Saints Row (2006) - Test, Action-Adventure, 360, PlayStation3

Saints Row (2006)
07.09.2006, Mathias Oertel

Test: Saints Row (2006)

Kopie. Plagiat. Klon. Unschöne Worte, die im Videospielebereich meist kennzeichnen, dass man mit dem vorliegenden Projekt unzufrieden war – und "nur", weil es sich zu sehr an einen erfolgreichen Titel anlehnt und dessen Mechaniken aufarbeitet. Wie ein erfolgreiches Ideen-Recycling auszusehen hat, zeigt euch Volitions Saint’s Row. Kommt mit uns nach Stilwater, eine Stadt direkt auf dem Weg von Liberty City nach Vice City…

Geneigter Leser, bevor wir auch nur einen Schritt gemeinsam in die Gangsta-Welt von Stilwater wagen, lasst uns eine Kleinigkeit aus dem Wege räumen. Ja: Saint's Row orientiert sich nicht unwesentlich an Rockstars GTA-Serie und von Zeit zu Zeit wird im folgenden Text sicherlich der eine oder andere Vergleich stattfinden. Trotzdem oder gerade deshalb will ich nicht immer wieder "das kenn ich schon, das ist öde und langweilig" oder "machen die auch was Eigenständiges?" hören. Lasst uns unvoreingenommen und vorurteilsfrei den Abstecher in die Stadt des Verbrechens wagen, in der Sünder wie wir gerne gesehen sind und mit offenen Armen aufgenommen werden.

Willkommen

Die Explosionen gehören zu den optischen Highlights in Saint's Row und werden einfach nicht langweilig!!
Der Weg nach Stilwater

"Wie komme ich bitte nach Stilwater?" Diese Frage ist relativ leicht zu beantworten: Wenn ihr von Liberty City nach Vice City unterwegs seid, folgt einfach der Route 360 und biegt nach etwa der Hälfte der Strecke rechts ab. Dann solltet ihr bereits die ersten Ausläufer der Großstadt sehen können.

Überhaupt werden häufige Besucher der Städte unter Rockstar-Führung zahlreiche Gemeinsamkeiten ausmachen, die anfänglich den Eindruck erwecken, das Team von Volition hätte nicht für die Kalifornier von THQ, sondern für die Rocker aus New York diese erhebende, aber dennoch von Gangs, Verbrechen und Korruption geprägte Metropole aus dem Boden gestampft.

Doch bevor ihr euch auf die Jagd nach Ruhm, Respekt und fetter Kohle machen dürft und ein vollwertiges Mitglied der Stilwater Saints werdet, müsst ihr erst einmal das Aussehen eures Alter Egos festlegen, das leider in jedem Fall männlich sein muss. Es gibt zwar auch weibliche Mitglieder bei den Saints, doch als Hauptfigur scheint Volition dem Klischee vom schwachen Geschlecht verhaftet zu sein und offeriert nur gestandene Männer. Die dafür allerdings in verschiedenen ethnischen Voreinstellungen sowie im umfangreichen Editor frei nach eigenem Gusto zusammenstellbar.

Und schon seit ihr mittendrin im Trubel: Eher per Zufall geratet ihr in die Schusslinie zweier Gangs und kurz bevor euch eine Kugel mit eurem Namen begegnet, werdet ihr von Julius, dem Anführer der Saints gerettet und angeheuert. Von jetzt an liegt es an euch: Erarbeitet euch Respekt, macht die anderen Gangs fertig, holt euch Stilwater...

Muss es zwangsläufig schlecht sein, wenn man sich an Referenz-Titeln orientiert und diese nachahmt? Die Antwort lautet ganz klar: Nein! Wenn allerdings die Umsetzung eher mau ist, wie bei vielen Titeln der letzten Monate, die auf das Prinzip der "offenen Welt" bauten, das von den GTA-Spielen geprägt wurde, ist man bei einem weiteren Spiel, das Ähnlichkeiten offenbart, natürlich doppelt skeptisch.

Bekannte Mechanismen

Aber glücklicherweise ereilt Saint's Row nicht das gleiche Schicksal wie z.B. True Crime NYC. Denn so sehr die Action in Stilwater auch in vielerlei Hinsicht an die Ausflüge in Liberty City bzw. Vice City erinnert, so sehr unterscheidet es sich im Detail und zeigt sinnvolle Verbesserungen - vor allem hinsichtlich des Bedienkomforts.

Stilwater begrüßt euch mit offenen Armen: Das Erscheinungsbild ist schön, aber wie hier nicht immer ansehnlich...
Konform-Gangster?

