Sunset - Test, Adventure, Mac, PC

Sunset
05.06.2015, Benjamin Schmädig

Test: Sunset

In der Haut einer Zeitzeugin

Seit 2002 entwickeln Auriea Harvey und Michael Samyn Videospiele: Mit The Path erzählten sie ohne Kampf und Rätsel eine starke Geschichte, lange bevor Dear Esther Wellen schlug. In Luxuria Superbia ergründeten sie sinnliche Erfahrungen durch das Berühren eines Touchscreens. Während Abenteuer wie Gone Home mit den Mechanismen der Ego-Shooter aber das Erzählspiel weiter etablierten, verweigerte sich das Entwickler-Paar den vertrauten Standards. Sunset ist eine erste Annäherung.

"Was ist ein interaktives Kunstwerk, das auf Wettbewerb, Ziele, Belohnungen, Siege oder Niederlagen verzichtet?" Diese Frage stellt das belgische Künstler-Duo, das unter dem Namen Tale of Tales an interaktiver Kunst arbeitet. Die studierte Bildhauerin und der Grafikdesigner sind mit Videospielen aufgewachsen, haben an herkömmlichen Abenteuern aber kein Interesse. Sie suchen Erlebnisse abseits der Herausforderung an Fingerfertigkeit und Rätselraten. Auriea Harvey und Michael Samyn sind prominente Vertreter einer Generation, die das interaktive Medium nicht als Erweiterung von Film und Würfelglück versteht.

"Notgames"

Sie haben sich allerdings auch stur verhalten – jenen Spielern gegenüber, die aufgrund von deren Besonderheiten keinen Zugang zu ihren Werken fanden. Das schreiben sie selbst in der Kickstarter-Beschreibung zu Sunset, die mit mehr als 67.000 Dollar einen Teil der Entwicklung finanzierte. Doch warum sollte sich ein Spiel des belgischen Studios eigentlich nicht anfühlen wie ein Shooter? Immerhin liegen die entscheidenden Qualitäten weder in der Egoperspektive noch in der Steuerung.

Und so beobachtet man die Welt der frühen siebziger Jahre aus den Augen von Angela Burnes. Mit Gamepad oder W, A, S, D und Maus bewegt man sie durch das zweistöckige Penthouse-Appartement des Kunstliebhabers Gabriel Ortega. Dort hängen lange, gerade Jalousien senkrecht vor großen Fenstern, ineinander verdrehte Glassplitter lassen die Wand verspielt glitzern. Die im Boden versenkte Badewanne zeugt vom Luxus des

Das reich verzierte Apartment eines wohlhabenden Kunstliebhabers ist der einzige Schauplatz.
Gästebads, während schwungvoll gebogene Liegestühle zum Entspannen auf der Veranda einladen. Musik dringt aus klobigen Silberdecks: Radio und Schallplattenspieler sind in edles Holz eingelassen.

Ein klassisches modernes Drama

Der wohlhabende Ortega hat Burnes als Hausmädchen angestellt – Angela, die als studierte schwarze US-Bürgerin in das fiktive südamerikanische Anchuria kam, wo weder Klassenunterschiede noch Rassenkämpfe eine Rolle spielen. Deren Abschluss aber von dem Regime nicht anerkannt wird, das sich während ihres Aufenthalts an die Macht geputscht hat. Jetzt darf sie das Land nicht verlassen, also arbeitet sie jeden Tag die Aufgaben ihres Arbeitgebers ab. Sie putzt Fenster, räumt auf, bereitet das Essen vor und sortiert seine Unterlagen.

Eine Stunde bleibt ihr dafür, oder 30 Spielminuten. Und in dieser halben Stunde hat man freie Hand: Man kann die Aufgaben erledigen oder sie ignorieren. Man kann am Klavier üben – mit der Zeit spielt Angela tatsächlich besser. Man kann, muss aber nie, sich in einen Sessel fallen lassen, wo das Hausmädchen Tagebuch führt. Man kann die Statuen, Gemälde und Bücher betrachten, die Ortega im Überfluss hortet. Ein Jahr lang begleitet man Angela so bei ihrer täglichen Arbeit. Nicht jeder Tag ist ein spielbarer; wer Sunset in Ruhe erlebt, kann aber knapp zehn Stunden lang damit beschäftigt sein.

