Sunset Overdrive - Test, Action-Adventure, XboxOne, PC
War ja klar, dass das nicht gut geht. Seit Jahren warnt mich Kollege Dieter vor ungesunden Energy-Drinks, doch in Sunset Overdrive sind die Lebensmittel-Designer einen Schritt zu weit gegangen. Vielleicht hätte der Mega-Konzern Fizzco doch einen Teil des Budgets in Gesundheits-Tests investieren sollen, denn das neue Aufputschmittel Overcharge Delirium XT hat sämtliche Konsumenten im Handumdrehen in aufgeblähte Limonade-Zombies (genannt O.D.) verwandelt. Während die Biester grunzend die Stadt bevölkern, macht der namenlose Held das Beste aus der Misere: Vorher steckte er in der Tretmühle prekärer Beschäftigungen – in der Anarchie der Apokalypse kann er dagegen frei durch die Stadt randalieren.
Spaß mit Limonade-Zombies
Die mir freundlich gesinnten Überlebenden sehen nur marginal weniger wahnsinnig aus als die Untoten: Besonders gut getroffen ist ein Grüppchen arroganter Technik-Hipster, die gelangweilt in ihrer Basis herumliegen und ausschließlich per Handy-Chat kommunizieren. Da nur sie mir einen Propeller für mein geplantes Flucht-Flugzeug beschaffen können, muss ich ihnen erst einmal mehr oder weniger nutzlose Dinge beschaffen, um ihre Stimmung zu heben. Der weibliche Roboter-Geek z.B. vermisst seinen knuffigen Robo-Hund, den ich auf dem Rückweg aus dem zombieverseuchten Park als erstaunlich starken KI-Kämpfer befehligen kann. Einer ihrer Mitbewohner ist ein Marken-Fetischist, der nur sündhaft teures Mineralwasser trinkt – also muss ich zunächst einmal über viele verseuchte Becken und Rohre "skaten", um die mit Zombies verstopften Rohre freizupusten und die Wasserabfüllung erneut in Gang zu bringen.
Hipster, Samurais und hängengebliebene LARPer
Die ungewöhnliche Steuerung erfordert eine lange Eingewöhnungszeit: Mein erster Impuls war, wie in Gears of War & Co. in Deckung zu laufen und die Biester geschickt mit meinen Wummen einzudecken, doch das erwies sich schnell als falsche Strategie. Je mehr ich spielte, desto effektiver blieb ich in der Luft und desto intuitiver fand ich die Schienen sowie die als Sprungbrett umfunktionierten Gegenstände in der Welt. Insomniac hat mit Sunset City einen tollen Abenteuerspielplatz geschaffen: Runde Hochhaus-Komplexe, oberirdischen Stromleitungen, Zäune und vieles andere ist wie gemacht für Skating-Einlagen. Einfach das Knöpfchen drücken und schon schliddere ich sicher darauf entlang. Das „Bouncen“ funktioniert ähnlich simpel: Runde Büsche, Autos und Unmengen anderer Dinge schleudern mich hoch in die Luft. Die geschwungenen Formen, kräftigen Farben und die leichte Verwitterung an den fantasievoll gestalteten Betonbauten erinnern frappierend an die sich häufenden Discotheken-Ruinen in der italienischen Provinz. Spiegel Online hatte vor einigen Wochen eine Bilderserie des Fotgrafen Antonio La Grotta über die wundersam geformten Tanztempel , mit denen italienische Architekten in den Achtziger und Neunziger Jahren ihre wildesten Ideen verwirklicht haben – und die mittlerweile leer stehen und verfallen. Nur ein Zufall?
Wer braucht schon den Boden?
All das lässt sich einfach und elegant abwickeln, wenn man die passenden Tasten im richtigen Rhythmus drückt. Die Akrobatik macht das Treffen der Gegner natürlich zu einer besonderen Herausforderung, also haben die Entwickler der Steuerung eine starke aber sinnvoll dosierte Automatik-Anpeilung verpasst. Auch im direkten Umkreis des Fadenkreuzes treffe ich meine Gegner – die grobe Richtung muss allerdings stimmen.