Als Gerüst hält man an ebenso bewährten wie bekannten Mechniken fest und setzt diese grundsolide um: Ihr seid zu Fuß oder in einem von zahlreichen fahrbaren Untersätzen in Stilwater unterwegs, um entweder Primär-Aufträge zu erfüllen, Nebenmission zu erledigen oder gegnerische Gangs aus dem Wege zu räumen - Mischformen inklusive.

Ziel ist es letztlich, alle Gebiete Stilwaters für die 3rd Street Saints zu annektieren und so die Herrschaft eurer Gang sowie eure Finanzmittel auszudehnen. Dies erreicht ihr, indem ihr dem Haupterzählstrang folgt und in relativ freier Wahl die Missionen erledigt, die direkt mit den rivalisierenden Gruppen verbunden sind. So weit, so gut, so GTA - oder zumindest nicht weit davon entfernt.

           

Denn spätestens hier kommt ein erfrischendes Element hinzu, das insgesamt zwar nicht neu ist, aber hier nahezu perfekt eingesetzt wird: Respekt. Denn nur wenn ihr genügend Respekt angesammelt habt, wird euch der Zugang zur nächsten Story-Mission gewährt. Aufgefüllt werden kann die entsprechende Leiste durch mehrere Aktionen, so z.B. durch das Eliminieren gegnerischer Bandenmitglieder. Schneller und vor allem mit höheren Finanzspritzen verbunden geht es allerdings mit den als durchweg unterhaltsamen Minigames getarnten Aktivitäten, die ihr überall finden könnt.

Hollywood lässt grüßen: Stilwater ist prallvoll mit gut inszenierter Action!
Darunter findet ihr z.B. das Abschleppen von Prostituierten, um sie eurem Stall zuzuführen, die üblichen Bodyguard-Dienste für Drogendealer oder aber auch der Escortservice, bei dem ihr mit einer Limousine durch die Stadt rast, in der sich irgendwelche prominenten Freier bedienen lassen und ihr versuchen müsst, die euch stets auf den Fersen haftenden Papparazi auf Abstand zu halten.

Absolutes Highlight in dieser Beziehung ist aber zweifelsfrei der Versicherungsbetrug: Ihr kennt doch sicherlich die horrend scheinenden Gerichtsfälle, bei denen das Opfer eines Verkehrsunfalls Millionen ausgeschüttet bekommt, obwohl vielleicht nur ein künstlicher Fingernagel abgebrochen ist? In Zusammenarbeit mit einem skrupellosen Arzt findet ihr auf den Straßen Stilwaters das virtuelle Gegenstück: An stark befahrenen Kreuzungen müsst ihr vor den heranrasenden Verkehr springen und so die einzuklagende Versicherungssumme hochtreiben. Dank akkurater Havok-Physik werdet ihr wie ein Flummi von den Autos gerammt, wegkatapultiert und im besten Fall in ein weiteres Vehikel geschleudert, um den Multiplikator nach oben zu schrauben! Politisch inkorrekt? Sicher! Leicht anarchistisch? Auf jeden Fall! Und eine absolute Unterhaltungsgarantie!

Nehmen wir z.B. die auch aus GTA bekannten Fahrzeuglisten, die ihr für einen Dealer zusammenklauen müsst. Vorbei sind die Zeiten, in denen man die ganze Stadt nach einer Karre abgesucht hat und sich nur auf seine Auffassungsgabe und ggf. sogar etwas Glück verlassen musste, um das Objekt der Begierde zu finden. In Stilwater könnt ihr euch auf dem Radar anzeigen lassen, wenn ein Auto in eurer Umgebung ist, das euch beim Händler gutes Geld einbringt.

Dabei konnte sogar meine anfängliche Skepsis zerstreut werden, dass man in eine Trittmühle aus Mission, Jagd nach Respekt, Mission, wieder Jagd nach Respekt usw. hinein gerät.

Design-Verbesserungen 

Überhaupt muss man sagen, dass sich Volition sehr gut die Referenzen angeschaut hat, um nicht nur gut funktionierende Spielelemente zu übernehmen, sondern auch wichtige und in manchen Fällen sogar störende Details zu optimieren.

Carjacking gibt es natürlich auch - aber leider keine Boote oder flugfähige Vehikel...
Wobei man sowieso sagen muss, dass das "Halo"-System (Energie füllt sich nach einiger Zeit ohne gegnerische Einwirkung auf) auch hier greift und den insgesamt extrem hohen Spielfluss ebenso unterstützt wie die vielen kleinen Verbesserungen, die man hier und da im Detail finden kann.

Auch die Zielführung zur nächsten Mission bzw. einem frei von euch festgelegten Wegpunkt funktioniert nahezu perfekt und ich möchte so ein Feature auch im nächsten GTA-Spiel wieder finden.