Und vor dem Balkon der Penthouse-Suite wütet die Rebellion. Denn Diktator Miraflores wehrt sich gegen Aufständische, die sein Regime entmachten wollen. Zwitschern im Mai '72 noch Vögel auf der Terrasse, donnern bald schon die Jets einer Militärparade übers Dach. Rauchfahnen steigen aus gegenüberliegenden Häusern, die Explosion einer Bombe lässt eine Scheibe des Appartements splittern. Eine große Laufschrift verkündet die Schlagzeilen der regimetreuen Propaganda. Zu Beginn des Jahres 1973 reichen die Spuren des von Gewalt zerrütteten Anchuria schließlich bis in Ortegas Wohnung.

Rauchzeichen im Paradies

Als gebildete Frau, die die Rassenunruhen in Nordamerika miterlebt hat, widerstrebt Angela die Herrschaft Miraflores'. Mit ihrem Arbeitgeber liegt sie deshalb auf einer Welle; sie findet wichtige Dokumente in seinen Unterlagen, die ihn mit den Rebellen in Verbindung bringen. Soll sie die Hinweise aus Angst verstecken oder ihm zu verstehen geben, dass sie auf seiner Seite ist? Der Kunstliebhaber ist kein Politiker, aber ein einflussreicher Mann. Könnte er die Freilassung gefangener Rebellen veranlassen? Doch Ortega hadert, sucht nach Hilfe bei der Entscheidung über seine Rolle in dem Konflikt. Könnte Angela ihn bestärken, ihn vielleicht mit romantischen Avancen locken? Wie weit würde dieser Mann für sie gehen?

Peru könnte Tale of Tales als Inspiration für das fiktive südamerikanische Land gedient haben. In "Kohlköpfe und Könige" prägte William Sydney Porter zwar den den Begriff "Bananenrepublik" und bezog ihn auf das von ihm erfundene Anchuria - der Name des Diktators in Sunset, Miraflores, deckt sich aber mit einem gleichnamigen Gebiet in Peru.

Was ist Anchuria?

Der Wohlhabende und seine Hausdame werden sich wohl nie begegnen. Sie kommunizieren über Notizzettel, die Ortega hinterlässt und auf die man entweder warmherzig oder pragmatisch antworten kann, aber nie muss. Auch Arbeiten im Haushalt erledigt Angela besonders aufmerksam, mit wenig Aufwand oder gar nicht.

Auch in Peru regierte ein Diktator: Juan Velasco Alvarado kam 1968 durch einen Putsch an die Macht, die er 1975 wieder verlor.

Die Faulen und das Lob

Beeinflussen diese vielen kleinen Entscheidungen die Handlung? Kaum. Tatsächlich muss man nicht einmal die notwendigsten Dinge verrichten, um trotzdem Lob für gute Arbeit zu erhalten. In diesen Details wirkt Sunset unangenehm starr. Notizen in Form kleiner Rüffel hätten genügt, um das Wirken Angelas, oder vielmehr: ihr Nichtwirken, ausreichend zu kommentieren. Harvey und Samyn unterstellen ihren Spielern ähnlich wie den Helden eines Shooters zwar zurecht ein Grundbedürfnis, das Spiel überhaupt zu spielen. Trotzdem ist das Fehlen solcher Kleinigkeiten schade.

Im Kleinen ist die fehlende Konsequenz ärgerlich – im Großen ist allerdings wichtig, dass Angela ihr Umfeld zwar beeinflussen kann, auf das Schicksal Anchurias aber keinen direkten Einfluss hat. Ein tragischer Moment unterstreicht eindrucksvoll ihre Machtlosigkeit. Sie wird den Aufstand nicht gewinnen; allein der Gedanke ist im Gegensatz zum Gros der Videospiele absurd.

Wie stark ist ein Streichholz?

Oder doch? Wie wichtig sind die kleinen Entscheidungen des Alltags? Wie viel bedeuten sie ihr selbst? Denn darum geht es in Sunset: um den Augenblick. Um das Hier und Jetzt, das in einem glaubwürdigen Gesellschaftsportrait vielschichtiger ist als die Entscheidung "Scharfschützengewehr oder Schrotflinte?". Selten hat ein Videospiel dabei so eindringlich einen alltäglichen Widerspruch beschrieben wie diesen: Sie als gebildete Vertreterin einer aufstrebenden Moderne, er als Hüter der Tradition. Es ist nur eins der Themen, die diesem virtuellen Raum Tiefe verleihen.

Als Angela im Mai 1972 an ihrem neuen Arbeitsplatz ankommt, ist das Appartement leer. Es liegt kein Teppich, keine Möbel stehen, weder Lampen noch Gemälde hängen an ihrem Platz. Erst wenn sie die ersten Kisten auspackt, füllt sie die Suite mit Leben. Mit Notwendigkeiten, mit Kunst, mit Musik. Man macht sich die Spielwelt

Die Musik der 70er

Virtual Reality

Jazz, Oper und Volksweisen: Die Musik des Spiels beschreibt den Zeitgeist einer ganzen Epoche - komponiert wurden sämtliche Stücke von Austin Wintory (Journey, The Banner Saga), der mit Sunset einen der besten Soundtracks des bisherigen Jahres geschrieben hat.

