Arcanum - Test, Rollenspiel, PC

Arcanum
27.08.2001, Jörg Luibl

Test: Arcanum

Nach langjähriger Entwicklungszeit präsentieren die ehemaligen Fallout-Macher von Troika Games endlich ihr spätsommerliches Rollenspiel-Spektakel. Wir haben für Euch hinter den etwas angestaubten Vorhang von Arcanum (ab 47,00€ bei kaufen) geblickt, und verraten Euch, ob sich die Zeitreise in eine von Magie und Technik zerrissene Welt lohnt: Drachen oder Dampfmaschinen? Feuerball oder Dynamit? Ob auch wir hin- und hergerissen sind, erfahrt Ihr in unserem Test!

Da sitzt man gerade gemütlich in einem Luxus-Zeppelin und schlürft genüsslich seinen Tee. Aber plötzlich lassen lautes Rotor-Dröhnen und das Stakkato von Maschinengewehren die ersten hysterischen Schreie aufkommen: Ein Schwarm Doppeldecker greift an! Die Ork-Piloten gehen selbstmörderisch zur Sache und feuern gnadenlos auf das Luftschiff, bis es hilflos Richtung Boden trudelt. Der Aufprall fordert seinen Tribut: Alle Passagiere sind tot - nur Ihr überlebt. Ein älterer Gnom kann Euch zwar noch einen seltsamen Ring überreichen, mit der Bitte, das Familienstück seinem "Jungen" zu überbringen, aber auch er erliegt seinen Verletzungen. Und um die Katastrophe perfekt zu machen, kniet plötzlich ein armer Irrer vor Euch, der behauptet, Ihr seid der "Auserwählte"...

Story

Das Charaktererschaffungs- und Entwicklungssystem Arcanums gehört zum Besten, was das Genre zu bieten hat: Das beginnt schon bei der Wahl der ausführlich im Handbuch dokumentierten Rassen. Denn neben Menschen, Zwergen und Elfen gibt`s Halb-Elfen, Halblinge, Gnome, Halb-Orks und riesenhafte, aber sanftmütige Halb-Oger. Hinzu kommen acht Charakterwerte wie Stärke, Intelligenz oder Geschicklichkeit, 16 Fähigkeiten wie Schlösser knacken oder Fallen entschärfen und dazu eine reiche Palette von 80 Zaubersprüchen und 56 technologischen Diplomen.

Charaktererschaffung de luxe

Anhänger der arkanen Künste können sich u.a. in den Bereichen der Nekromantie, der Elemente oder der Beschwörung tummeln, während sich technisch begabte Naturen u.a. mit Chemie, Elektrizität oder Mechanik anfreunden werden. Aber nicht nur diese beeindruckende Vielfalt, sondern vor allem die völlige Freiheit der Verteilung und die direkte Auswirkung etwaiger Erhöhungen zeichnen dieses System aus.

Die Qual der Wahl wird jeden Level-Aufstieg kennzeichnen, denn die Punkte können sowohl auf Charakterwerte, Fähigkeiten als auch Technik oder Zauber verteilt werden: Erhöht Ihr das Charisma, stehen Euch mehr Begleiter zur Verfügung; erhöht Ihr die Intelligenz, könnt Ihr mehr Gegenstände herstellen; erwerbt Ihr das erste Sprengstoff-Diplom können Molotow-Cocktails gemixt werden; wählt Ihr den Pfad der Herbeizauberung dürft Ihr Gegner mit Insektenschwärmen plagen. Und sollten Einsteiger (oder Profis) aufgrund dieser Vielfalt Entscheidungsprobleme bekommen, hilft die automatisierte Punkteverteilung.

Revolverheld oder Zauberer?

Ihr habt also die absolute Freiheit und werdet nicht von Klassen- oder Berufszweigen beschränkt. Dabei reichen die Extreme von absolut magisch oder technologisch begabten bis hin zu absolut böse oder gut spielenden Figuren. Dadurch werden Langzeitmotivation und Wiederspielwert von Arcanum gesichert, denn je nach Gameplay entfaltet sich die Welt aus einer anderen Perspektive. Nachvollziehen könnt Ihr Euren Standpunkt zwischen diesen Extremen immer anhand zweier Statusanzeigen.

