Alpha Protocol - Ein Spionage-RPG - Test, Rollenspiel, 360, PlayStation3, PC
Abenteuer in der Gegenwart
In dieser ebenso gefährlichen wie aktuell anmutenden Welt spielt das knapp zwanzigstündige Abenteuer von Michael Thorton. Es beginnt als Rückblick: Als er drei Monate vor dem Anschlag in einem Operationssaal erwacht, weiß er von nichts. Kann es sein, dass er unter Drogen gesetzt wurde? Und wenn ja: von wem? Wer ist eigentlich der Unbekannte, der da im flackernden Hintergrund seine Zigarre raucht und ihn zwischendurch immer wieder zu textet? Hat er gerade gesagt, dass ich an allem schuld bin?
Illusive Man lässt grüßen? |
Leben oder Tod? Je nachdem wie man sich entscheidet, hat das Konsequenzen für den Spielverlauf.Der Gedächtnisverlust ist keine originelle Methode, um die erzählerische Neugier zu schüren. Und nicht nur zu Beginn zitiert man bekannte Motive sowie Designelemente aus Splinter Cell: Conviction (SC), Mass Effect 2 (ME) und Metal Gear Solid 4 (MGS). Aber genau so wie man die scheinbar gewöhnliche Hintergrundgeschichte letztlich doch nicht so leicht durchschauen kann, weil sie geschickt zwischen dem Unbekannten und dem Überraschenden wabert, bleibt die Mischung aus Stealth-Action und Rollenspiel bis zum Schluss interessant. Denn Obsidian zitiert und kreiert.
Davon ahnt man zu Beginn noch genau so wenig wie der Held von seiner Aufgabe. Viele offene Fragen begleiten den Agenten im Laufe eines intriganten Spiels zwischen einem halben Dutzend politischen Fraktionen - von der russischen Mafia über den CIA und islamische Gotteskrieger bis hin zu chinesischen Triaden reicht der prominente Wettbewerb. Und erst durch die geheimnisvollen Organisationen, die in der Liste fehlen, wird er richtig brisant: G-22, VC1, CGP und Alpha Protocol.
Die Zeit für Antworten
Denn die Antwort ist alles andere als egal. Man hört also aufmerksam zu, denn je nach Antwort verändert sich nicht nur das Verhältnis zu einem Gesprächspartner, das zu Beginn meist neutral ist, aber auf geschätzt oder vertraulich und überaus erotisch anwachsen kann; woraus sich finanzielle, politische oder sexuelle Möglichkeiten ergeben. Je nach Antwort entwickelt sich auch der Charakter von Thorton anders: Weil ich in den ersten Gesprächen aggressiv reagiert habe, bekomme ich nach fünf Minuten zwar erste Minuspunkte bei der hübschen Mina, aber auch einen permanenten Schadensbonus im Nahkampf - sehr schön.
Die Qual der Wahl
Später sehe ich mir eine Nachrichtensendung mit Al-Samad komplett an und bekomme in Zukunft fünf Prozent Rabatt bei saudischen Händlern. Dann schalte ich 50 Feinde lautlos aus und bekomme einen Schleichbonus. Dann verwirre ich in einem Gespräch mein Gegenüber mit einer unklaren Haltung und bekomme Erfahrungspunkte. Schon diese kleinen Konsequenzen demonstrieren die Rollenspieltugenden. Und die werden im Laufe des Spiels immer stärker: Nur wer die richtigen Beziehungen pflegt, bekommt z.B. mitten in einem Einsatz die Unterstützung eines Kampftrupps; ansonsten ist man allein unterwegs. Ich entscheide über Leben und Tod, über Gnade und Verstümmelung - und das unter Zeitdruck.
Das sorgt auch deshalb für Spannung in den Dialogen, weil es in der Welt der Geheimdienste weder ein klares Gut noch Böse gibt, so dass ich in den Gesprächen nicht einfach moralische Schubladen aufmachen kann wie in jeder Waldundwiesenfantasy - ich muss genau zuhören und wissen, was ich will. Es kann hilfreich sein, den Kopf eines Informanten in Moskau erstmal auf die Bar zu schmettern, bevor man weiter fragt. Es kann aber noch hilfreicher sein, ihn direkt mit der Wahrheit zu konfrontieren oder zu bluffen. Und es kann hilfreich sein, eine Frau über Umwege zu erobern. Nicht Thorton wird nach jedem Dialog auf einer Skala der Rechtschaffenheit beurteilt, sondern die Beziehung zum Gesprächspartner wird angepasst.