Oder nehmen wir dieses kleine Gimmick: Ihr ruft von eurem Mobiltelefon die Notrufnummer 911 und eine Ambulanz eilt zu eurer Hilfe, um eure möglicherweise verloren gegangene Lebensenergie wieder aufzufüllen.

Wesentlich störender ist da schon das horizontale Nachziehen des Bildes (Tearing), das sich durch nahezu alle Bereiche des Spieles zieht: Egal ob bei den sehr gut gelungenen Story-Sequenzen in Spielgrafik, die mit ausgefeilten Gesichtsanimationen überzeugen, ob bei den Husarenritten in Fahrzeugen oder beim Flanieren durch die Stadt: Fast immer zieht irgendwo irgendetwas nach und nervt auf Dauer. 

Technisch von ok bis exzellent



Aber Volition hat nicht nur die Vorzüge der GTA-Serie implementiert - auch einige der Nachteile, meist mit Technik zusammenhängenden Eigenschaften, sind auf den Straßen Stilwaters zu finden.

So ist die Sichtweite zwar angenehm hoch - doch dank dieser Tatsache sieht man immer wieder Texturen aufploppen, was zwar auf Dauer nicht stört, aber bei einem NextGen-Titel dennoch befremdlich erscheint.

       

Dem gegenüber stehen eine umfangreiche Animationsbibliothek, die zusammen mit Havok-Physik für eine lebensnahe Bewegungsdarstellung sowie Kollisionsabfrage nahezu aller Figuren sorgt. Nicht zu vergessen die imposanten Explosionen, die vor allem beim Hochjagen von Autos für Freude auf der Netzhaut sorgen und die auch nach dem Hundertsten Mal immer noch ein Hingucker sind.

Ebenfalls gratulieren kann man den Designern der verschiedenen Stadtteile: Industrieviertel, Geschäftsbezirke, Slums oder auch Stilwaters Chinatown-Variante - egal wo man hinschaut, findet man kennzeichnende Merkmale, die einem eine lebendige Stadt suggerieren. Abgerundet wird der Atmosphäre-Kuchen durch ein unabhängiges Wettersystem, bei dem nur Schnee vergeblich gesucht wird.

Die Kirche der 3rd Street Saints ist einer der zahlreichen Orte, an die ihr euch zurückziehen könnt.
Konservative Altlasten

So sehr es Volition auch geschafft hat, den Gangsta-Ausflug mit schmackhaften Detail-Verbesserungen zu versehen, so sehr enttäuscht das Team in mancher Hinsicht. Nehmen wir z.B. die KI, die es nicht wirklich wert ist, den Titel "Intelligenz der nächsten Generation" zu tragen. Es sei denn, die nächste Generation stellt sich bei der PISA-Studie ähnlich peinlich an wie bei der letzten. Sicher: Auch GTA ist nicht gerade ein Beispiel für intelligente Angriffsroutinen. Aber gerade in diesem Bereich hätte ich mir mehr Fortschritt gewünscht. Stattdessen bekomme ich eine faire, aber auch immer leicht vorhersehbare KI, deren fortgeschrittenere Version bei Bosskämpfen sich nur durch eine höhere Zielgenauigkeit und einem häufigeren Versuch äußert, die Deckung zu nutzen.

Dummerweise betreffen die KI-Macken auch hin und wieder die eigenen Mannen, die entweder mit euch mitlaufen oder die es in manchen Missionen zu schützten gilt. Und gerade hier sorgt künstliche Dummheit immer wieder für Falten auf der Stirn: So z.B. wenn euer Kumpel in einem geklauten Laster sitzt und sich entschlossen hat, vor der nächsten Hauswand zu parken, während die Gegner ihm das Führerhaus samt Insassen zu zerschießen, was natürlich das Ergebnis "Mission gescheitert" zur Folge hat.

Auch die im Vergleich zu den direkten Vorbildern vergleichsweise schmale Bandbreite an Fahrzeugen, bei denen z.B. Boote und flugfähige Vehikel vollkommen fehlen, stößt etwas sauer auf. Eine kleine Entschädigung dafür findet man nur im Detail: Die integrierten Fahrzeuge gibt es in einem ganzen Haufen von Zustandsformen, so dass euch die hoch getunte Version eines Sportwagens genauso begegnen kann wie eine Variante, die sich auf ihrer letzten Fahrt befindet. Das sorgt für ein Quäntchen Atmosphäre und zeigt Liebe zum Detail, kann aber das Fehlen von Flugzeugen, Helikoptern (die von NPCs geflogen werden können) oder Booten nicht aufwiegen.

Die akustische Seite Stilwaters hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite haben wir gelungene Sprachausgabe (u.a. von Michael Clarke Duncan), die den Charakteren glaubwürdige Tiefe verleiht. Auch die ballistischen Effekte sowie das sonore Dröhnen der Auto-Motoren können sich hören lassen.

