ultimativen Helden gepresst wird, und das Übel etwas zu schnell beim Namen genannt wird, kann die Geschichte mit epischer Breite und spannenden Wendungen sowie einem überraschenden Finale punkten. Wirkt die Mitte des Abenteuers etwas langatmig, kommt es in den letzten drei Stunden zu einem dramatischen Showdown. Alle Mosaiksteine passen am Ende in ein sorgfältiges Gerüst von fein ausgestreuten Gerüchten, Indizien und Fakten.

Biowares erzählerische Klasse blitzt vor allem in den vielschichtigen Dialogen auf: Die deutschen Sprecher sind hervorragend gewählt, an jeder Stelle schauspielerisch überzeugend und die Texte sind durch die Bank lesenswert, verschachtelt und amüsant. Wer sich einfach durchklickt, wird einige Feinheiten verpassen. Es gibt eine Vielzahl an markanten Charakteren und Anekdoten, die auch nach dem ersten Durchspielen noch in Erinnerung bleiben werden: tyrannische Hausfrauen, zickige Gelehrte, verrohte Kinder, nachdenkliche Mörder, hinterlistige Kannibalen und brutale Machtmenschen.

Hinzu kommen jede Menge knifflige Situationen, die echtes Rollenspiel von euch verlangen und Konsequenzen nach sich ziehen: Vor einem Arenakampf bietet euch jemand vergiftete Klingen an - annehmen oder ablehnen? Eine Prostituierte klagt über den Sadismus eines Freiers - ihm auflauern oder sie einschüchtern? Ein Student wird von einem eifersüchtigen Ehemann gesucht - ihn verraten oder unterstützen? Ihr habt sehr oft die angenehme Qual der Wahl, ob ihr mit Engelszungen, Polemik oder Überzeugungskraft vorgeht. Und so linear Jade Empire auch in Sachen Story ist, findet ihr abseits des Hauptpfades und innerhalb der Quests immer wieder interessante Gabelungen.

       

In einem Rededuell müsst ihr z.B. die Ehre der Asiaten gegenüber einem pöbelnden Europäer bewahren, der sich über die armselige Kultur lustig macht. Hier müsst ihr mit überzeugenden Argumenten Richter auf eure Seite bringen. Aber der eine liebt eher patzige, der andere weise, ein anderer wieder zurückhaltende Antworten. Meistert ihr diesen rhetorischen Spagat, redet man danach in höchsten Tönen von euch in den Straßen der Hauptstadt. Ein Highlight ist zudem euer Auftritt in einem Theaterstück. Hier sollte nicht nur die Reihenfolge eures Textes stimmen, ihr könnt auch zwischen zwei Varianten wählen: entweder kaiserfreundlich harmlos oder kaiserfeindlich satirisch. Das Problem ist: Ersteres bringt euch Ärger mit dem Autor, Letzteres alarmiert die anwesenden Spitzel…

Rededuelle & Rätsel

Eine gegen alle: Nur in der Überzahl und mit Fernkämpfern sind Gegner eine Herausforderung.
Auch die Rätsel kommen nicht zur kurz, obwohl sie lange Zeit vernachlässigt werden: Wird in der ersten Stunde noch durch ein kleines Farbenspiel der Appetit angeregt, muss man tatsächlich satte sechs bis sieben Stunden auf das nächste Rätsel warten, das euch mit Licht und Statuen spielen lässt. Aber dafür gibt es später endlich wieder interessante Kopfnüsse, die zum Knobeln animieren: Ihr findet überall bizarre Konstruktionsanleitungen, die ihr in einer Art alchemistischer Parallelwelt an Maschinen in Fähigkeiten umwandeln könnt. Aber wenn ihr hier die falsche Kombination von Kuhmagen, Zahnrad und Tigerstatue verwendet, kann etwas Unverhofftes passieren: Z.B. könnte statt des erhofften Chi-Schubs ein Dämon vom Himmel fallen…