Die Frage der Moral
Denn abseits vom Zeitdruck in Dialogen, der für Spannung und Aufmerksamkeit sorgt, gibt es auch E-Mails, die eine Reaktion verlangen. Man kann auch hier entscheiden, ob man lässig oder knapp oder keck antwortet. Und das Schöne ist: Obsidian belässt es nicht bei diesen Floskeln, sondern bietet gleich den entsprechenden Text im kompletten Wortlaut an, bevor man auf Senden klickt. Danach gibt es natürlich eine entsprechende Reaktion beim Empfänger, die Beziehung kann Pluspunkte gewinnen und so können sich ganz langsam Verhältnisse aufbauen, deren Entwicklung sich auch anhand der Tonalität der E-Mails ablesen lässt. Außerdem wird die elektronische Post geheimdienstlich genutzt: Manchmal hat Thorton die Wahl, wem er Informationen zukommen lassen will: Der ansehnlichen Fotojournalistin, die das Ganze öffentlich macht? Dem Schwarzmarkt, der vielleicht neue Waffen anbietet? Oder einer Firma, die sehr viel Geld bezahlt? Man kann also heimlich für die Öffentlichkeit arbeiten, für die Effizienz der Mission oder nur für seinen Geldbeutel.
Wo kommt man selbst her und was will man sein? Die Charaktererschaffung erlebt Michael Thorton erst, als sich seine Entführer rund um Mina outen: Die amerikanische Geheimorganisation Alpha Protocol hat ihn aufgrund seiner Talente auserkoren, eine streng geheime Mission in Saudi-Arabien durchzuführen. Man wollte ihn allerdings erstmal auf die Probe stellen. Erst hier kann man seine Figur optisch etwas anpassen - leider stehen dafür nur ganz wenige Frisuren und Gesichtsmerkmale im spartanischen Editor zur Verfügung. Erst beim Hintergrund wird es vielfältiger: Man kann als Soldat, Agent, Techniker oder Söldner mit einem Grundset aus insg. neun Fähigkeiten starten; der Techniker hat z.B. erste Punkte auf Tarnung (1), Schrotflinte (2), Sabotage (3) und Technik (2) - jede Fähigkeit lässt sich nach einem Aufstieg in bis zu fünfzehn Stufen ausbauen, wobei zwischendurch neue Talente freigeschaltet werden.
Späte Charaktererschaffung
Wer alles selbst verteilen möchte, wählt als Klasse einfach den Rekruten und kann sein Grundset frei zusammen stellen - allerdings startet man hier bei null Erfahrungspunkten und hat es zu Beginn deutlich schwerer, da man gewisse Talente noch nicht im Kampf einsetzen kann und früher entdeckt wird; daran sollten sich eher Genrekenner wagen. Ansonsten kann man den Schwierigkeitsgrad in drei Stufen regeln. Schön ist auch, dass man nach etwa fünf bis sechs Stunden noch eine Spezialisierungsstufe erreicht, in der man unabhängig von der gewählten Klasse alle bisherigen Werte löschen und neu anpassen oder eine weitere Bezeichnung wie Kommando, Spion oder Ingenieur mit festgelegten Fähigkeiten gewinnen kann. Es ist also nicht möglich, etwas falsch zu machen oder sich zu "verskillen".
Verdeckte Fähigkeiten
Interessanter sind die subtilen Fähigkeiten wie die Tarnung: Auf Stufe 4 gewinnt man z.B. das automatisierte Ausweichen, so dass man bei einer Entdeckung ein kleines Zeitfenster für die Flucht hat. Später kann man lautloses Laufen oder eine kurzfristige Unsichtbarkeit nutzen. Manche Fähigkeiten werden automatisch aktiviert oder sind zunächst nur sehr kurz nutzbar, können aber weiter ausgebaut werden - von den Grundlagen bis zur Meisterschaft, so dass sie länger und effizienter wirken.