Aber: Nur weil der Soundtrack satte 120 Songs bietet und wie bei der GTA-Serie auf Radiostationen verteilt ist, heißt das noch lange nicht, dass unter dem Strich das Ergebnis identisch ist. Denn dafür wirkt die Musikauswahl, die von Rock bis Klassik nahezu alles abgreift, zu beliebig und austauschbar. Sie ist einfach da, ohne wie z.B. bei Vice City ein essenzieller Bestandteil der Gesamtatmosphäre zu sein.

Haben wir schon erwähnt, dass man sich an den Explosionen nicht satt sehen kann?
Gangsta-Kriege

Gespannt waren wir natürlich auch ob der schmackhaft scheinenden Mehrspieler-Modi. Diese bleiben zwar letztendlich mit ihrer auf wenige Modi beschränkten Auswahl sowie der Beschränkung auf maximal zwölf Spieler etwas hinter den Erwartungen zurück und tragen letztlich nicht dazu bei, das Spiel unter dem Strich aufzuwerten, doch eine nette Ergänzung sind sie allemal.

Neben den Deathmatch-Varianten Gangsta Brawl und Big-Ass Chains, die Instant-Action mit nur wenig Tiefgang, aber viel Explosionskraft bieten, zeigen Protect-The-Pimp und der Blinged-Out-Ride strategische Ansätze, erweisen sich aber auch nicht als die absoluten Heilsbringer. Ebenso wenig wie der Co-Op-Modus, der inhaltlich leider vom Offline-Spiel losgelöst ist und auch nur über Xbox Live gespielt werden kann.

Allerdings ist man als deutscher Spieler limitiert: Man kann nur Verbindungen zu weiteren deutschen Spielern aufbauen, da Saints Row hierzulande in wenigen für das Spiel irrelevanten Punkten verändert wurde. Der große Vergleich mit Gangs aus aller Welt bleibt aus, was die Motivation etwas nach unten drückt.          

Fazit

Ja: Volition hat sich in mehr als einem Punkt im großen weiten GTA-Universum bedient. Und auch wenn es dem Nachahmer nicht vollends gelingt, aus dem Schatten des großen Idols zu treten, liefert der Ausflug nach Stilwater einen unterhaltsamen und gelungenen Vorgeschmack, welches Potenzial die so genannten "Open World"-Spiele im Zusammenspiel mit NextGen-Systemen bieten. Das bekannte Spielprinzip wurde an den genau richtigen Stellen aufgebohrt, kleine Details ergänzt und zu einem actionlastigen Gangsta-Ausflug vermischt, der durchweg gute Unterhaltung bietet. Und letztlich ist das knappe Verpassen des Awards in erster Linie auch nicht grundlegenden spielerischen Defiziten zuzuschreiben, sondern eher dem draufgestülpt scheinenden Online-Modus sowie technischen Patzern, die man auf einer Konsole der nächsten Generation so nicht erwartet hätte. Trotzdem: Wer Liberty City aus dem Effeff kennt, Vice City sein zweites Zuhause nennt und San Andreas nicht für die texanische Hauptstadt hält, findet in Stilwater nicht nur ein neues Heim, sondern auch den Beweis, dass durchdachtes Übernehmen von Spielprinzipien nicht zwangsläufig schlecht sein muss. Wenn ein Spiel, das auf den ersten Blick als dreiste Kopie erscheint, letztlich Mechaniken und Eigenheiten offenbart, die man sich im offensichtlichen Vorbild auch wünschen würde, hat es viel richtig gemacht. Und in jedem Fall einen deutlichen Schritt Richtung Unabhängigkeit durchgeführt. Danke Volition! Auf dass der Nachfolger noch eine Schippe drauf legt… 

Pro

  • gute Steuerung
  • beeindruckende Explosionen
  • weitreichende Charakter-Erstellung
  • spannende Gang-Kriege
  • extreme Weitsicht
  • abwechslungsreiche und unterhaltsame Nebenmissionen
  • diverse benutzerfreundliche Hilfen
  • viele Personalisierungsmöglichkeiten
  • Mehrspieleranbindung für bis zu zwölf Gangster
  • gute Sprachausgabe
  • große lebendige Spielwelt
  • Fahrzeug-Tuning

Kontra

  • keine fliegenden Vehikel oder Boote
  • heftiges Tearing
  • KI-Probleme
  • Aufpoppen von Häusern und Fahrzeugen
  • umfangreicher, aber wenig beeindruckender Musiksoundtrack
  • technische Unzulänglichkeiten
  • Xbox Live-Potenzial nicht ausgenutzt

Wertung

360