Zu den optischen Delikatessen gehören auch die Figuren: Egal ob Kind oder Greis, Mann oder Frau - alle Charaktere wirken aufgrund markanter Mimik und Gestik sehr natürlich. Und wo die Figuren in KotOR teilweise noch wie Fremdkörper wirkten, scheinen sie hier aufgrund der gold schimmernden Konturen nicht nur plastischer, sondern fast schon mit der Umgebung zu verschmelzen. Das letzte Mal habe ich in Shenmue so fein skizzierte Gesichter gesehen. Außerdem bietet Jade Empire hier wesentlich mehr Vielfalt; ganz selten blickt man in gleiche Visagen. Und die eleganten Kämpfe erinnern in ihrer Choreographie stellenweise an asiatische Leinwandepen - allerdings ohne überzeichnete Wandlaufsperenzchen oder Senkrechtsprünge auf Dächer. Und wenn maskenhafte Wesen plötzlich aus dem Unterholz auftauchen, fühlt man sich sogar an das bizarre Flair des japanischen Animationsmeisters Hayao Miyazaki erinnert: Ein Hauch von Prinzessin Mononoke und Chihiro weht dann über den Bildschirm.

Fernöstliche Zauberwelt

Trotz all dieser Pracht gibt es auch Schwachstellen: Wer sich in der Weite umschaut, wird z.B. selten mehr als fade Andeutungen von Bergen oder Flüssen sehen. Der Himmel wirkt an einigen Stellen recht unspektakulär und die famosen Lippenbewegungen setzen selbst bei Protagonisten manchmal aus. Außerdem wird der Glanz teuer erkauft: Erstens kommt es immer wieder zu Rucklern, wenn man die Kamera in der optionalen Egoperspektive schwenkt oder die Landschaft in der Schultersicht erkundet. Zweitens gibt es sehr oft ärgerlich lange Ladezeiten, die den Spielfluss hemmen.

Der Preis der Kulisse

Pompöse Statuen, imperialer Glanz: die Architektur ist ebenso grandios wie das Figurendesign.
Das erinnert genau so an die technischen Mängel von KotOR wie das recht lineare Leveldesign: Vor allem zu Beginn kann man seinem Entdeckerdrang aufgrund unsichtbarer Grenzen selten freien Lauf lassen. Die Welt von Jade Empire sieht wunderbar aus, ist aber alles andere als offen. Man bewegt sich meist durch ein enges Korsett, das erst später in der Hauptstadt etwas lockerer sitzt. Hier hat man endlich die Wahl der Reihenfolge und kann mal freier erkunden. Aber konnte man im Star Wars-Universum ab einer bestimmten Stelle noch von Planet zu Planet reisen, gibt es hier auf der Weltkarte lediglich ein Dorf, das man später noch mal aufsuchen kann, falls man dort nicht alle Quests erledigt hat. Warum hat man hier nicht noch ein paar alternative Schauplätze eingebaut?

Last but not least kann auch die zauberhafte Landschaft nicht verschleiern, dass es erschreckend wenig Interaktionsmöglichkeiten gibt: Hier mal eine Vase, da mal eine Kiste oder ein Schriftrollenständer - das war`s. In KotOR gab es dank all der Terminals, Türen und Truhen noch etwas mehr zum Experimentieren. Diebesfähigkeiten kommen z.B. gar nicht zum Einsatz: Ob euch eine Falle verletzt, wird automatisch berechnet; Schlösser müssen nicht geknackt werden.

Vollkommen unverständlich sind zudem böse Grafikfehler: Manchmal wird eine Verwandlung zwar spielerisch, aber nicht optisch rückgängig gemacht. D.h., dass man immer noch in der Haut eines Dämons steckt, obwohl das nötige Chi bereits abgelaufen ist. Sehr peinlich ist, dass man in dieser Gestalt auch noch verkrümmt über dem Boden schwebt und bereits Kampfstile anwendet, die eigentlich zur normalen, zurückverwandelten Figur gehören. Es gab sogar eine Sackgasse in der Schule des Schwarzen Leoparden, an der ein Kampf einfach weiter geführt wurde und unser Held nicht mehr aus einem Raum kam; hier mussten wir eine Stelle früher nachladen - diese Bugs verschwinden zwar meist nach einem Kampf, aber solche Fehler ist man auf Konsolen und von Bioware nicht gewöhnt. Das Schöne ist, dass man überall speichern kann.    

