Alice: Madness Returns - Test, Action-Adventure, 360, PC, PlayStation3

Alice: Madness Returns
16.06.2011, Paul Kautz

Test: Alice: Madness Returns

Elf Jahre ist es her, dass American McGee die gute alte Alice aus Lewis Carrolls gleichnamigem Märchen durch ein ebenso bizarres wie fesselndes Wunderland jagte. Elf Jahre sind eine lange Zeit für einen Nachfolger, wenn man nicht gerade Duke-Maßstäbe ansetzt. Möglicherweise zu viel Zeit.

Es gibt Hauptmenüs, die bestehen in erster Linie aus einer unsinnigen »Press Start«-Anzeige. Manche sind animiert, andere von einem Video hinterlegt, nur selten wird man direkt angestarrt. In Alice: Madness Returns (ab 9,99€ bei kaufen) (AMR) schon. Aus großen smaragdgrünen Augen, deren tiefe Schluchten den Wahnsinn der Trägerin erahnen lassen, während elegante Violinen herein bitten. Genau wie für uns Spieler sind auch für Alice Liddel elf Jahre seit ihrem letzten Ausflug ins Wunderland vergangen. Im viktorianischen England lebt sie nun als junge Frau in einem Heim, in dem sie psychologische Betreuung erfährt - denn nach wie vor ist ihr Verstand eine Achterbahnfahrt bizarrer Visionen und verworrener Gedanken, die selbst Tim Burton verstören würden.

Wunderland wird niedergebrannt

Die Geschichte des Spiels ist sehr lose an das Märchen angelehnt; hauptsächlich erinnern die Figuren an die Vorlage. Da sich aber das gesamte Wunderland zum Schlechten hin verändert - eine gigantische Kathedralen-Lokomotive rast durch das Land, zerstört alles in ihrem Weg und bedeckt das Leben mit einer düsteren Teermasse - sind auch diese nicht mehr die gleichen. Erwartet also keine allzu warme Begrüßung vom verrückten Hutmacher, der bösen Herzkönigin, der rätselhaften Grinsekatze oder der weisen Raupe.

Der Prolog in London dient nur der Einstimmung und leitet nach kurzer Zeit in das Wunderland über. Hier blüht das Leben, Dominosteine schweben durch die Luft, Bonsai-Kühe schwirren wie Sperlinge herum, entrüsselte Schweineschnauzen müssen gepfeffert werden, wunderschöne Steinstatuen weinen. Kurz gesagt: Der Einstieg ist sehr gelungen und zeigt deutlich, wie inspiriert die Künstler hier zu Werke gingen. Das Design einiger Welten ist höchst kreativ, die Figuren

Alice ist wieder da - und verrückter als je zuvor!
wirken teilweise beklemmend verschwurbelt, die Zwischensequenzen sind in einem inspirierten Scherenschnitt-Stil gehalten. Am PC gibt es noch einen Batzen zusätzlicher Details wie Motion Blur oder Stoff-Objekte, die sich beim Durchlaufen physikalisch ansehnlich verformen. Auch nett: Alice trägt in jedem der fünf Kapitel ein anderes Kleid.

Mmmmm... gepfefferte Schweineschnauze...

Der Einstieg gibt die Linie vor, die größtenteils bis zum Ende hin durchgehalten wird - das Welten- und Figurendesign bleibt bis zum Schluss hin abgefahren. Was allerdings auch vom ersten Moment in Spielgrafik klar ist, ist die Tatsache, dass man alle vorhandenen Augen zudrücken muss, um über die teilweise eklatanten technischen Mängel hinweg zu sehen. Am auffälligsten, und schon lange ein Problem der Unreal-Engine, sind die erst spät geladenen Texturen - das Bild ist schon da, die Details folgen erst kurz darauf. Aber auch wenn sie da sind, sind sie abwesend: Teilweise sind die Texturen scheußlich niedrig aufgelöst (sowohl auf den Konsolen als auch am PC), in der Entfernung flackert und poppt es Mitleid erregend. Ebenfalls sehr ärgerlich ist z.T. die Kameraführung: Fokussiert man sich auf einen Gegner, verharrt die Kamera in diesem Winkel - verändert man nun seine Position, wandert sie nicht mit! Das Resultat ist, dass man in einem längeren Kampf ständig aus dem Fokus raus geht, die Kamera nachjustiert und den Feind neu ins Visier nimmt, um nicht dauernd auf ein scheinbar hoch interessantes Stück Mauer glotzen zu müssen.

