Citizens of Earth - Test, Rollenspiel, PlayStation4, PS_Vita, 3DS, PC, Wii_U
Machen wir uns nichts vor: Das kanadische Team von Eden Industries hat es ernst gemeint, als es sagte, dass man mit Citizens of Earth (CoE) ein Rollenspiel in der Tradition der Super-Nintendo-Titel entwickeln wolle. Um genauer zu sein, hat man sich das erst mit der Virtual-Console-Version auf Wii U in Europa erhältliche Earthbound als Blaupause ausgesucht. Und dass eben dieses Earthbound ein mehr als veritables Vorbild ist, wird nicht nur dadurch angezeigt, dass das US-Modul (inkl. Verpackung) auf Ebay bis zu 700 US-Dollar gehandelt wird. Doch Tradition hin, Retro-Charme her - die Kulisse wäre mit einem anderen Ansatz besser bedient gewesen und wird viele potenziell interessierte Spieler abschrecken.
Das hässliche Entlein
Vizepräsident der Welt
In der Rolle des frisch gebackenen Vize-Präsidenten der Welt (!) wacht man eines morgens zu Hause bei Muttern in seinem Zimmer auf und wechselt ein paar geschmeidige Worte mit ihr und dem jüngeren Bruder, bevor man zusammen mit ihnen als Gruppe das Gebäude verlässt. Dort jedoch warten erste Demonstranten, die von einem Wahlkampfgegner zusammengetrommelt wurden, der sich als denkbar schlechter Verlierer zeigt. Wegen dieser Demo hat die Polizei die Zufahrtswege zu anderen Stadtteilen bzw. dem Umland abgeriegelt - man ist in einer recht kleinen Tutorial-Umgebung unterwegs, um erste Missionen zu lösen. Wie z.B. das Suchen nach seinem Kontrahenten, der die Bürger aufgewiegelt hat, was schnell zu Handgreiflichkeiten führt. Oder das Lösen des Geheimnisses um die geheimnisvollen Getränke, die den Kaffee-Laden Moonbucks verlassen, bevor dieser sein Fundament hinter sich lässt und gen Himmel verschwindet. Im Laufe der umfangreichen und vollkommen hanebüchenen, aber dadurch auch sehr charmanten Geschichte, kommt man einigen Verschwörungen auf die Spur, sorgt für ein politisches Erdbeben und muss sich letztlich als Weltenretter mit Verhandlungsgeschick beweisen. Die Fantasie, die Eden beim Artdesign fehlte, wird hier im Überfluss präsentiert.
Mutter tröstet dich
Folgt man den manchmal etwas zu schnell durchrauschenden Texten, wird das absurde, mitunter herrlich triviale Element wieder aufgegriffen, das sehr gut zur Satire-Basis passt. Die Mutter z.B. ist die erste Heilfigur und gibt einem Lebenspunkte durch Umarmen zurück, während ihre Angriffe meist daraus bestehen, die Feinde in Grund und Boden zu schimpfen oder sie mit einem Schuldkomplex zu bearbeiten. Der Verschwörungstheoretiker hingegen, den man wie 40 andere skurrile Charaktere für sein Vorhaben rekrutieren darf, kann Gegner mit einer Diskussion verwirren oder sie mit einem Tazer bearbeiten. Das Schulmaskottchen hingegen zeigt seine Stärken vor allem beim Anfeuern der Mitstreiter, während der Bäcker einerseits die Gegner flambieren kann, aber seine Energiepunkte lieber für Backwaren als Heilmittel aufsparen sollte. Durch die mitunter sehr unterschiedlichen Herangehensweisen der einzelnen Figuren kommt eine starke taktische Ebene ins Spiel. Zwar gibt es bei der Gruppenzusammenstellung keine Sym- oder Antipathien, die man beachten muss, doch mechanisch harmonieren einige Charaktere besser miteinander - was man bei den Bosskämpfen definitiv einkalkulieren sollte: Wenn ein adipöser Fast-Food-Fan einen Herzinfarkt erleidet (auch hier kommt die Satire voll zur Geltung) und mit seinen Krämpfen einen Angriff auf die gesamte Gruppe loslässt, sollte man mindestens eine Figur dabei haben, die entweder Resistenzen stärken oder KO gegangene Mitstreiter wieder beleben kann.
Lieber Englisch
Citizens of Earth ist gut gefüllt mit dieser Art Wortwitz, die sich erst beim Nach- bzw. Um-die-Ecke-Denken erschließt und der im Deutschen nur selten abgebildet wird. Da Humor aber angesichts der spröden Kulisse und trotz moderner Interpretation sehr konservativen Kampfmechanik eines der definierenden Merkmale des vizepräsidialen Abenteuers ist, sind anglophile RPG-Fans leicht im Vorteil und haben definitiv mehr vom Spiel. Ganz im Gegensatz von Rollenspielern, für die eine stimmungsvolle Musikuntermalung wichtig ist. Ähnlich wie die visuelle Seite ist auch die akustische kaum mehr als zweckmäßig. Die Kampfgeräusche sind mager. Die Musik ist langweilig, variantenarm und vergessenswürdig.