Wie gut ist das Kampfsystem? Die famos inszenierten Gefechte laden immer wieder zum Ausprobieren ein, denn Eis und Feuermagie, ein Zeitlupenfokus sowie spektakuläre Verwandlungen sorgen für jede Menge Abwechslung: Ihr könnt Feinde z.B. mit Frostspitzen eindecken oder sie komplett einfrieren. Ihr könnt Gegnern Seelenkraft rauben, sie verlangsamen oder komplett lähmen. Oder die Gestalt einer riesigen Kröte annehmen, um mit eurer peitschenden Zunge alle Getroffenen zu vergiften. Später könnt ihr sogar als riesiger Golem mit zwei Äxten alles kurz und klein hacken.

Kampf im Blick

Meister Kang ist der Experte für Explosionen, Fluggeräte und Experimente.
Gerade die Verwandlungen sehen klasse aus. Aber können die Kämpfe auch spielerisch überzeugen? Zunächst ist man fasziniert vom einfach zu bedienenden, aber dennoch komplex anmutenden System: Ihr könnt in der Verteidigung blocken, nach rechts und links wegrollen, nach hinten über Rückwärtssalti ausweichen und sogar eine akrobatische Sprung-Pirouette über euren Gegner aufs Parkett legen - nur Konter à la Soul Calibur sind Fehlanzeige. Die akrobatischen Ausweichmanöver sind dafür sehr effektiv.

Im Angriff sind zwar keine ausufernden Beat'em Up-Kombinationen möglich, aber neben einfachen Hieben sowie Zwei- und Dreifachschlägen gibt es schwere und Chi-Attacken sowie Rundumschläge. Und wer seinen Gegner sofort töten will, muss eine harmonische Kombo einleiten und diese erfolgreich abschließen. Gestorbene hinterlassen ab und zu Energie in drei möglichen Farben, die sofort euren Körper, den Geist oder die Seele heilen können.

Ich war im Vorfeld sehr skeptisch, ob ein Rollenspiel mit fernöstlichen Echtzeit-Kämpfen nicht in eine hektische Actionorgie ausarten würde. Aber Bioware hat das Buttonmasher-Gespenst mit zwei Sicherungen verjagt: Erstens sind die Kämpfe nicht über blindes Draufhauen zu meistern, sondern verlangen immer eine Taktik nach dem Schere-Stein-Papier-Prinzip: Blockt euer Gegner, hilft nur ein schwerer Schlag; bereitet er eine schwere Attacke vor, könnt ihr sie mit einfachen Schlägen stoppen. Hinzu kommt, dass manche Feinde gegen bestimmte Angriffstypen immun sind: Einen Geist oder Dämon könnt ihr z.B. nicht mit allen Stilen in Verlegenheit bringen. Zweitens kann man die Taktik bequem über das Digipad wechseln und jederzeit pausieren! Das sorgt dafür, dass man in aller Ruhe selbst in kritischen Situationen zwischen Nah-, Fern- und Magiestil umschalten kann.

Taktik ohne Hektik

Aber das System hat bei allem Komfort und bei aller Taktik einen gravierenden Schönheitsfehler: Die Kämpfe sind ab einem bestimmten Zeitpunkt viel zu leicht. Zu Beginn gerät man noch gehörig ins Schwitzen, wenn man z.B. von mehreren Gegnern umzingelt wird oder große Dämonen mit Bereichsschaden für Angst und Schrecken sorgen. Aber sobald man einen Nahkampfstil gemeistert hat oder die Verwandlung in einen Pferdedämon beherrscht, laufen selbst Arenakämpfe gegen groß

Feuermagie im Einsatz. Leider wurde die Pferdedämon-Verwandlung zu mächtig. 
angekündigte Top-Krieger wie von selbst - man kommt kaum noch in Verlegenheit. Da hilft nur eine Anhebung des Schwierigkeitsgrades, um die Spielbalance zu retten. Aber selbst dann ist man nicht auf andere Kampfstile angewiesen: Es gibt zwar erfrischend viele, aber ihre Wirkung ist so ähnlich, dass man sich auf zwei konzentrieren kann und nicht in die Breite experimentieren muss. Ob ich mit Stab oder Schwert, Feuer oder Eis attackiere, macht keinen Unterschied.