Das abgefahrene Artdesign des Spiels ist seine größte Stärke: Die fünf langen Kapitel sind höchst abwechslungsreich und teilweise sehr inspiriert gestaltet.
AMR bietet fünf sehr lange Kapitel, die von einem Ausflug in die britische Realität eingeleitet werden - diese Echtwelt-Abschnitte bereiten den thematischen Weg für den danach folgenden Wunderland-Besuch. Das Ganze resultiert in einem ungewöhnlich langen Spielerlebnis: Zwischen 15 und 20 Stunden sollte man je nach gewähltem Schwierigkeitsgrad einplanen. Los geht's im paradiesischen Wunderland, das sich schnell in eine Art Steampunk-Welt verändert - danach tummelt sich die Heldin u.a. unter Wasser, besucht eine Art surreales Japan, eine Himmelswelt voller Kartenhäuser sowie in der Zwangsjacke und mit rasiertem Schädel ein Irrenhaus. Überall gibt es etwas zu finden: Leuchtende Erinnerungsfragmente aus ihrer Vergangenheit, Flaschen (die Artworks freischalten), Zähne (mit denen sich Waffen-Upgrades bezahlen lassen) sowie schwebende Schweineschnauzen, die, sofern angeschossen, den Weg zu Geheimnissen weisen. Das Problem mit diesen versteckten Dingen: Sie sind zum größten Teil viel zu einfach zu finden, liegen meist auf dem direkten Weg. Und da es nur einen gibt, das Spiel ist komplett linear, sind sie kaum zu übersehen.

Tod durch Steckenpferd!

Schon nach kurzer Zeit lernt Alice den Schrumpf-Trick, den sie danach jederzeit auf Knopfdruck ausführen kann. In diesem Zustand kann sie nicht nur kleine Türen betreten, sondern hickst auch zwerchfellzermürbend und sieht Dinge, die sie vorher nicht sah - Hinweise auf Fundsachen oder Wegweiser. Das ist damit eine Art eingebautes Cheat-Tool, das das Spiel nochmals einfacher macht, denn auch die Kämpfe sind nicht der Weisheit letzter Schluss: Anfangs hat man nur ein gut schlitzendes Messer, später gesellen sich noch eine Pfeffermühle (ein würziges MG), ein Steckenpferd (quasi ein großer Vorschlaghammer) sowie eine langsam feuernde Teekanne unter Alices Rock. Alle Waffen lassen sich, genügend gefundene Zähne vorausgesetzt, jeweils vierfach aufrüsten, was nicht nur ihr Design, sondern auch die Durchschlagskraft leicht verändert. Zusätzlich gibt es noch Hilfsmittel: Eine Hasikopf-Zeitbombe, die sich fernbedienen lässt sowie ein Schirm, mit dem man gegnerische Geschosse reflektieren kann. Ist Alices Lebensenergie niedrig, kann man per Klick auf den linken Analogstick (bzw. Tastendruck) den »Hysterie«-Modus aktivieren, in dem die gute Frau für kurze Zeit unverwundbar ist und weitaus mehr Schaden anrichtet.

Was die Kämpfe so uninteressant werden lässt, ist ihre Redundanz, ihre Belanglosigkeit: Anfangs macht es noch Spaß, einer spinnenbeinige Teekanne zuerst das Auge zu pfeffern und sie anschließend mit dem Messer zu zerlegen - nach dem 40ten Mal beginnt die Faszination zu bröckeln. Immergleiche Gegner, die sich auf immergleiche Weise fertig machen lassen, werden

Zu schade nur, dass das eigentliche Spiel da nicht mithalten kann: Belanglose Kämpfe, uninteressante Sprungpassagen, kaum Puzzles. Und in Sachen Technik von teilweise grausam niedrig aufgelösten Texturen gepeinigt.
das ganze Spiel über genutzt - bissige Ölklumpen, beflügelte Schrauben oder Japano-Wespen. Selbst die dickeren Kaliber sind keine echte Herausforderung. Denn Alice kann jederzeit, auch mitten im Sprung, eine von blau flatternden Schmetterlingen begleitete Ausweich-Bewegung machen sowie sich auf einzelne Widersacher fokussieren. Später lernt sie dann noch den »Mach mich groß!«-Trick, mit dem ihre dann jämmerlich kleinen Feinde gleich in Massen fallen.

Wiedersehen macht Freude?