Auch die Sabotage bietet einige Möglichkeiten: Man kann über Interferenz elektrische Geräte lahm legen, ohne sie wie mit einer EMP-Granate zu zerstören; man kann sich einen Bonus für das Hacken oder Schlösser knacken verschaffen oder über die Hohlladung bestimmte Explosionen in eine Richtung kanalisieren. Der nützliche Remote-Hack erlaubt das Computerinfiltrieren über Distanz. Man kann auch die binäre Unsichtbarkeit nutzen, um sich kurzfristig vor Kameras und Selbstschussanlagen zu schützen.
Talente einsetzen
Allerdings gibt es keinerlei kommunikativen Fähigkeiten wie etwa Rhetorik, damit man in Gesprächen mehr Optionen hat. Trotzdem kann man den Pool an Antworten z.B. von drei auf vier Varianten erweitern, wenn man einen bestimmten Status bei Personen erreicht hat. Außerdem bietet Alpha Protocol weitaus mehr an Wühl- und Upgrade-Potenzial als etwa ME, weil man nahezu alles vom Lauf bis zum Griff und Visier an Waffen modifizieren, zig Geräte kaufen und noch mehr Statistiken begutachten kann. Das fängt bei der Panzerung an, die in die fünf Bereiche Ausdauer, Schadenssenkung, Geräuschdämpfung, Verbesserungen und Inventar unterteilt ist. Diese kann man mit bis zu vier Modulen verstärken, die wiederum alles Mögliche an Fähigkeiten unterstützen können: Es gibt Handschuhe mit digitalen Implantaten, die das Hacken erleichtern; es gibt Projektil dämpfende Polymerfaser, Digitaltarnung oder Chemikalien, die die Nutzungszeit der Fähigkeiten verlängern.
Und je weiter man im Spiel kommt, desto größer wird das Angebot - wenn man denn eine Beziehung zu einem Schwarzmarkthändler aufgebaut hat; erst dann bekommt man Zugriff auf alle Totmacher und Feuerwerkskörper. Das
Faszinierende daran ist, dass man nicht nur Waffen und Ausrüstung kaufen oder verkaufen kann, sondern auch Informationen erwerben kann, die eine Mission betreffen: Investiert man sein Geld lieber in eine bessere Pistole mit mehr Genauigkeit oder in den Erwerb einer Karte? Man kann auch die Platzierung eines Scharfschützengewehrs oder die Unterstützung einer Spezialeinheit kaufen - oder etwa die Vergiftung des Kokains anleiern, damit die Wachen nicht all zu stark auftreten. Gerade diese subversiven Möglichkeiten vor Missionsstart sind sehr reizvoll.Im Einsatz bleibt dann trotz der Fähigkeiten genug Freiraum für taktische Erkundung und situative Entscheidungen, wenn man schnell hinter einem Regal verschwindet, in letzter Sekunde dem grünen Strahl einer Kamera ausweicht oder gerade noch rechtzeitig eine Tür öffnen kann - das Spielgefühl erinnert hier viel stärker an klassische Stealth-Action alter Schule als etwa im aktuellen SC. Das Verhalten der Wachen wird ähnlich wie in MGS in drei Stufen von grün über gelb bis rot dargestellt, wenn man denn das Talent entwickelt und aktiviert hat: Nur dann erkennt man auch die Blickrichtung und Bewegung auf der Karte, so dass man seine Route anhand der Laufwege planen kann.
Bewegung im Raum
Falls ein wichtiger Raum bewacht wird, kann man zu Täuschungen greifen, indem man Schallwellen in eine andere Richtung sendet - dann marschiert wenigstens einer dorthin. So lassen sich Hinterhalte legen, für die man auch Minen oder an Türen platzierte Sprengladungen nutzen kann. Die meisten Missionsziele favorisieren eine lautlose Infiltration, bei der man möglichst niemanden töten soll. Allerdings kann man hier nicht nur auf eine effektive Betäubungspistole oder Stromschocks setzen, sondern auch Hand anlegen: Wer sich in den Rücken des Feindes schleicht, kann ihn entweder töten oder bewusstlos schlagen. Man hat also genug Mittel, um ohne lautes Getöse vorwärts zu kommen.
