Shadowrun Returns - Test, Taktik & Strategie, Linux, PC, Android, iPad, iPhone, Switch, Mac

Shadowrun Returns
02.08.2013, Jörg Luibl

Test: Shadowrun Returns

Was ist das Besondere an der Welt von Shadowrun? Die Mischung aus Fantasy und Science-Fiction: Zwerge, Drachen und Magie treffen auf Hacker, Cyborgs und Kampfdrohnen. All das in einer düsteren Zukunft, in der nicht Königreiche, sondern Großkonzerne das Sagen haben. Was hat das mit 1,8 Millionen Dollar über Kickstarter finanzierte Rollenspiel Shadowrun Returns (ab 13,49€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) zu bieten?

Sam Watts war ein unzuverlässiger Säufer. Aber er hat mir, einem griesgrämigen Zwerg, auch mal den Arsch gerettet. Und selbst wenn er nicht mein Freund war und überaus schlechte Witze erzählt hat, war er doch ein Kumpel. Also lässt es mich nicht ganz kalt, als er mir von seinem nahenden Tod berichtet: Wenn ich mehr erfahren will, soll ich seine Leiche über den "Locator Chip" finden. Und weil es auch noch Geld dafür gibt, ist die anschließende Recherche im verkommenen Seattle des Jahres 2051 natürlich Ehrensache.

Jack the Ripper 2.0

Recht schnell wird die Sache mysteriös: Warum wurde Sams Leber entfernt? Warum mit einem altmodischen Skalpell statt einem Laser? Die ersten Ermittlungen vor Ort lassen Erinnerungen an Jack the Ripper wach werden. Scheinbar war Sam das zweite von mittlerweile drei Opfern eines Serienmörders. Die Presse nennt ihn „Emerald City Ripper“. Das ebenso Seltsame wie Beunruhigende: Den anderen hat er auf dieselbe Art einmal das Herz und einmal die Milz heraus geschnitten. Also folge ich der blutigen Spur wie Sherlock Holmes, nur mit Kampfdrohnen sowie etwas höherem Bodycount.

Zu Beginn erstellt man einen männlichen oder weiblichen Charakter: Schamane, Magier und Samurai erklären sich von selbst; "Rigger" wie dieser Zwerg hantieren mit Drohnen; "Decker" hacken sich u.a. in die virtuelle Matrix. Aber das sind alles nur vorgefertigte Sets, ihr könnt auch komplett frei entwickeln und Fähigkeiten kombinieren.
Shadowrun Returns fühlt sich im Einstieg fast wie ein Krimi-Adventure an. Obwohl man eine Sprachausgabe ebenso vermisst wie animierte Portraits, entsteht aufgrund der sehr guten Texte eine stimmungsvolle Atmosphäre, die den frechen Ton der Cyberpunkromane  trifft. Allerdings sollte man aufgrund von Slang, Klamauk und Fachjargon gut Englisch lesen können, sonst versteht man den Sarkasmus von Leichenbeschauer „Dresden“ vielleicht nicht. Schauplätze sowie Mimik und Gestik von Nebenfiguren werden in eckigen Klammern lebendig beschrieben und es gibt überraschend viele Dialoge mit Multiple-Choice-Antworten.  Zwar erreicht das Ganze lange nicht die epische und verschachtelte Lektüre von Planescape Torment, aber man sollte sich Zeit zum Lesen nehmen.

Eine Frage der Etikette

Je nachdem, wie man den Charakter zu Beginn erschaffen hat und welche Fähigkeiten er besitzt, gibt es teilweise andere Bemerkungen auf die eigene Figur oder alternative Antworten in Gesprächen. Hat man z.B. einen Zwerg mit Kenntnissen von „Security“, kann man einfache Polizisten am Tatort z.B. davon überzeugen, dass man im Auftrag der Behörde die Leiche untersuchen soll – und schwups, ist der Weg zu den ersten Indizien frei. Im Laufe des Spiels kann man weitere der sieben Milieukenntnisse („Etiquette“) wie „Gang“ oder „Street“ erwerben, um zusätzliche Optionen in den Dialogen zu bekommen.

Der Star des Spiels: Die sehr gut geschriebenen Dialoge. Allerdings muss man des Englischen mächtig sein; es gibt (noch) keine Übersetzung ins Deutsche.
Das hört sich bis hierher vielleicht nach einem angenehm freien Rollenspiel an, aber die Jagd nach dem Serienkiller läuft streng linear ab. Weltkarte? Städte? Alternative Route? Nein. Auch wenn es mal Nebenmissionen gibt, klappert man quasi Indiz nach Indiz ab, kann während der Ermittlungen keine relevanten Entscheidungen treffen, was kommende Ziele oder Fraktionen betrifft. Immerhin wird das Ganze zwischendurch mal aufgelockert, wenn es kleine erzählerische Rätsel gibt, die sich auf bisher gefundene Notizen beziehen, oder wenn man gefragt wird und begründen muss, wen man bisher verdächtigt. Die Dialoge lassen mitunter Klasse aufblitzen, aber die Storyleine ist zu kurz. Schade auch, dass es kein Tagebuch gibt, in dem man bisher Erlebtes nochmal nachlesen kann und dass wichtige Indizien nicht als Grafik, sondern nur als Text einsehbar sind.