Magie schwächt Spielbalance

Vor allem der Pferdedämon ist mit seiner Feuermagie viel zu stark: Wenn man den Anführer eines Kung Fu-Klosters in drei Sekunden verbrennt oder selbst große Elefantenkrieger in null Komma nichts in Rauch aufgehen lässt, bleibt die Herausforderung auf der Strecke. Ich habe später freiwillig auf diese Verwandlung verzichtet, um die Kämpfe genießen zu können. Aber selbst mit einem reinen Nahkampfstil wie der Tigerkralle wird man kaum gefordert, denn die Gegner sind zu leicht zu durchschauen: Sie agieren immer nach Schema F, blocken viel zu lange oder sinnlos und nutzen selten Lücken in der eigenen Abwehr. Nur in der Überzahl kommt Spannung auf, wenn man gegen mehr als ein halbes Dutzend Widersacher antritt, die von Fernkämpfern unterstützt werden. Aber gerade der Nervenkitzel von Auge in Auge-Duellen fehlt. Und weil Jade Empire den Kampf dermaßen in den Vordergrund stellt, dämpft diese simple Manöver-Routine den Spielspaß. Denn wenn man selbst Bosskämpfe gegen gottgleiche Wesen kinderleicht meistert, geht selbst einem epischen Abenteuer die dramatische Luft aus.    

Auf Dauer macht sich zudem bemerkbar, dass man nur noch einen Partner mitnehmen kann - in KotOR waren es noch zwei. Das führt dazu, dass sich alles sehr stark um eure Figur dreht und dass es während eurer Erkundungen kaum Kommentare oder Sticheleien gibt. Es gibt natürlich Gespräche zwischen dem Helden und seinem Partner, aber es fehlt diese prickelnde Gruppendynamik. Ein Großteil des Star Wars-Spaßes bestand ja darin, als

Die Hand des Todes beim Pläuschchen.
Trio mit zwei Streithähnen unterwegs zu sein, die sich einen bösen Spruch nach dem anderen servierten. Diese Konflikte gibt es zwar auch in Jade Empire, aber viel seltener. Nur, wenn man als Duett zum Lager zurückkehrt, mischen sich die anderen Charaktere ein, so dass endlich hitzige Debatten über das weitere Vorgehen aufkeimen.

Abgespeckte Party

Außerdem hat BioWare das Party-Management komplett gestrichen: Ihr könnt euch lediglich aussuchen, wen ihr mitnehmen wollt und ob euer Mitstreiter aktiv kämpft oder euch passiv meditierend mit Energie versorgt. Aber ihr dürft sie weder manuell aufsteigen lassen noch gezielt ausrüsten oder auf eine Kampftaktik wie Magie, offensiv oder defensiv einstellen. Sie bleiben das ganze Spiel über auf einem kämpferischen und optischen Niveau, was sie zu Mitläufern degradiert. Das erspart auf der einen Seite zwar Arbeit, beschneidet aber eure Eingriffsmöglichkeiten. Jade Empire lässt euch viel weniger mit den Charakteren herumexperimentieren als KotOR und eröffnet euch erst ganz zum Schluss die Möglichkeit, kurz in die Haut eurer Begleiter zu schlüpfen.

Schade ist auch, dass es weder Kleidung noch Rüstung oder ausgiebig Waffen gibt, die euer Inventar füllen würden. Schwert und Stab können nur durch bessere Varianten ersetzt werden. Man findet in Jade Empire lediglich Silbermünzen und magische Juwelen, die wiederum nur die Werte und Fähigkeiten eures Charakters verbessern. Der Vorteil ist, dass es kein lästiges Item-Management mehr gibt. Der Nachteil ist, dass der Held über das gesamte Abenteuer gleich aussieht und dass man dem Spieler das beliebte Wühlen in Rucksäcken raubt, das die vielen Juwelen mit ihren Vor- und Nachteilen nur ansatzweise ersetzen können.

Noch ein letztes Wort zur Unterhaltung abseits der Dialoge und Kämpfe: die Minispiele. Ich war angenehm überrascht von

Edle Kleidung, pompöse Bauten: Eine Promenade in der Kaiserstadt.
den Arcade-Shooter-Passagen, in denen ihr in vertikal scrollender Manier mit eurem Flieger alle möglichen Feindformationen abfeuert. Ihr könnt sogar Schilde, Bomben und Raketen aktivieren und euren Flieger weiter aufrüsten. Wer keine Lust auf das arcadige Shoot'em Up hat, kann auch direkt fliehen.