Arcanum spielt sich je nach Wahl des Charakters immer anders, denn die bunte Gesellschaft der NPCs reagiert auf Aussehen, Moral, Beruf und Herkunft. Habt Ihr zu viele Einbrüche oder gar Morde auf dem Buckel, werden Euch ehrenhafte NPCs nicht begleiten - das Gleiche gilt für Animositäten hinsichtlich Eures Aussehens oder der Herkunft: Als Halb-Ork werdet Ihr es in der Technikstadt Tarant schwer haben, denn die arbeiten meist extrem unterbezahlt in rauchenden Fabriken. Und wenn Ihr Eure Gruppe verstärken wollt, werdet Ihr bemerken, dass so mancher stolze Krieger erst mit Euch zieht, wenn Ihr mit ein paar guten Taten Euer Moral-Konto verbessert habt.

Freund oder Feind?

Die Party-Mitglieder reagieren zwar nicht so oft auf Euer Verhalten, wie bei Baldur`s Gate 2, aber wenn sie sich melden, dann sehr emotional und stimmungsvoll. Denn diese Situationen gehören meist zu den wenigen, die komplett mit Sprachausgabe belegt sind - schade, denn die Lokalisation ist sehr gut gelungen und ein wenig mehr Stimme hätte der Atmosphäre gut getan.

Ihr entscheidet, ob Ihr lieber in Echtzeit oder rundenbasiert in den Kampf zieht. Ersteres geht wesentlich schneller und dynamischer von der Hand, letzteres empfiehlt sich in heiklen Situationen. Leider könnt Ihr im Kampf nicht die absolute Kontrolle über Eure Begleiter ausüben, sondern nur einige allgemeine Befehle wie Angriff, Rückzug oder Aufhören geben.

Echtzeit oder rundenbasiert?

Trotzdem könnt Ihr durch geschicktes Vorgehen Hinterhalte legen oder starke Gegner mit Fernwaffen zermürben. Haben Kämpfe zu Beginn eher Seltenheitswert, geht es in den Dungeons und Kanalisationen später richtig zur Sache. Die Gegnerpalette reicht von Riesenratten, Wölfen, Orks und Drachenwesen bis hin zu furchteinflößenden Feuergolems.

Im Verlauf des Spiels wird Rollenspiel-Fans das wohlige Gefühl beschleichen, dass die Welt von Arcanum nicht nur groß, sondern auch völlig frei zu erkunden ist. Neue Orte werden auf Eurer Landkarte markiert und das Reisen könnt Ihr dank des Wegpunkte-Systems automatisieren. Die Wegpunkte tragen auch in Dungeons und Städten zum dynamischen Gameplay bei, denn Ihr könnt wunderbar auf der jeweiligen Karte eine Route festlegen, die Eure Gruppe dann abläuft.

Nebenquests oder Hauptquest?

Sobald Ihr an einen neuen Ort kommt, eröffnet sich eine Vielfalt an lukrativen, gefährlichen und amüsanten Aufgaben. Mit der Zeit wird das ständig aktualisierte Tagebuch einen Berg an kleinen Quests anhäufen, die Euch alle immer tiefer in den verzwickten Kampf zwischen Magie und Technik vordringen lassen, ohne unmittelbar mit dem eigentlichen Erzählstrang verknüpft zu sein. Dieses nicht-lineare Gameplay beschert neugierigen Spielern, die wirklich alles wissen wollen, etwa 100 Stunden Spielzeit - folgt Ihr der Kernstory, werden es an die 30 Stunden.

Was die Entwickler an Gegenständen implementiert haben, wird jeder Kuriositätensammlung gerecht: Egal ob Metallrohre, Zahnräder, Uhren, Magnesium, Blutpillen, Zauberstäbe, Zylinderhüte, Elektrorüstungen, Zwergenäxte oder Repetiergewehre. Arcanum präsentiert Euch einen herrlich skurrilen Mix aus Industrie und Artefakten - Steampunk pur. Und das Schöne ist: Erwerbt Ihr ein Diplom oder erlernt Ihr eine Magiestufe, bekommt Ihr Anleitungen, um aus diesen Gegenständen etwas Neues zu schaffen. So wird aus Kondensator und Stab ein gefährlicher "Schockstab", oder aus einer Mini-Dampfmaschine samt Uhrwerk eine "mechanische Spinne".

Schrotflinte oder Langbogen?

Es gibt aber nicht nur viele Gegenstände, sondern auch so viele Buttons, Leisten und Statistiken im Charaktermenü, dass man zu Beginn recht häufig zum Handbuch greift. Die gewöhnungsbedürftige Benutzeroberfläche hat einfach mit der Vielfalt der Möglichkeiten zu kämpfen, die Arcanum bietet. Gerade Einsteiger werden eine gewisse Zeit brauchen, bis sie vollständig eingearbeitet sind.