Streng lineares Abenteuer

Auch sonst fühlt man sich in der Erkundung eingeschränkt:  Die Kulisse mag mit ihrer isometrischen Perspektive in 1920 x 1080 und einigen liebevoll illustrierten Schauplätzen nostalgische Gefühle wecken, aber sie wirkt unterm Strich zu steril. Man wird kaum mal zum Hineinzoomen animiert. Zum einen gibt es zu selten Animationen wie auffliegende Vögel, alltägliche oder gar überraschende Szenen. Zum anderen kann man kaum etwas abseits der relevanten Gegenstände in den Straßen, Laboren und Büros finden. Da waren isometrische Rollenspiele der 90er wesentlich weiter – nicht nur, weil man damals schon manuell speichern konnte. Hier wird nur automatisch nach dem Wechsel in ein anderes Gebiet gesichert.

Man erkundet recht kleine Areale in isometrischer Perspektive: Zoom ist möglich, Kameradreh nicht.
Eine Kameradrehung für einen Blick in verborgene Ecken vermisst man also gar nicht, sondern folgt idiotensicher einfach den gelben Markierungen zum nächsten, meist nicht sehr weit entfernten Ziel – auch diese Hilfe hätte man sich angesichts der kleinen Karten übrigens sparen oder zumindest von einer Fähigkeit abhängig machen können. Manchmal zeigt die Maus Interaktionsicons an, wenn sich der Nebel lichtet: Zwar gibt es dann auch mal Gegenstände oder kleine Umgebungsrätsel, wenn man etwa geheime Gänge oder über Begleiter verschlossene Türen öffnen muss, aber die sind  leider allzu offensichtlich und zu leicht zu lösen. Trotzdem sorgen diese Situationen für Rollenspielflair und lockern den Kampfalltag ein wenig auf.

Erkundungsarmut, aber Rollenspielflair

Shadowrun Returns inszeniert rundenbasierte taktische Kämpfe alter Schule, wobei man eine Gruppe von bis zu vier Charakteren befehligen kann – hinzu kommen Kampfdrohnen oder beschworene Tiere. Jede Figur verfügt über Aktionspunkte, die man z.B. für ihre Bewegung, Heilung, Granatenwurf oder diverse Kampfmanöver sowie Zauber einsetzen kann. Mit der Zeit schaltet man immer mehr Möglichkeiten frei, die je nach Effizienz auch mehr Aktionspunkte oder Abkühlzeit erfordern. Allerdings sind die Kämpfe auf der normalen Stufe so leicht, dass erfahrene Spieler gleich auf dem dritten von vier Schwierigkeitsgraden starten sollten.

Auf der normalen Stufe sind die Kämpfe zu leicht und fordern erst in Bosskampfsituationen. Erfahrene Spieler sollten direkt auf dem dritten von vier Schwierigkeitsgraden starten.
Obwohl die Gefechte zunächst an XCOM: Enemy Unknown erinnern, werden sie erstens nicht so dramatisch über nahende Geräusche oder Zwischensequenzen inszeniert, bieten zweitens zu wenig taktische Vielfalt und leiden drittens unter Sichtlinien- und KI-Problemen. Man hat abseits der Kombination aus Bewegung und Angriffs- bzw. Heilungswahl kaum Möglichkeiten, das stets erdgeschossige Gelände oder die Partner clever einzubeziehen – also wendet man über weite Strecken fast immer dieselben Routinen an, muss sich kaum auf spezielle Widerstände oder versierte Gegner einstellen. Es macht durchaus Laune, seine Kampfdrohnen auszuschicken oder mit beschworenen Helfern zu attackieren, aber richtige Spannung will nicht aufkommen; meist reicht es, das Feuer zu konzentrieren.

Rundenbasierte Kampftaktik

Zwar gibt es drei Deckungsstufen, aber deren Auswirkungen schwanken genauso wie die Trefferauswertung nach Reichweite. Man merkt der mächtigen Schrotflinte z.B. nicht an, dass sie nicht so weit feuern kann wie ein Gewehr; die Nahkämpfe mit Axt und Katana sind leider ein schlecht animierter Anachronismus – gerade da hätte es brachialer zur Sache gehen müssen. Und bei allem Respekt vor dem Pen&Paper-Regelwerk, das im Hintergrund vor sich her würfelt: Es sieht im Jahr 2013 einfach armselig aus, wenn Projektile und Feuerbälle einfach so ohne Kollision durch Hindernisse fliegen. Mal abgesehen davon, dass die KI der Feinde teilweise hanebüchen passiv reagiert oder selbst bei Beschuss nicht in Deckung geht – immerhin ist Letzteres die Ausnahme. Vor allem von der virtuellen Matrix bin ich enttäuscht, denn hier läuft das Ganze ohne besondere Hackingfinessen genauso ab, nur dass man im Neonblau à la Tron unterwegs ist.

