Crysis - Test, Shooter, 360, PC, PlayStation3
Pressetexte sind oftmals Grund zur Erheiterung, meist hinsichtlich befremdlicher Verdrehungen der Realität. Die Anpreisung von Crysis sorgt vor allem beim Punkt »Epische Story« für erfreutes Gackern, denn die
Geschichte um einen Trupp Superanzug-Träger, die in naher Zukunft in Nordkorea ein entführtes Wissenschaftler-Team suchen und auf Frostaliens treffen, wäre vermutlich selbst Uwe Boll zu flach. Aber egal, die deutsche Sprachausgabe ist gut, die Echtzeit-Cutscenes sind direkt in die Spielegrafik integriert, und ganz ehrlich: Die Story spielt hier nur die fünfte Geige, keiner dürfte Crysis mit der Hoffnung im Hinterkopf starten, einen Roman von Dostojewski spielen zu dürfen.Alien Trek
Genau genommen dürfte der erste Gedanke während der ausufernd langen Installation etwas in der Art von »Muss ich für mehrere Wochen auf Essen verzichten, um meinen Rechner aufzurüsten?« sein. Denn von Crytek erwartet man nicht weniger als den gegenwärtig bestaussehendsten Shooter. Habt ihr ein Quadcore-SLI-Schlagmichtot-Monster mit möglichst viel RAM zu Hause stehen, dann bekommt ihr den auch: Der Dschungel ist dicht, der Dschungel ist bewaldet, der Dschungel ist so dschungelig, wie es auf einem Computer derzeit machbar ist! Schmetterlinge und Blätter schwirren umher, Gras und Bäume schwanken im Wind und bei Berührung, Buschwerk verbiegt sich beim Durchlaufen, Sonnenstrahlen kitzeln durch dichte Baumkronen hindurch. Der Boden ist praktisch nie eben, tausende dreidimensionale Kiesel sorgen an einem Berghang für beeindruckende
Struktur. Die Weitsicht! Die brachialen Explosionen! Die lauschigen Postkartenmotive! Die wahnwitzig hoch aufgelösten Texturen! Die zum großen Teil zerlegbare Umgebung! Der Tageslichtverlauf inkl. des fantastischen Schattenwurfs! Spektakulär, beeindruckend, verdammt beeindruckend sogar! Ihr habt einen eher normalen Rechner, der schon bei mittlerer Detailstufe zu ächzen beginnt? Dann bleibt nur noch beeindruckend. Besonders ärgerlich: In Far Cry gab es diesen AHAAAAAA!-Moment, als man nach einigem Gekrauche in der Höhle endlich an die frische Luft kam, und die damals beste Grafik bestaunen durfte. Dieser Zeitpunkt kommt in Crysis erst spät, denn die aus der Demo bekannte erste Mission startet nachts. Und da ist auch die beste Grafik einfach nur dunkel.Frühere Shooter setzten in Sachen Extras auf kleine Helferlein: Heilpäckchen hier, Quad-Damage da - schon seit einer Weile ein dezent veraltetes Konzept. Crysis verzichtet völlig darauf, und folgt dem seit Call of Duty 2 bekannten Selbstheilungs-Prinzip - seid ihr verwundet, müsst ihr euch nur kurz zurückziehen und abwarten, danach geht's voller Tatendrang und noch vollerer Energieleiste weiter. Interessanter wird's mit dem Nano-Anzug, der aussieht, als würdet ihr viele Aale gleichzeitig tragen: Dieses praktische Teil bietet fünf Sonderfunktionen, die aus Otto-Standard-Agent einen Teufelskerl machen! Schaltet ihr auf »Maximale Stärke«,