Timing ist alles
Wenn ich zwischen akrobatischen Aktionen nicht den Boden berühre, steigt außerdem der Kombo-Zähler, der auch durch Kills befeuert wird. Erhöht sich meine Style-Stufe, profitiere ich kurzzeitig von nützlichen kleinen Extras. Die Waffen besitzen so genannte Amps, also Verstärker, die bei stilvollem Gehüpfe für Extra-Schaden sorgen. Je nach vorher ausgerüstetem Amp erscheinen überspringende Blitze oder andere Gemeinheiten. Auch meine Figur entwickelt durch vorher zugeordnete Verstärker Superkräfte: Plötzlich bewirkt jeder Trampolin-Sprung z.B. eine große Explosionswelle, welche die herbei wankenden Gegner auslöscht – praktisch! Dazu lassen sich noch eine ganze Reihe weiterer Extras freischalten, die je nach Vorliebe an unterschiedlichen Statuswerten schrauben.
Stilvolles Metzeln
Dem Spaß am Metzeln trübt das aber kaum: Auch wenn man sich auf wenige Waffen beschränkt, macht es richtig Laune, sich durch die Horden zu ballern. Eine klare Stärke ist auch der Humor: Mein Held lässt immer wieder selbstironische Sprüche vom Stapel, wenn es zu hahnebüchen oder schnulzig wird: „Oh nein, jetzt kommt bestimmt die unvermeidliche charakterbildende Zwischensequenz!“ oder „Vielleicht schaffe ich es auch nicht, aber dann bekommen wir wenigstens ein paar coole Respawn-Animationen zu sehen.“ Recht hat er – nach einem Tod wankt die Spielfigur aus einem Sarg, fällt durch ein Portal, landet in einem Shuttle oder zieht jede Menge andere Slapstick-Aktionen ab. Auch meine Auftraggeber wirken herrlich grotesk. Ein paar hängen gebliebene Live-Rollenspieler denken z.B., sie lebten im zwölften Jahrhundert und unterhalten sich ähnlich geschwollen wie in Game of Thrones.
Wider den unnötigen Ernst
Wer eine stringente Geschichte braucht, um sich zu motivieren, kommt nicht auf seine Kosten – meiner Meinung nach passt der selbstironische Humor aber ohnehin besser zum Spiel. Im letzten Viertel gibt es trotzdem einen Dämpfer, wenn die Qualität des Missionsdesigns nachlässt. Auf dem Weg zu einem besonders starken Nahkampf-Schwert musste ich z.B. immer wieder vorgegebene Gebiete von Gegnern säubern – nicht besonders spannend. Im Gegenzug wurde ich aber mit einigen coolen Bosskämpfen gegen gigantische Fizzco-Monstrositäten entschädigt, die wild durch die Stadt marodieren. Einem zum Zombie-Drachen mutierten Samurai muss ich z.B. durch die halbe Stadt folgen, bevor ich auf seinem Schweif entlang grinden konnte.
Zombie-Drachen, Zeppeline und andere Monstrositäten
Cool ist auch ein schnippischer Robo-Zeppelin in Form des Fizzco-Maskottchens, den ich nur über einige kreisrund nach oben führende Schienen erreiche. Die solide, aber nicht gerade spektakuläre Technik kann übrigens nicht mit dem coolen Art-Design mithalten: Die Action läuft zwar fast immer flüssig, die Kombination aus 30 Bildern pro Sekunde und auffälligen Pixel-Kanten ist für die Augen auf Dauer aber ein wenig anstrengend. Dazu kommen gelegentlich nachladende Texturen und ein leichter Grafikaufbau in der Ferne. Gegen das sehr saubere und visuell beeindruckende Infamous: Second Son zieht das Spiel grafisch deutlich den Kürzeren.
Das relativ kleine Sunset City besitzt übrigens genau die richtige Größe fürs Spielprinzip. Alle Landzungen der Insel lassen sich schnell erreichen, sind aber trotzdem vollgestopft mit charakteristischen Bauten, kleinen Parks, Baustellen, einem Hafen und vieler Möglichkeiten zum Grinden und Hüpfen. Wer keine Lust auf lange Trips hat, kann die Schnellreise-Funktion nutzen. Ich habe meist darauf verzichtet, weil es auf dem Weg viele interessante Ecken und Unmengen von Sammelkram zu entdecken gibt. Insomniac hat es mit der Zahl der versteckten Extras zwar ein wenig übertrieben – aber immerhin helfen die stinkenden Schuhe, Klorollen und andere Dinge beim Brauen neuer Amps. Wer will, kann sich beim Waffenhändler mit Hilfe von Overcharge-Dosen auch eine Karte mit den Fundorten zulegen. Neben den mal mehr oder weniger spannenden Story-Missionen dürfen natürlich auch Sidequests nicht fehlen.