Ab in die Deckung
Überhaupt ist die Bewegung eingeschränkt: Ich kann nur an bestimmten, klar markierten Stellen innerhalb eines Abschnittes springen oder über schulterhohe Mauern klettern. Zwar ist das Leveldesign später auch angenehm offen, so dass es mal alternative Routen gibt. Aber das ist trotzdem ärgerlich, denn zum einen fühle ich mich auf dem Weg zum Ziel gegängelt, weil die Symbole schon Routen andeuten, und zum anderen stehe ich manchmal vor kniehohen Hindernissen und komme nicht hinüber. Überhaupt kann Thorton nicht mit der traditionellen Akrobatik eines Solid oder Sam punkten, die ganze Etagen erkletterten oder Schächte durchkrochen: Es reicht gerade mal für geducktes Gehen und Seilbahnfahrten an vorgegeben Stellen.
Wer sich verdächtig macht, muss mit plötzlich geänderten Patrouillen rechnen und sich am besten verstecken - nach einer Zeit kehren die Wachen wieder in ihre Routine zurück. Wer einen Alarm auslöst, hat es natürlich schwieriger, denn jetzt schwärmen sie bei gezückter Waffe aus und fordern Verstärkung an. Sehr schön ist übrigens, dass man nicht einfach den Raum wechseln und so den Alarm abschalten kann, denn er überträgt sich meist auf das ganze Gebäude. Aber auch hier kann man reagieren: Entweder schaltet man den Alarmkasten aus der Nähe oder per Granate aus der Distanz aus oder man nutzt technische Hilfsmittel, um die Wachen selbst dazu zu bringen - es gibt quasi falsche Sender, die eine Durchsage simulieren.
Tactical Espionage Action
Immerhin hinterlässt die KI in vielen Fällen eine gute Figur: Sie schmeißen Granaten, so dass man nicht ewig in Deckung verharren kann, sie entdecken schlecht getarnte Agenten und sie schwärmen aus, um die Flucht zu verhindern. Allerdings gibt es einige Totalaussetzer: Wenn man lautloses Schleichen aktiviert, ist man eigentlich nicht unsichtbar, sondern lediglich leiser. Aber trotzdem kann man sich zwei Wachen mit gezückter Knarre nähern und den einen vor den Augen des Kollegen bewusstlos schlagen, ohne dass dieser reagieren würde. Und als man einen Mann in der amerikanischen Botschaft schützen soll, feuern die Marines selbst noch auf einen als man die Angreifer zurückgeschlagen hat und er sich bereits bedankt - das sind ärgerliche Momente. Andererseits kann man einmal alarmierte Feinde nicht so leicht mit einem Knopfdruck töten wie in SC: Sie wehren sich, sie blocken später sogar Schläge und schießen einem Schrot ins Gesicht.
Kluge Wachen, blödes Handgemenge
Trotzdem hinterlassen gerade die offenen Nahkämpfe einen faden, weil viel zu arcadigen Nachgeschmack: Dass Thorton sich im Kampfsport entwickeln kann, ist ja eine gute Idee. Aber warum orientiert man sich nicht an authentischem Close-
Quarter-Combat? Warum nutzt man nicht realistische Techniken für den Agenten oder spendiert ihm einen aktiven Konter oder gar eine kleine Zeitlupe zum Ausweichen? Stattdessen kloppt man sich einfach so durch die Feinde. Spätestens wenn man die Kombos erlernt hat, haut man so viel zu leicht seine Gegner um. Und wer den Sprungtritt erstmal beherzigt, braucht gar keine Waffe mehr. Leider erinnern die plumpen Animationen hier eher an ein zweitklassiges Beat'em Up als an einen Agenten mit militärischer Spezialausbildung im waffenlosen Kampf. Hier verschenkt das Spiel einiges an Potenzial.Aber es gibt auch weitere Höhepunkte: Die Minispiele für Einbrecher. Hier schlägt man ME ganz deutlich, denn die Aufgaben beim Schlösser knacken, Computer hacken und Schaltkreise überwinden sind kreativer und werden mit der Zeit anspruchsvoller. Wer einen Safe knacken will, muss sein Geschick beweisen, indem er über die Schulterknöpfe bewegliche Stifte in eine Position bringt und sie rechtzeitig arretiert. Wer in einen Computer eindringt, muss zwei mehrstellige Zahlenreigen bei ablaufender Zeit in einem riesigen Zahlenfeld finden und dabei jeweils beide Analogsticks nutzen. Und schließlich gilt es bei einem Alarm, in einem Labyrinth aus Schaltkreisen die passenden Verbindungslinien zu finden - da kann man sich schon mal vertun und das macht die entsprechenden Hilfsmodule in der Ausrüstung sehr attraktiv.