Das komplette Album gibt es auf Steam und zum kompletten Probehören auf Bandcamp .zu eigen. Man lauscht zeitgenössischem Jazz und den Arien einer Oper, während man nach getaner Arbeit die Kunstwerke an Ortegas Wänden ausgiebig wirken lässt.

Man stellt den Kalender auf das aktuelle Datum, jeden Tag aufs Neue. Man wächst hinein in alltägliche Dinge , die den Schauplatz zu einem vertrauten Ort werden lassen. Manche Abläufe sind zwar zu strikt vom  Kontext abhängig, trotzdem spürt man diese Welt mit allen Sinnen und entwickelt ein Gefühl für die Themen, von denen sie durchdrungen ist. Anders als in Dear Esther und Gone Home wird man zu einem Teil des fiktiven Zeitgeschehens, anstatt wie ein Forscher im Nachhinein zu ergründen. Spätestens wenn Gabriel Ortega einige Wochen lang nicht nach Hause kommt, Angela jeden Tag die Post auf dem Tisch ablegt und alle Freiheiten in seinem Heim genießt, kommt man mit ihr an einem echtem Zuhause in einer echten Welt an.

Im Mittelpunkt steht nicht der gesellschaftliche Umsturz, sondern eine ganz normale Person.

Diese Tiefe hätte Tale of Tales allerdings auch technisch erreichen müssen, denn Sunset leidet unter ärgerlichen Schwächen, die das emotionale Erleben schmälern. Die volle Detailstufe der stilvollen, technisch aber sehr einfachen Grafik benötigt etwa einen unverschämt starken Rechner. Während die Steuerung mit dem Gamepad zudem einwandfrei funktioniert, ist das Konfigurieren eines Controllers umständlich und stellenweise unverständlich.

Wenn Wirklichkeit ins Stottern kommt

Beschreibungen zu manchen Objekten verschwinden außerdem, sobald man versehentlich ein daneben liegendes anvisiert und Entscheidungen darüber, wie Angela ihre Arbeit ausführt oder auf eine Notiz ihres Arbeitgebers antwortet, werden über das Bewegen des Blickwinkels getroffen – was nicht aus jeder Position einwandfrei funktioniert. Vielleicht hätte Tale of Tales bewährte Werkzeuge nutzen sollen, die eine ähnliche Umgebung wie das Apartment Ortegas zu einer Kulisse ohne ärgerlichen Schluckauf hätten werden lassen.

Fazit

Wie erlebt ein gewöhnlicher Mensch einen mit Gewalt ausgetragenen Konflikt? Dieser Frage wollten Michael Samyn und Auriea Harvey in Anlehnung an typische Ego-Shooter und als Gegenentwurf zu deren Klischees nachgehen. Ihre Antwort: als Zeitzeuge des alltäglichen Geschehens, als emotionaler Teilhaber einer vielschichtigen Epoche. Die Welt dieses Spiels ist voller Geschichte, Kunst und Dramatik, aber ohne Eile, Wertung oder die Notwendigkeit einer Entscheidung für ein vom Spieler gewähltes Ideal. „Wir erzählen keine Geschichten. Wir erschaffen Realitäten“, sagen die Entwickler. Ihre Immersion soll durch das Erleben entstehen – und genau das gelingt mit Sunset. Bedauerlich, dass nicht alle Handlungen wenigstens kleine Folgen haben und ausgerechnet technische Schwächen das vollständige Eintauchen verhindern. Denn das Anfassen und Beobachten in dieser interaktiven Welt vermittelt das außergewöhnlich intensive Gefühl eines virtuellen Daseins!

Pro

  • starke emotionale Bindung an Charaktere, Umgebung und politische Ereignisse
  • hervorragender Soundtrack mit fiktivem Jazz, Oper, Volksweisen u.m.
  • viele persönliche Freiheiten und Entscheidungen, welche die große Geschichte kaum beeinflussen

Kontra

  • schwache Technik von Grafik und Steuerung, einschließlich kleiner Programmfehler
  • mögliche Handlungen werden zu oft vom Kontext bestimmt

Wertung

PC

Sunset erzählt die Geschichte eines bewaffneten Konflikts aus den Augen eines gewöhnlichen Zivilisten - ein eindrucksvolles interaktives Erlebnis!