wie die wahlweise männliche oder weibliche Computerstimme knarrend verkündet, dann könnt ihr höher springen als der 6 Millionen Dollar-Mann und Gegenstände sehr weit und sehr kraftvoll werfen - Steine, Kisten, Häuserteile, Hühner oder bedauernswerte Gegner. Aktiviert ihr die »Maximale Panzerung«, seid ihr stabiler als Iron Man, einschlagende Kugeln zeigen weniger Wirkung. Mit der Tarnung verschwindet ihr für kurze Zeit von jedem Radar und aus jedem Augenwinkel - nützlich für das unbemerkte Heranschleichen (allerdings ist's mit der Unsichtbarkeit vorbei, sobald ihr einen Schuss abgebt) oder die schnelle Flucht. Die wird von »Maximaler Geschwindigkeit« noch weiter beflügelt, allerdings nur kurz: Dieser Modus lutscht die begrenzte Nano-Energie wahnwitzig schnell leer - die regeneriert sich allerdings nach wenigen Sekunden selbständig.Ich sehe was, was du nicht siehst
Der Feind im Busch
Rigor mortis 2.0
Die Aufträge sind mäßig kreativ und sollten Shooter-Fans bekannt vorkommen: Geiseln befreien, Störsender deaktivieren, ein paar Mal zu oft Flugabwehrgeschütze zerballern, bestimmte Punkte erreichen, ein Ziel per Fernstecher für Luftschlag markieren - been there, done that. Crysis ist der an sich offenen Welt zum Trotz weitaus linearer als der Vorgänger: Ihr werdet von Missionsziel zu Missionsziel geschleust, links und rechts davon warten bestenfalls gelegentlich Sekundäraufträge, sonst leider gar nichts. Zwar habt ihr auch hier die Freiheit, euch auf fast beliebigen Pfaden einem Auftrag zu nähern, aber meist ist »Freiheit« nur ein anderer Ausdruck für »umständlich« - es gibt immer genau einen idealen (oder gar möglichen) Weg, von A nach B zu kommen. Die anderen kann man zwar nehmen, aber die sind entweder fummeliger oder länger.
Meist beides, was inkonsequent wirkt: Entweder lässt man dem Spieler die freie Wahl mit allen Konsequenzen (wie bei STALKER) oder man nimmt ihn an die straff geführte Leine (wie bei Call of Duty 4) - beide Varianten haben Vor- und Nachteile, Crysis hängt etwas hilflos dazwischen. Immerhin haben die Entwickler aus der Kritik am Vorgänger gelernt, und neben dem bekannten Checkpunktsystem auch eine Schnellspeichermöglichkeit integriert - die man aber tatsächlich gar nicht oft benötigt, da die Checkpunkte intelligent platziert sind. Allerdings sind mir beim Neuladen immer wieder Merkwürdigkeiten aufgefallen: Mal ist das Nachtsichtgerät deaktiviert, mal ein Panzer zerstört, der vorher nachweislich noch heil war. Und gelegentlich standen getötete Feinde wie Mannequins in der Gegend herum - eine unerwartete Variante von Totenstarre?Nicht nur spielerisch, auch erzählerisch folgt Crysis seinem Vorgänger relativ dicht: Ihr beginnt in einer Bilderbuchlandschaft, trefft eine klugschwätzende Frau und erkundet etwa ab der Spielhälfte vermehrt Höhlen - in denen dann auch bizarre Viecher (hier: Kaulquappen-Außerirdische) lauern. Gegen Ende werden aus den lauschigen Romantiktreffpunkten dann eisbedeckte Polarkappen, in denen der Atem sichtbar wird und das Anzugsdisplay immer wieder gefriert - cool! Ebenso cool, zumindest als Idee, ist der Ausflug in die Schwerelosigkeit: Das Schweben durch die fremdartigen Alien-Gänge ist anfangs faszinierend, kurz darauf unübersichtlich und nach unnötig langer Zeit durch vermehrte Gegnerattacken, die man mangels Munition hauptsächlich
