Shadowrun Returns - Test, Taktik & Strategie, Linux, PC, Android, iPad, iPhone, Switch, Mac
Sam Watts war ein unzuverlässiger Säufer. Aber er hat mir, einem griesgrämigen Zwerg, auch mal den Arsch gerettet. Und selbst wenn er nicht mein Freund war und überaus schlechte Witze erzählt hat, war er doch ein Kumpel. Also lässt es mich nicht ganz kalt, als er mir von seinem nahenden Tod berichtet: Wenn ich mehr erfahren will, soll ich seine Leiche über den "Locator Chip" finden. Und weil es auch noch Geld dafür gibt, ist die anschließende Recherche im verkommenen Seattle des Jahres 2051 natürlich Ehrensache.
Jack the Ripper 2.0
Recht schnell wird die Sache mysteriös: Warum wurde Sams Leber entfernt? Warum mit einem altmodischen Skalpell statt einem Laser? Die ersten Ermittlungen vor Ort lassen Erinnerungen an Jack the Ripper wach werden. Scheinbar war Sam das zweite von mittlerweile drei Opfern eines Serienmörders. Die Presse nennt ihn „Emerald City Ripper“. Das ebenso Seltsame wie Beunruhigende: Den anderen hat er auf dieselbe Art einmal das Herz und einmal die Milz heraus geschnitten. Also folge ich der blutigen Spur wie Sherlock Holmes, nur mit Kampfdrohnen sowie etwas höherem Bodycount.
Eine Frage der Etikette
Je nachdem, wie man den Charakter zu Beginn erschaffen hat und welche Fähigkeiten er besitzt, gibt es teilweise andere Bemerkungen auf die eigene Figur oder alternative Antworten in Gesprächen. Hat man z.B. einen Zwerg mit Kenntnissen von „Security“, kann man einfache Polizisten am Tatort z.B. davon überzeugen, dass man im Auftrag der Behörde die Leiche untersuchen soll – und schwups, ist der Weg zu den ersten Indizien frei. Im Laufe des Spiels kann man weitere der sieben Milieukenntnisse („Etiquette“) wie „Gang“ oder „Street“ erwerben, um zusätzliche Optionen in den Dialogen zu bekommen.
Streng lineares Abenteuer
Auch sonst fühlt man sich in der Erkundung eingeschränkt: Die Kulisse mag mit ihrer isometrischen Perspektive in 1920 x 1080 und einigen liebevoll illustrierten Schauplätzen nostalgische Gefühle wecken, aber sie wirkt unterm Strich zu steril. Man wird kaum mal zum Hineinzoomen animiert. Zum einen gibt es zu selten Animationen wie auffliegende Vögel, alltägliche oder gar überraschende Szenen. Zum anderen kann man kaum etwas abseits der relevanten Gegenstände in den Straßen, Laboren und Büros finden. Da waren isometrische Rollenspiele der 90er wesentlich weiter – nicht nur, weil man damals schon manuell speichern konnte. Hier wird nur automatisch nach dem Wechsel in ein anderes Gebiet gesichert.
Erkundungsarmut, aber Rollenspielflair
Shadowrun Returns inszeniert rundenbasierte taktische Kämpfe alter Schule, wobei man eine Gruppe von bis zu vier Charakteren befehligen kann – hinzu kommen Kampfdrohnen oder beschworene Tiere. Jede Figur verfügt über Aktionspunkte, die man z.B. für ihre Bewegung, Heilung, Granatenwurf oder diverse Kampfmanöver sowie Zauber einsetzen kann. Mit der Zeit schaltet man immer mehr Möglichkeiten frei, die je nach Effizienz auch mehr Aktionspunkte oder Abkühlzeit erfordern. Allerdings sind die Kämpfe auf der normalen Stufe so leicht, dass erfahrene Spieler gleich auf dem dritten von vier Schwierigkeitsgraden starten sollten.
Rundenbasierte Kampftaktik
Zwar gibt es drei Deckungsstufen, aber deren Auswirkungen schwanken genauso wie die Trefferauswertung nach Reichweite. Man merkt der mächtigen Schrotflinte z.B. nicht an, dass sie nicht so weit feuern kann wie ein Gewehr; die Nahkämpfe mit Axt und Katana sind leider ein schlecht animierter Anachronismus – gerade da hätte es brachialer zur Sache gehen müssen. Und bei allem Respekt vor dem Pen&Paper-Regelwerk, das im Hintergrund vor sich her würfelt: Es sieht im Jahr 2013 einfach armselig aus, wenn Projektile und Feuerbälle einfach so ohne Kollision durch Hindernisse fliegen. Mal abgesehen davon, dass die KI der Feinde teilweise hanebüchen passiv reagiert oder selbst bei Beschuss nicht in Deckung geht – immerhin ist Letzteres die Ausnahme. Vor allem von der virtuellen Matrix bin ich enttäuscht, denn hier läuft das Ganze ohne besondere Hackingfinessen genauso ab, nur dass man im Neonblau à la Tron unterwegs ist.