Auf den ersten Blick ist das große Manko von Arcanum die Grafik: Denn das Team von Troika Games nimmt Euch nicht nur erzählerisch, sondern auch optisch mit auf eine Zeitreise - und zwar in angestaubte Fallout-Tage: Die isometrische Perspektive zeigt Euch eine veraltete zweidimensionale Grafik, die gegen die Hochglanzprodukte à la Baldur`s Gate 2 zunächst wie Altpapier aussieht. Insbesondere die Landschaften wirken öde, farblich dominieren rostbraune und mattgrüne Töne, selten bewegt sich etwas, von Echtzeit-Schatten oder Wellenbewegungen ganz zu schweigen. So mancher Fluss sieht eher aus wie eine graublaue Wiese und zu allem Entsetzen sorgen die wenigen Animationsphasen der eigenen Figur für ruckelige Dauerläufe durch die optische Ödnis. Und leider gibt es mit 800x600 nur eine Auflösung, was gerade für Besitzer von 19"-Monitoren ärgerlich ist.

Grafik

Aber auf den zweiten Blick offenbart Arcanum vor allem dank des herrlichen Steampunk-Flairs seine Stärken im Bereich Gamedesign: Die Charakterporträts, das Interface und die zahlreichen Gegenstände sehr nicht nur edel aus, sondern treffen die Mischung aus Industrie und Fantasy auf den Punkt. Die Stadt Tarant erinnert eindrucksvoll an das viktorianische London, der Tag- und Nachtwechsel sorgt für Stimmung und das Leveldesign ist ausgesprochen gelungen.

So viel man über die Landschaftsgrafik und Animationen meckern kann, so wenig bleibt an der Musikuntermalung auszusetzen: Die unaufdringlich im Hintergrund wirkende Melodie vermittelt ein Jules Verne-Flair und sorgt von Beginn an für Entdeckerstimmung. In Dungeons und Kanalisation wechselt die Meldodie dann hin zu leicht dramatischen, aber immer noch dezenten Tönen. Hinzu kommen stimmige Soundeffekte für sabbernde Zombies, zischelnde Echsenkrieger oder Explosionen. Auch die Sprachausgabe kann vollends überzeugen, denn Ärger, Ängste und Zuneigung der NPCs werden akustisch überzeugend in Szene gesetzt - nur leider viel zu selten.

Sound

Baldur`s Gate 2 ; Fallout-Reihe; Planescape Torment; Gorasul

Pro:

  • riesige Welt


  • großartige Story


  • zahllose Quests


  • offenes Gameplay


  • hohe Langzeitmotivation


  • einzigartige Atmosphäre


  • sehr gute Sprachausgabe


  • hervorragendes Handbuch


  • praktisches Wegpunktesystem


  • große Vielfalt an Gegenständen


  • rundenbasierter oder Echtzeit-Kampf


  • sehr gutes Charaktererschaffungssystem


  • Kontra:

  • veraltete Grafik


  • nur eine Auflösung


  • selten Sprachausgabe


  • ruckelige Animationen


  • gewöhnungsbedürftiges Interface


  • Vergleichbar mit:

    Fazit

    Im Zeitalter von GeForce 3 wirkt Arcanum wie ein Relikt aus der Urzeit. Aber hinter den verstaubten Kulissen verbirgt sich eine der stimmungsvollsten Rollenspielwelten der letzten Jahre: Der soziale Konflikt zwischen Magie und Technik ist hervorragend inszeniert und so glaubwürdig umgesetzt, dass man sich in der Bibliothek sogar über den wissenschaftlichen Disput der "Orkfrage" schlau machen kann. Dabei ist die Story vielschichtig, immer wieder für Überraschungen gut und überlässt Euch dank des hervorragenden Charaktererschaffungs- und Entwicklungssystems absolute Spielfreiheit. Gerade Rollenspieler alter Schule werden schnell über die veraltete Grafik hinwegsehen und sich voll und ganz dem einzigartigen Steampunk-Flair hingeben. Wer Fallout mochte, wird Arcanum lieben!

    PS: Ein Test der Multiplayer-Modus folgt in Kürze!

    Wertung

    PC

    Die Grafik ist veraltet. Aber dafür gibt`s eine klasse Story, tolle Charaktere und jede Menge Fantasy-Flair!