Die Matrix: Sieht bizarr aus, spielt sich aber genauso gewähnlich wie der Rest der rundentaktischen Kämpfe.
Keine Lust auf Zwerge? Dann gibt es auch Trolle, Orks, Elfen und Menschen in männlicher oder weiblicher Version. Die Charaktererschaffung bietet zwar auch sechs Berufe wie „Street Samurai“, „Mage“, „Decker“ oder „Rigger“ an, aber dahinter verbergen sich lediglich vorgefertigte Sets aus Fähigkeiten. Shadowrun kennt weder feste Klassen noch Level. Man kann seinen Charakter also frei entwickeln, indem man so genannte „Karmapunkte“ entweder auf die Grundattribute wie Intelligenz, Schnelligkeit und Charisma oder auf damit verknüpfte Fähigkeiten wie Drohnen, Gewehr oder Hacking verteilt.

Elf, Troll oder Mensch?

Dieses Karma entspricht quasi der Erfahrung (XP) aus anderen Rollenspielen, nur dass man es hier z.B. nicht für jeden Kampf, sondern lediglich für absolvierte Quests bekommt. Aber keine Bange: Auch wenn Feinde weder Beute noch XP hinterlassen , sondern sich in Luft auflösen, kann man bei Händlern zig Waffen, Ausrüstung, Drohnen, Zauber und sogar künstliche Gliedmaßen bzw. Hilfsmittel kaufen, mit denen man seinen Körper à la Deus Ex aufrüstet. Nur sollte man daran denken, dass sich so ein Bein nicht mehr austauschen, sondern lediglich aufrüsten lässt – wer sich unters Messer legt, sollte sich das gut überlegen. Ihr wollt euer eigenes Szenario entwerfen? Kein Problem, wenn ihr genug Zeit in den Editor investiert, der allerdings wesentlich unzugänglicher ist als jener von Neverwinter Nights.

Fazit

Shadowrun Returns ist ein rundenbasiertes Rollenspiel alter Schule, das mich aufgrund der sehr guten Dialoge solide unterhalten hat. Wer die Cyberpunkwelt aus den Romanen oder vom Pen&Paper her schätzt, wird sich zwischen mordenden Elfen, eitlen Trollen und jeder Menge Sarkasmus wohl fühlen. Aber obwohl die Serienkiller-Jagd neugierig macht, wird man streng linear durch die Story gelotst, kann weder Routen noch Fraktionen oder Handlungen beeinflussen und fühlt sich auch hinsichtlich der Erkundung im Gelände eingeschränkt. Die isometrische Kulisse hat zwar ihre malerischen Ecken, wirkt aber viel zu klein und steril; es gibt kaum etwas zu entdecken. Es macht zwar Laune, sich mit seiner bis zu vierköpfigen Party samt Drohnen und Magie durch Seattle zu kämpfen, aber die Gefechte bieten mehr Waffen-Schnickschnack als taktische Tiefe, zumal Kollisionsabfragen, Reichweitenberechnung sowie KI-Verhalten zu wünschen übrig lassen. Unterm Strich ein durchwachsener Auftakt mit mehr erzählerischen als spielerischen Stärken. Angesichts von Klassikern wie Arcanum oder Fallout dürfte dieses Shadowrun vor allem für ältere Semester wie ein zu spät geborenes Leichtgewicht wirken. Ich bin dennoch gespannt, was die Entwickler in Zukunft verbessern und wie sich die ersten Abenteuer der Spieler machen – dank integriertem Editor sowie starker Lizenz sollte Nachschub kein Problem sein.

Pro

  • Einstieg mit Serienkiller-Story macht neugierig
  • stimmungsvolles Cyberpunk-Szenario mit Magie, Hightech & Fantasy
  • Slang & Mentalität der Shadowrun-Welt werden getroffen
  • sehr gute, sehr viele Texte und Multiple-Choice-Dialoge
  • je nach Charakter/Fähigkeiten andere Antworten möglich
  • Party-Taktik mit bis zu vier Charakteren
  • komplett freie Charaktererstellung mit fünf Rassen; sechs Archetypen
  • Charakterentwicklung mit vielen Fähigkeiten
  • coole Fähigkeiten & Begleiter (Hacking, Drohnen, Geister etc.)
  • vier Schwierigkeitsgrade
  • Editor für eigene Abenteuer

Kontra

  • streng lineare Handlung
  • über weite Strecken schwache Gegner-KI
  • zu wenig taktische Möglichkeiten im Kampf
  • inkonsequente Schusslinien /Deckungsabfrage
  • Waffen-Balancing wirkt unausgegoren (Nah/Fernkampf; Schrot/Gewehr)
  • teilweise sterile Kulissen ohne Interaktion, mit zu wenig Animation
  • kein manuelles Speichern
  • kein Tagebuch zum Nachschlagen
  • Kamera nicht drehbar, nur statische Portraits
  • oberflächliche FAQ/Hilfemenüs
  • fummeliges Ausrüstungsmanagement; kleine Interface-Bugs
  • nur englische Texte, kein Sprachausgabe

Wertung

PC

Solides Rollenspiel alter Schule: erzählerisch stark, aber streng linear und im Rundenkampf nicht anspruchsvoll genug.