Den größten Teil seiner Zeit im Wunderland verbringt man mit Springen: Jede Menge Plattformen schweben hin und her oder müssen per Schalterumstellung dazu gebracht werden. Jede Menge Dampfgeneratoren katapultieren die junge Dame weit in die Luft, von wo aus sie gemütlich, dem großen Rock sei Dank, zur Erde schweben darf. Zwischendurch kann sie sich noch etwas mehr Airtime verschaffen, denn mitten in der Luft sind weitere Sprünge möglich, die für etwas mehr Höhe sorgen. Allerdings sind die Geschicklichkeitstests nie anspruchsvoll, und eine Bestrafung fürs Danebenlanden gibt es auch nicht - wer in der glühenden Lava oder der tiefen Schlucht endet, materialisiert eine Sekunde später wieder in der Nähe. Zusätzlich gibt es immer wieder mal kleinere Ablenkungen in Form von Minigames - wie einem Sidescroller, einem Bilderschieberätsel oder sogar einem kleinen Rhythmusspiel.

Akustisch entfernt sich AMR nie sehr weit von den Pfaden, die im Hauptmenü ausgetrampelt wurden: Einsame Klaviere und Violinen bestimmen die ruhigeren Momente des Spiels, gelegentlich flankiert von einem wagemutigen Glockenspiel - in den actionreicheren wird der Sound deutlich Perkussions-lastiger. Die Sprachausgabe ist auf 360 und PS3 über die Konsolensprache wählbar, auf dem PC entscheidet die Art des Downloads darüber - das Spiel läuft über EAs Origin-System. PC-Spieler, die AMR vorbestellt haben, erhalten (genau wie alle Konsolen-Erstkäufer) außerdem das erste Alice-Spiel kostenlos dazu. Wer das Spiel auf 360 und PS3 gebraucht erwirbt, kann sich einen entsprechenden Download-Schlüssel für zehn Euro dazukaufen. Lediglich Käufer der normalen PC-Ladenversion gehen komplett leer aus - in dieser Fassung ist das Original-Alice nicht enthalten. Das Spiel ist nach wie vor ein faszinierendes Abenteuer, sieht aber mittlerweile ziemlich alt aus - die Quake 3-Engine wird halt auch nicht jünger...

Fazit

Alice: Madness Returns ist wie ein surrealistisches Gemälde von Salvador Dalí: Man muss in einer ganz bestimmten Stimmung sein, um es in seiner Gänze erfassen zu können, und man muss bereit sein, über technische Schwächen hinweg zu sehen. Dann, und nur dann entfaltet es eine sehr interessante, mystische, tatsächlich einzigartige Stimmung: Die teilweise wunderbar wehmütige, minimalistische Musik tropft markant aus den Boxen, das Artdesign der Welten und der Figuren ist in höchstem Maße inspiriert - wovon und ob das völlig legal war, spielt dabei keine Rolle, inspiriert ist inspiriert. Leider haben sich in erster Linie die Grafiker von der Muse küssen lassen, denn vom Design abgesehen leidet das Spiel an ganz weltlichen Problemen, von denen die flackernden, ins Bild poppenden, teilweise scheußlich niedrig aufgelösten Texturen das geringste Problem sind. Viel schlimmer ist die Ideenlosigkeit, mit der man die höchst beeindruckende Spiellänge zu füllen versucht: Simple Geschicklichkeitstests, anspruchslose Kämpfe, keine dramaturgischen Höhepunkte, keine echte Entdeckung (auf jedes Geheimnis zeigt im Schrumpfmodus ein übergroßer Leuchtfinger), komplett lineare Welten - abgesehen von den durchgeknallten Designideen gibt es hier nicht viel zu entdecken. Das Konzept des Spiels ist damit weitaus faszinierender als das Spiel an sich; ein Problem, mit dem American McGee nicht zum ersten Mal zu kämpfen hat. Immerhin liegt den meisten Fassungen von Madness Returns der Vorgänger kostenlos bei, was allerdings fast schon unfair ist - denn der Oldie ist deutlich besser als der Neuling.

Pro

  • abgefahrenes Artdesign
  • einfache Steuerung
  • wehmütiger Soundtrack
  • sehr umfangreich
  • skurrile Geschichte

Kontra

  • belangloses Spieldesign
  • simple Geschicklichkeitstests
  • immergleiche Kämpfe
  • teilweise sehr unübersichtliche Kameraführung
  • sehr offensichtliche Geheimnisse
  • zum Teil extrem niedrig aufgelöste Texturen

Wertung

360

In Sachen Artdesign einer der interessantesten Titel der Gegenwart - spielerisch dagegen höchst altbacken.

PC

Technisch die beste aller Fassungen - spielerisch mit den anderen identisch.

PlayStation3

In Sachen Artdesign einer der interessantesten Titel der Gegenwart - spielerisch dagegen höchst altbacken.