Elf, Troll oder Mensch?
Dieses Karma entspricht quasi der Erfahrung (XP) aus anderen Rollenspielen, nur dass man es hier z.B. nicht für jeden Kampf, sondern lediglich für absolvierte Quests bekommt. Aber keine Bange: Auch wenn Feinde weder Beute noch XP hinterlassen , sondern sich in Luft auflösen, kann man bei Händlern zig Waffen, Ausrüstung, Drohnen, Zauber und sogar künstliche Gliedmaßen bzw. Hilfsmittel kaufen, mit denen man seinen Körper à la Deus Ex aufrüstet. Nur sollte man daran denken, dass sich so ein Bein nicht mehr austauschen, sondern lediglich aufrüsten lässt – wer sich unters Messer legt, sollte sich das gut überlegen. Ihr wollt euer eigenes Szenario entwerfen? Kein Problem, wenn ihr genug Zeit in den Editor investiert, der allerdings wesentlich unzugänglicher ist als jener von Neverwinter Nights.
Fazit
Shadowrun Returns ist ein rundenbasiertes Rollenspiel alter Schule, das mich aufgrund der sehr guten Dialoge solide unterhalten hat. Wer die Cyberpunkwelt aus den Romanen oder vom Pen&Paper her schätzt, wird sich zwischen mordenden Elfen, eitlen Trollen und jeder Menge Sarkasmus wohl fühlen. Aber obwohl die Serienkiller-Jagd neugierig macht, wird man streng linear durch die Story gelotst, kann weder Routen noch Fraktionen oder Handlungen beeinflussen und fühlt sich auch hinsichtlich der Erkundung im Gelände eingeschränkt. Die isometrische Kulisse hat zwar ihre malerischen Ecken, wirkt aber viel zu klein und steril; es gibt kaum etwas zu entdecken. Es macht zwar Laune, sich mit seiner bis zu vierköpfigen Party samt Drohnen und Magie durch Seattle zu kämpfen, aber die Gefechte bieten mehr Waffen-Schnickschnack als taktische Tiefe, zumal Kollisionsabfragen, Reichweitenberechnung sowie KI-Verhalten zu wünschen übrig lassen. Unterm Strich ein durchwachsener Auftakt mit mehr erzählerischen als spielerischen Stärken. Angesichts von Klassikern wie Arcanum oder Fallout dürfte dieses Shadowrun vor allem für ältere Semester wie ein zu spät geborenes Leichtgewicht wirken. Ich bin dennoch gespannt, was die Entwickler in Zukunft verbessern und wie sich die ersten Abenteuer der Spieler machen – dank integriertem Editor sowie starker Lizenz sollte Nachschub kein Problem sein.
Pro
- Einstieg mit Serienkiller-Story macht neugierig
- stimmungsvolles Cyberpunk-Szenario mit Magie, Hightech & Fantasy
- Slang & Mentalität der Shadowrun-Welt werden getroffen
- sehr gute, sehr viele Texte und Multiple-Choice-Dialoge
- je nach Charakter/Fähigkeiten andere Antworten möglich
- Party-Taktik mit bis zu vier Charakteren
- komplett freie Charaktererstellung mit fünf Rassen; sechs Archetypen
- Charakterentwicklung mit vielen Fähigkeiten
- coole Fähigkeiten & Begleiter (Hacking, Drohnen, Geister etc.)
- vier Schwierigkeitsgrade
- Editor für eigene Abenteuer
Kontra
- streng lineare Handlung
- über weite Strecken schwache Gegner-KI
- zu wenig taktische Möglichkeiten im Kampf
- inkonsequente Schusslinien /Deckungsabfrage
- Waffen-Balancing wirkt unausgegoren (Nah/Fernkampf; Schrot/Gewehr)
- teilweise sterile Kulissen ohne Interaktion, mit zu wenig Animation
- kein manuelles Speichern
- kein Tagebuch zum Nachschlagen
- Kamera nicht drehbar, nur statische Portraits
- oberflächliche FAQ/Hilfemenüs
- fummeliges Ausrüstungsmanagement; kleine Interface-Bugs
- nur englische Texte, kein Sprachausgabe