mittels Fausthieben abwehren darf, ziemlich nervend. Kurz darauf, etwa nach zehn Stunden, ist Crysis auch schon vorbei, danach bleiben euch noch zwei Möglichkeiten, den Spielspaß zu strecken: Zum einen liegt dem Game erneut ein verhältnismäßig leicht zu bedienender Sandbox-Leveleditor bei, mit dem ihr eigene Inselparadiese erschaffen dürft. Zum anderen wäre da der Mehrspielermodus für bis zu 32 Anzugträger - via LAN oder Internet könnt ihr entweder auf »Instant Action« drücken und das Beste hoffen, oder etwas tiefer ins Detail gehen: Neben dem obligatorischen Deathmatch ist der »Power Struggle«-Modus interessant, in dem zwei Teams im Battlefield-Stil um die Kontrolle über eine Reihe militärischer Einrichtungen kämpfen. Beide Teams beginnen lediglich mit einer Pistole bewaffnet; um weitere Waffen, Fahrzeuge und Nanosuit-Extras zu erhalten, müssen Checkpunkte eingenommen und gehalten, Missionen erfüllt und logischerweise Gegner erledigt werden. Schlussendlich dreht sich dieser Modus darum, die gegnerische Basis mittels Alien- oder Nuklearwaffen einzuäschern, was gut koordiniertes Teamwork erfordert. In jeder Mehrspielervariante könnt ihr Vehikel und die Sonderfunktionen des Nanoanzugs nutzen - da die Levels ziemlich groß sind, ist das auch bitter nötig. Der Multiplayermodus funktioniert gut, läuft schnell und ist stabil, aber bietet nichts aufregend Neues. Gerade angesichts spezialisierter Mehrspielershooter wie Enemy Territory: Quake Wars, Team Fortress 2 oder Unreal Tournament 3 dürfte er es ziemlich schwer haben.Sandkasten-Spiele
Fazit
Wenn ich mich mal eben selbst aus dem Fazit des Vorgänger-Tests zitieren darf: »Far Cry erfüllt alle gesteckten Erwartungen, und geht teilweise noch weit darüber hinaus« - das werde ich hier nicht wiederholen. Der Dschungel hat fraglos noch nie besser ausgesehen: Genau wie beim Vorgänger gibt es verdammt oft Szenen, wo man den Fotoapparat zücken und der Familie ein paar Postkarten davon schicken möchte - aber irgendwann hat man sich ausgestaunt und wünscht sich etwas Abwechslung im Blätterwald. Nichtsdestotrotz ist die Präsentation ohne jeden Zweifel über jeden Zweifel erhaben, der Nanoanzug sorgt für abwechslungsreiche, rasante Gefechte, die Gegner sind in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte Herausforderung. Die Inszenierung hingegen ist nur Durchschnitt: Der Einstieg ist blass, die Story eine belanglose Mischung aus Predator und Independence Day, der rote Faden schimmert kaum erkennbar - also alles wie gehabt, was aus Crysis im Grunde ein verschönertes Far Cry macht. Allerdings hat sich das Genre in den letzten dreieinhalb Jahren spielerisch und vor allem erzählerisch weiter entwickelt, Spiele wie Call of Duty 4 zeigen überdeutlich, wie wichtig eine konsequente Regie bei der Inszenierung eines Games ist, das nicht nur heiße Action liefert, sondern den Spieler wirklich packt und in der Welt versinken lässt. Crysis verlässt sich auf bewährte, aber teilweise veraltete Zutaten - die ergeben unterm Strich immer noch ein verdammt gutes, spaßiges, krachendes Actiongame, aber leider nicht den erhofften Ausnahmetitel.
Pro
- <P>
- spektakuläre Grafik
- taktische Nutzung der Anzug-Spezialkräfte
- fette Explosionen
- halbwegs offenes Leveldesign
- clevere Gegner
- größtenteils coole Physiknutzung
- druckvolle Soundkulisse
- gute deutsche Sprachausgabe
- einfache Vehikel-Steuerung
- spannende Gefechte</P>
Kontra
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- höllische Hardwareanforderungen (für volle Details)
- laaaaaaaaaaaange Ladezeiten
- umständliches Munitionssammeln
- fummelige Spezialkräfte-Auswahl
- absurd stabile Standard-Gegner</P>