Muckelige Größe
Noch besser gefallen mir die in der Welt verstreuten Zeit-Herausforderungen, in denen es fast nur auf akrobatische Fähigkeiten ankommt. Unter Zeitdruck schliddere ich über die Brückenseile, springe durch Ringe, hüpfe von Boot zu Boot und gleite über das Wasser. Hinterher sehe ich auf Anhieb, wie gut ich im Vergleich zu meinen Freunden und dem Rest der Welt abgeschnitten habe.
Vernetztes Chaos
Um mich direkt mit anderen Spielern zu messen, muss ich ins Chaos-Kommando wechseln. Dort versuchen sich bis zu acht Spieler kooperativ an mehreren Aufgaben, bevor die Runde schließlich mit einer Brauerei-Verteidigung gipfelt und die effektivsten Spieler an der Spitze der Bestenliste stehen. Hier entfaltet sich meist ein hektisches aber lustiges Chaos: Während wir z.B. über die Ränder der Kläranlagen-Becken rauschen, decken wir die O.D.s mit Unmengen von Explosivmaterial ein. Danach geht es darum, wer sich am effektivsten durch einen Skate-Park bewegt, um leuchtende Punkte einzusammeln. Zwischendurch wird abgestimmt, zu welchem der zwei Zufallsziele die Chaostruppe als nächstes durch die Stadt zieht.
Explosions-Overkill
Fazit
Endlich wieder richtig schöne durchgeknallte Arcade-Action abseits kleiner Indie-Titel! Das Wagnis von Insomniac und Microsoft hat sich gelohnt, die ungewöhnliche Mischung geht auf: Es dauerte zwar mehrere Stunden, bis das pausenlose Skaten und Hüpfen in Fleisch und Blut überging, doch dann fühlte es sich unheimlich gut an, blitzschnell über die Dächer der toll designten Hafenstadt zu rauschen und ganze Horden grunzender Limonade-Zombies mit stilvollen Kombos zu zerbomben. Auch der rotzige Punk-Soundtrack und die omnipräsente Selbstironie passen prima. Allein schon die Missionsziele sind mitunter derart bekloppt, dass sich sogar mein namenloser Held darüber aufregt. Sicher: Es gibt ungeschliffene Ecken und Kanten wie einige monotone Missionen oder die nicht ideale Waffenbalance. Im Gegenzug hatte ich aber nie das Gefühl, einfach nur einen weiteren Action-Titel in einer offenen Welt vor mir zu haben. Sunset Overdrive besitzt genügend Persönlichkeit, dass ich die Stadt auch nach dem Durchzocken weiter unsicher machen möchte. Wer Lust auf einen etwas anderen, arcadigen Action-Overkill hat, ist in Sunset City also bestens aufgehoben!
Pro
- arcadiges Spielgefühl durch Ballern, Skaten und Hüpfen
- fantasievoll geschwungene Betonbauten werden zum Skate-Spielplatz
- hochgradig groteske Figuren und Aufgaben
- selbstironische Sprüche nehmen gekonnt das Genre auf die Schippe
- Unmengen alberner Respawn-Animationen
- rotziger Punk-Soundtrack passt wie die Faust aufs Auge
- viel zum Aufrüsten und Personalisieren von Waffen und Fähigkeiten
- lustig-chaotische Koop-Schlachten im Internet
- coole Bosskämpfe gegen gigantische Monster
- spaßige Akrobatik-Herausforderungen mit weltweiten Bestenlisten
Kontra
- einige Missionsziele wiederholen sich zu oft
- Steuerung benötigt lange Eingewöhnung
- Schwächen beim Waffen-Balancing
- gelegentlicher Grafikaufbau in der Ferne
- etwas unruhiges Bild mit vielen Alias-Treppchen