Kreatives Hacken und Knacken
Einen Überblick über all die Waffen und Gegenstände verschafft man sich im Hauptquartier. Und davon gibt es in jeder Region eines: In Saudi-Arabien ist es eine Licht durchflutete Villa, in Moskau ein Penthouse in einem Wolkenkratzer, in Taiwan ein getarntes Appartement unter der Erde und in Rom ein gediegenes Herrenhaus. Überall stehen einem ein Waffenschrank, ein Computer für E-Mails und Online-Schwarzmarkt, ein Spiegel für die Anpassung des Outfits sowie ein Fernseher zur Verfügung. Schaltet man ihn ein, wird in der Nachrichtensendung über die letzte Aktion berichtet. Außerdem kann es sein, dass man über die Mattscheibe kontaktiert wird. Gerade diese Dialoge zwischen den Einsätzen sind wichtig für den Verlauf der Story und Thortons Beziehungen zu anderen Charakteren.
Diese Freiheit erinnert an die Öffnung der Galaxie in ME und man verspürt ein angenehmes Kribbeln, weil es so viel zu entdecken gibt. Dazu gehört auch, dass man je nach Kontaktperson bei einem Auftrag andere Vorteile genießt: Wer Minas Vertrauen gewonnen hat, bekommt unter ihrer Leitung einen Bonus auf die Ausdauer. Wer mit Darcy im Hintergrund agiert, verursacht etwas mehr Schaden. Es sind diese Details, die das Spiel immer wieder bereichern.
Vor allem die erzählerischen Überraschungen wie z.B. gewaltfreie Konfliktlösungen im Angesicht des Feindes oder plötzlich auftauchende Charaktere sorgen dafür, dass man neugierig bleibt. Das liegt auch daran, dass man direkten Einfluss auf die Fraktionen und Personen hat: Man kann sich Feinde machen und Allianzen schmieden, man kann wichtige Leute retten oder sterben lassen - und muss danach mit den Konsequenzen leben.
Bizarre Bosskämpfe
Obwohl diese Arenaduelle durchaus für Abwechslung und theoretisch noch einen Schuss Dramatik sorgen, verbrennen sich die Entwickler hier an der Inszenierung die Finger: Manche Gefechte lassen sich fast schon banal über die Zündung einer Brandgranate oder die Nutzung klar verteilter Raketenwerfer gewinnen, andere verlangen Trial & Error und nur selten fühlt man sich so gut unterhalten wie in klassischen Duellen japanischer Machart, obwohl ein Kampf fast an die Begegnung mit Wesker in Resident Evil erinnert. Was den Bosskämpfen fehlt ist zum einen eine gute Entwicklung vom Einfachen zum Schweren sowie zum anderen eine variablere Taktik der Feinde, die man erstmal durchschauen müsste. Sie sind im letzten Drittel alles andere als zu leicht, aber sie nerven eher als dass sie faszinieren.
Technisch nicht auf der Höhe der Zeit
Aber im Detail kann man einfach nicht begeistern. Schon zu Beginn wirkt vieles zu steril. Selbst vor einem Jahr wäre Alpha Protocol nur Durchschnitt gewesen; neben aktuellen Spielen wie SC oder ME wirkt es eine bis zwei Klassen schlechter. Das nagt vor allem an der Faszination des Einstiegs, denn schon dort offenbaren sich auf allen Plattformen die Defizite.
Und bis zum Schluss muss man damit leben, dass es auf allen Plattformen (bei der PS3 etwas stärker) zu einem Flimmern beim Drehen der Kamera kommt und dass Texturen verzögert geladen werden - nicht nur in den Waffenmenüs dauert es ein, zwei Sekunden, bis Pistolengriffe von schwammig auf plastisch wechseln, auch in den Abschnitten selbst wird die Umgebung erst später scharf. Mit diesem Problem hatte zwar auch das erste Mass Effect zu kämpfen, aber hier wird es noch deutlicher. Auf dem PC kann man immerhin die Kantenbildung und das Tearing etwas in den Optionen bekämpfen.
