Kentucky Route Zero - Test, Adventure, Mac, Linux, PlayStation4, PC, Switch, XboxOne
Irgendwo in Kentucky an einer Tankstelle sieht zunächst alles normal aus: Der Dieselmotor eines LKW wummert, der schlaksige Fahrer namens Conway steigt mit seinem Hund aus und unterhält sich mit einem alten Mann. Er fragt nach dem Weg, denn er hat eine Lieferung für den "Dogwood Drive", den er nicht findet. Grillen zirpen, die Sonne geht unter, Autos rauschen den Highway entlang - ein schöner, fast schon idyllischer Abend. Jetzt könnte ein ganz normales Adventure mit der Rätselsuche beginnen.
Ein ganz normaler Lieferservice?
Obwohl Kentucky Route Zero zunächst so wirkt, inszeniert es kein klassisches Point&Click-Erlebnis, sondern konzentriert sich auf ein Storytelling, das von Beginn an ein Netz aus interessanten Kleinigkeiten webt. Schnell bemerkt man seltsame Dinge: Wieso trägt der Hund eigentlich einen Strohhut? Warum kann ich ihn entweder Homer, Blue oder gar nicht benennen - hat das später Auswirkungen? Tatsächlich antwortet der Alte je nach Benennung des Hundes anders. Und weshalb sitzt er eigentlich in einem Queen-Anne-Ohrensessel zwischen den Zapfsäulen? Schon im ersten Gespräch bekommt der Schauplatz am Highway eine unwirkliche Note. Der Mann scheint auch irgendetwas zu wissen, quasselt von einer Route Zero. Oder ist der Typ einfach nur verrückt?
Das Unwirkliche schleicht sich an
Nur dort unten muss Conway ein kleines Rätsel mit einer Lampe lösen: Und das tut dem Spiel richtig gut! Aber leider bleiben die Entwickler dieser Strategie nicht treu, sondern verlassen danach jegliche kombinatorische Anreize - schade. Irgendwann läuft der Rechner und man bekommt eine 2D-Karte der lokalen Routen. Auf dieser kann man seinen LKW per Klick los fahren lassen; sobald ein Symbol erscheint, kann man halten und einen der wenigen, aber stimmungsvoll ausgearbeiteten Schauplätze erkunden. Und es wird immer surrealer, denn als Conway den Alten auf diese Spieler im Keller anspricht, weiß der von nichts, das müsse man sich eingebildet haben! Was ist denn hier los? Ist man selbst verrückt, träumt man das Ganze? Erstmal den Hund füttern, den ich übrigens Homer genannt habe. Moment: Heißt die Tankstelle mit dem Pferdesymbol nicht "Equus Oils", gibt es etwa Anspielungen auf die antike Mythologie? Verwirrt und voller Fragen fährt man mit Conway weiter den Highway entlang...
Ungewissheit und Neugier
Zum anderen sorgen die Dialoge mit ihren plötzlichen Wendungen und Andeutungen dafür, dass Realität und Fiktion zu verschwimmen scheinen. Dabei schießen die Entwickler manchmal über das Ziel hinaus, wenn man nur unter obskuren Antworten wählen kann, ohne weiter auf das Thema eingehen zu können - man vermisst mehr Verschachtelungen und Erzähltiefe. Wer das Paradoxe eines David Lynch mag, wird hier dennoch seine Freude haben. Man wird in ein seltsames, überaus surreales Abenteuer hinein gezogen und muss unweigerlich an Twin Peaks & Co denken. Aber das Spiel wirkt nicht überdreht bizarr, denn die Story offenbart immer wieder alltägliche Probleme, so dass man unter den verrückten Ahnungen die knallharte Realität spürt - die Schulden einer Familie, das Schicksal von Minenarbeitern. So entsteht mitunter auch ein leicht schauriges Spielgefühl, das mit seiner ungewöhnlichen Gesprächsführung überrascht. Hier geht es allerdings nicht um Zeitdruck oder intensive Entscheidungen à la The Walking Dead, die sich direkt in der nächsten Szene auswirken. Dass man unter teilweise verwirrenden Antworten wählen kann, ist das eine. Aber hinzu kommt, dass man auch in die Rolle einer neuen Figur schlüpft.
Wechselnde Gesprächsführung
Noch kann man nicht abschätzen, wie sich die eigene Regie auf die folgenden Episoden auswirkt, aber mit jedem Schritt bemerkt man, dass einem das Spiel viele verlockende Angebote macht, den mysteriösen Nebenpfaden zu folgen oder eben dem realen Ziel treu zu bleiben und die verdammte Lieferung an den Mann zu bringen. Wo ist bloß der Dogwood Drive? Will man mehr über diese Familie erfahren, die sich hoch verschuldet hat und auf deren Privatfriedhof drei Gräber stehen? Hat das was mit der Mine zu tun? Und was soll der Hinweis, dass man seine Augen vor allem im Dunkeln offen halten soll?
Schade ist, dass die zu Beginn an der Tankstelle eingesetzte Interaktion immer weiter in den Hintergrund gerät; ein paar kleine Rätsel hätten das Erlebnis auch an den anderen Schauplätzen aufgewertet. Wer das sehr kurze, maximal zwei Stunden dauernde Spiel mehrmals angeht, wird aber durchaus interessante Dinge bzw. Zusammenhänge entdecken.
Fazit
Stimmungsvoll, rätselhaft, interessant. Die Entwickler spielen in ihrem nebulösen Kentucky nicht nur geschickt mit Ahnungen und Andeutungen. Ihnen gelingt auch das Kunststück, mit einfachen Mitteln der Regie eine erzählerische Sogwirkung zu erzeugen. Dass all die aufgeworfenen Fragen auf dieser ersten Highway-Odyssee nicht beantwortet werden, ist klar; immerhin folgen noch vier Episoden, in denen sich das Storytelling beweisen muss. Wie wirken sich meine Antworten erzählerisch aus? Was das Spieldesign angeht, hätten diesem Adventure ausführlichere Dialoge sowie mehr Interaktionen an weiteren Schauplätzen sehr gut getan; der Einstieg an der Tankstelle hat das Potenzial leider nur kurz aufleuchten lassen. Dafür demonstrieren die Entwickler immer wieder ein Feingefühl für Beleuchtung und Sounds, so dass knisternde Situationen entstehen. Was wie ein klassisches Point&Click mit einem kleinen Rätsel beginnt, wird sehr schnell zu einem surrealen Lektüre-Trip für Freunde des Paradoxen. Noch werde ich nicht schlau aus dieser unwirklichen, viel zu kurzen Reise. Aber irgendetwas lauert da abseits der Realität auf Conway und seinen alten Hund. Und das macht mich neugierig.
Pro
- dichte Atmosphäre
- markantes Artdesign
- interessante Charaktere
- Multiple-Choice-Dialoge
- Antworten beeinflussen Biographien & Story
- viele rätselhafte Andeutungen
- zwischendurch Textadventure-Flair
- plötzlicher Figurenwechsel
- viel Sinn für grafische Kleinigkeiten
- tolle Kamera & Überleitungen
- minimale Hardware-Anforderungen
Kontra
- kaum Rätsel & Interaktionen
- wenig Schauplätze
- Dialoge nicht ausführlich genug
- teilweise obskure Antwortmöglichkeiten
- etwas holpriges Ende des ersten Aktes
- sehr kurz (1
- 2 Std.)
- bisher nur auf Englisch