Gute Minispiele?

Dieses Actionelement hat jede Mange Spaß gemacht. Aber was gibt`s sonst noch? Erschreckend wenig. In der Hauptstadt könnt ihr noch ein billiges Würfelspiel ausprobieren, in dem ihr Silber darauf wettet, ob ihr ein höheres oder niedrigeres Ergebnis erzielt als euer Kontrahent. Im Vergleich zu den Rennen und vor allem dem süchtig machenden Kartenspiel in KotOR ist das fast schon armselig. Gerade das asiatische Szenario hätte doch einen abgewandelten Strategieklassiker à la Go aufgedrängt? Und an einer Stelle beobachtet man sogar zwei Spieler, die sich konzentriert über ein Brettspiel beugen. Der eine folgt dem Weg der geschlossenen Faust, die andere dem der offenen Hand. Hier habe ich die ganze Zeit über auf ein Minispiel gehofft. Aber so vielschichtig, pompös und spannend Jade Empire auch ist: es erfüllt einfach nicht alle Erwartungen.     

Fazit

Zündet die Räucherstäbchen an, setzt den grünen Tee auf: Jade Empire entführt euch in eine exotische Welt voller Geister und Dämonen, Kampf und Weisheit. Bioware lüftet die Vorhänge zu einem fernöstlichen Martial Arts-Drama, das optisch, akustisch und erzählerisch auf hohem Niveau unterhält. Die Kämpfe sehen klasse aus, die Dialoge sind lesenswert und die Charaktere wirken ebenso glaubwürdig wie die Spielwelt. Jade Empire hat vor allem in der Präsentation verdammt viele starke Seiten, die es zu einem richtig guten Abenteuer machen. Aber es gibt klare Schwachstellen, die der Pracht letztlich nicht nur den Platin-, sondern auch den Gold-Glanz rauben: Es sind nicht die kleinen Ruckler oder die unverständlichen Grafikfehler. Auch nicht das fehlende Kleidungs- und Rüstungsgestöber, die wenigen Minispiele oder die vielen Ähnlichkeiten zu Star Wars: Knights of the Old Republic. Nein, es sind elementare Probleme in der Kampfbalance, es ist die Gleichmacherei in der Charakterentwicklung und es ist das karge Party-Management, das dem erhofften Blockbuster den Weg in Hitregionen versperrt. Wo bleibt der Nervenkitzel, wenn man ab der Mitte des Spiels selbst riesige Monster in drei Sekunden aus dem Weg räumt? Warum soll ich noch mal den Helden mimen, wenn sich alle Figuren gleich spielen? Warum ist die Wahl meiner Gefährten so belanglos? Am Ende ergibt sich nicht das berauschende harmonische Ganze, das ich von den Kanadiern erwartet habe. An entscheidenden Stellen fehlt es an Spieltiefe, Variation und Herausforderung. Trotzdem solltet ihr das Ticket nach Fernost buchen, denn das Finale ist dramatisch und der Weg dorthin ausgesprochen angenehm.

Pro

  • epische Story
  • sehr gute Dialoge
  • dramatisches Finale
  • interessante Quests
  • sehr gute Steuerung
  • geniales Figurendesign
  • nicht-lineare Aufträge
  • klasse Mimik & Gestik
  • hervorragende Sprecher
  • glaubwürdige Spielwelt
  • kaum Frusterlebnisse
  • unverbrauchtes Szenario
  • sehr viele coole Kampfstile
  • klasse deutsche Lokalisierung
  • jederzeit speicher- & pausierbar
  • bezaubernde asiatische Kulisse
  • taktisches Echtzeit-Kampfsystem
  • interessante Rätsel & Rededuelle

Kontra

  • einige Ruckler
  • viele Ladezeiten
  • enges Levelkorsett
  • altbekanntes Moralsystem
  • Story wird schnell enthüllt
  • Dämonengestalt zu mächtig
  • fade Texturen in der Weitsicht
  • keine Kleidung, keine Rüstung
  • böse Grafikfehler bei Verwandlungen
  • alle Charaktere spielen sich gleich
  • magere Mini-Spielauswahl
  • kaum Party-Management, weniger Party-Leben
  • Bosskämpfe ohne Herausforderung

Wertung

XBox