Auch musikalisch setzt man keine Akzente: Der kratzende Elektrotechno im Hauptmenü wirkt alles andere als mysteriös, aber später entschädigen einige melodische, auf das jeweilige Einsatzgebiet abgestimmte Klänge. Sehr gelungen, allerdings auch sehr nah an BioWares überaus bekannten Themen, sind die subtilen Klaviergeräusche beim Aufstieg des Charakters. Schade ist, dass man bei einem Rollenspiel mit so vielen Dialogen auf eine deutsche Besetzung verzichtet hat: Es wird lediglich englisch gesprochen - das allerdings überzeugend. Deutsche Spieler können auf Untertitel zurückgreifen, die zwar größtenteils gut übersetzt und fast fehlerfrei sind, allerdings etwas zu schnell abgespult werden, so dass man manchmal ganze Satzteile verpasst. Sehr lobenswert ist wiederum die allgemeine Dokumentation: Egal ob Waffen oder Personen, Granaten oder Munition, E-Mails oder Fraktionen - es gibt zu allem eine Beschreibung im Spiel; mal kurz und knapp, mal angenehm ausführlich.
Fazit
Ich bin trotz einiger Ecken und Kanten positiv überrascht: Obsidian Entertainment präsentiert ein erzählerisch cleveres Rollenspiel, das vor allem hinsichtlich der Kommunikation nicht nur kreative Akzente setzt, sondern selbst BioWare überholt. Die Antworten auf Zeit sorgen dafür, dass ich mich ähnlich wie in Heavy Rain auf jeden Dialog konzentriere, um auch die feinen Zwischentöne mitzukriegen und entsprechend reagieren zu können. Traue ich den Leuten um mich herum? Will ich mich loyal oder rebellisch geben? Will ich Frauen rumkriegen oder an Kohle kommen? Das Schöne ist, dass sich all das auf Beziehungen auswirkt - ich spüre die Konsequenzen meines Handelns bis in die Missionen. Und schön ist auch, dass ich meine Agentenkarriere mit all den Fähigkeiten frei gestalten kann. Weniger schön ist, dass sich die Entwickler nicht auf ihre Stärke konzentriert und das taktische Infiltrieren sowie die subtile Spionage weiter ausgebaut haben, sondern auf halber Strecke stehen bleiben, um sich an gewöhnlicher Action die Finger zu verbrennen: Egal ob plumper Beat'em Up-Nahkampf, Sturmgewehrgeballer oder überzeichneter Bosskampf - das wird alles schwach inszeniert, zumal die Kulisse mit ihren kargen Explosionen, und technischen Defiziten hoffnungslos veraltet wirkt, so dass Projektilkitzel gar nicht erst aufkommt. Das ist dennoch ein ebenso cleveres wie mutiges Spiel, denn es zitiert bekannte Motive aus Splinter Cell: Conviction, Mass Effect 2 und Metal Gear Solid 4, um daraus ein eigenständiges Abenteuer voller Intrigen zu entwickeln. Und obwohl dieser Neuling nicht überall die Qualität der Vorbilder erreicht, grafisch ernüchtert und einige KI-Aussetzer der bösen Sorte zeigt, habe ich ihn richtig gerne gespielt. Obsidian bietet nicht nur eine inspirierende Mischung aus Stealth-Action und Rollenspiel: Sie zeigen auch, was hinsichtlich offener Dialoge und Konsequenzen noch alles möglich ist und treten damit endlich aus dem Schatten ihrer kanadischen Vorbilder!
Lust auf bewegte Kritik? Zum Video-Fazit!
Pro
- interessantes Spionage-Rollenspiel
- gute Dialoge & erzählerische Überraschungen
- ausgezeichnetes Dialog- & Beziehungssystem
- Entscheidungen über Leben und Tod
- offene Missions- & Schauplatzwahl
- Handeln hat direkte Konsequenzen
- gute Stealth-Action-Elemente
- komfortables Deckungssystem
- Missionshinweise kaufen
- freie Karriere mit vielen Fähigkeiten
- sehr gute Hacking-Minispiele
- viele Modifikationen, Module & Gadgets
- gute Mimik in Dialogen
- KI zwingt zur Bewegung
- gutes Alarmsystem
Kontra
- schwache Kulisse
- erzählerisch langweiliger Einstieg
- technische Probleme
- Sprung und Kletterei nur an bestimmten Stellen
- Bewusstlose und Leichen verschwinden plötzlich
- eher nervige als fordernde Bosskämpfe
- einige böse KI-Aussetzer
- plumpe Beat'em Up-Nahkämpfe
- Türen nicht verschließbar
- keine deutsche Sprachausgabe