Doch auch wenn man nicht alle Andeutungen und humoristischen Hinweise versteht und die Akustik mitunter abschreckt, gibt es viele Punkte zum Genießen. Denn bevor man die Qual der Wahl hat, wen man nun mitnimmt um die zahlreichen Haupt- und Nebenmissionen anzugehen (Wechsel sind jederzeit außerhalb des Kampfes möglich), muss man alle Figuren erst einmal davon überzeugen, sich in den Dienst des Vizepräsidenten zu stellen. Und nur selten ist es so einfach wie bei
dem Obdachlosen, der sich mit entsprechend umfangreich ausgeschütteter barer Münze dazu entschließt, sich von seiner Karton-Unterkunft zu verabschieden und einen zu unterstützen. Für die meisten anderen muss man besondere Aufgaben erfüllen, bevor sie sich einem anschließen. Die laufen zwar meist auf das Finden bestimmter Orte, Gegenstände oder Feinde hinaus, werden aber hinter mitunter kryptischen Andeutungen versteckt, die man erst einmal entschlüsseln muss. Und mitunter muss man höllisch aufpassen, um sich nicht zu verzetteln. Denn eine Figur z.B. schließt sich einem erst dann an, wenn alle anderen Charaktere Stufe 20 erreicht haben - wohl dem, der nur wenige Bürger dabei hat.Missionsflut
Ebenfalls schön: Nahezu alle NPCs haben eine Sonderfunktion, die sich nachhaltig auf die Spielsysteme auswirkt bzw. wie bei den Zelda-Spielen neue Gebiete zugängig macht. Das können kleine Annehmlichkeiten sein wie der Obdachlose, mit dem man Mülltonnen nach Wertgegenständen durchsuchen kann. Da ist der Bäcker, bei dem man schon vor seiner Rekrutierung Backwaren als Heiltrankersatz kaufen kann. Beim Lehrer kann man gegen harte (In-Game)-Währung seine Figuren in den Unterricht schicken, um Erfahrungspunkte zu sammeln - für den jeweiligen Zeitraum stehen sie allerdings nicht zur Verfügung. Man kann das Wetter oder die Tageszeit verändern, selbst der Schwierigkeitsgrad kann manipuliert werden. Bei der Architektin kann man Brücken in Auftrag geben, dir vorher nicht erreichbare Areale verfügbar machen. Die Pilotin kann einen als Teleportersatz direkt an Hubschrauberlandeplätzen absetzen usw. So bekommt das an der Oberfläche derart spröde Retro-Rollenspiel eine unerwartete, wenngleich meist optionale Tiefe - schön!
Weitgehend vorgegeben
Fazit
Wer darauf wartet, dass aus dem hässlichen Entlein ein strahlend schöner Schwan wird, kann sich in den Winterschlaf begeben. Citizens of Earth ist visuell und musikalisch in jeder Hinsicht auf allen Systemen unspektakulär. Das Artdesign orientiert sich an schlechten Karikaturen, die Animationen sind sehr spartanisch. Die Kampfhintergründe sind mitunter enervierend, die Gebiete der offenen Welt schwanken zwischen sehr klein und mittelmäßig klein und werden durch Ladezeiten unterbrochen. In diesem Bereich ist das Indie-Team von Eden Industries mit dem Vorhaben, die gute alte Zeit der Super-Nintendo-Rollenspiele aufleben zu lassen, über das Ziel hinaus geschossen. Inhaltlich hingegen hat die sich am Retro-Geheimtipp Earthbound orientierende Politsatire im RPG-Pelz viel zu bieten. Jedem der 40 Bürger, die man rekrutieren kann, kommt nicht nur in der Gruppe eine andere Rolle zu, sondern viele sorgen auch außerhalb der Kämpfe für Modifikatoren: Schwierigkeitsgrad, Tageszeit, Wetter, Buffs, Teleport und vieles mehr. Und das alles wird mit erstaunlich viel Tiefgang verbunden. Dazu kommt eine herrlich absurde Geschichte, eine ansprechend breit gefächerte und nicht minder absurde Gegnerpalette, ein mal alberner, dann wiederum intelligenter Humor sowie ein umfangreicher Missions-Katalog. Sprich: Wer sich halbwegs mit der spröden Kulisse anfreunden kann, wird mit Citizens of Earth viel Spaß erleben. Ich bin jedenfalls froh, dass sich Atlus des auf Kickstarter gescheiterten Projekts angenommen und Finanzierung sowie Veröffentlichung sichergestellt hat.
Pro
- Artdesign orientiert sich an Polit-Karikaturen...
- über 40 Mitglieder ("Bürger") für die Party auffindbar
- sehr gut miteinander verbundene Spielsysteme
- abwechslungsreiches Gegner-Aufkommen
- ordentliche (englische)Sprachausgabe...
- Texte meist ordentlich übersetzt...
- sehr viel zu entdecken
- lässt immer wieder Erinnerungen an den SNES-Geheimtipp Earthbound wach werden
- beinahe jede Figur kann Spielelemente beeinflussen (Wetter, Tageszeit, Levelstrukturen etc.)
- gut eingesetzter Humor, der zwischen albern und intelligent wechselt
- Party reagiert je nach Zusammensetzung anders auf Bosse etc.
- passable Nutzung des Touchscreens (3DS)
- abwechslungsreiches Missionsdesign
Kontra
- ... zündet aber nicht
- spröde Kulisse
- magere Animationen
- augenunfreundliche Hintergründe im Kampfbildschirm
- ... die sich im Kampf aber schnell abnutzt
- ... dennoch bleibt Wortwitz immer wieder auf der Strecke
- belanglose Musik
- Charakter-Entwicklung vorgegeben