Her Story - Test, Adventure, iPad, PC, Mac, iPhone

Her Story
30.06.2015, Jörg Luibl

Test: Her Story

Ein Verhör mit sieben Siegeln

Dass große Publisher kaum noch Risiken eingehen und selbst kreative Projekte, die bei Fans sehr gut ankommen, lieber einstampfen als finalisieren, hat nicht erst Konami mit Silent Hills bewiesen. Aber was solls? Freunde von ungewöhnlichem oder experimentellen Spieldesign kommen heutzutage zumindest im kleineren Rahmen sehr gut auf ihre Kosten. Und siehe da: Im Krimi-Abenteuer "Her Story" steckt sogar etwas von der Faszination eines Silent Hill. Mehr dazu im Test.

Her Story wurde von Sam Barlow entwickelt. Er hat u.a. bei den Climax Studios an Silent Hill: Shattered Memories gearbeitet, das 2010 auf Wii sowie später auf PlayStation-Systemen für spannenden Horror sorgte und 86% im Test einheimsen konnte. Das Spieldesign konzentrierte sich nicht nur auf Action und Erkundung, sondern auf psychologisch interessante Situationen: Man musste in Gesprächen und Therapiesitzungen einige scheinbar harmlose Fragen beantworten, was sich wiederum auf den Charakter, den Verlauf sowie die möglichen Auflösungen des Abenteuers auswirkte. Ihr kennt es nicht? Holt es nach!

Vom Horror zum Verhör

Man schaut auf den Desktop eines alten Polizei-Computers und beginnt die Recherche in einem Mordfall.
Hier schließt sich auch der Kreis zu "Her Story", denn es geht in diesem kleinen Spiel um ein interaktives Verhör mit offenem Ende. Ein Mann aus dem englischen Portsmouth wurde im Sommer 1994 ermordet. Was ist damals geschehen? Findet es heraus! Seine Frau meldete ihn als vermisst und wurde daraufhin mehrmals von unterschiedlichen Polizeibeamten verhört. Das Ganze wurde per Videokamera aufgezeichnet und archiviert. Bis hierher klingt das vielleicht nach einem gewöhnlichen Detektivspiel, aber Sam Barlow sorgt ähnlich wie in Silent Hill für eine kreative Storytelling-Erfahrung und eine mysteriöse Zeitreise.

Das Besondere ist: Man interviewt niemanden direkt und hat auch keine Zeugen zur Auswahl, sondern wühlt viele Jahre später in einem Computerarchiv der

Über Suchbegriffe kann man sich zig Videoclips ansehen, in denen die Frau des Mordopfers aussagt. Das Ganze wird im Stil der 90er Jahre inszeniert, als die Polizei die VHS-Aufnahmen machte.
Polizei, das lediglich die Aussagen der Frau anbietet. Dort wurden die VHS-Kassetten der sieben Verhörsitzungen mit ihr so fragmentiert und stenografiert, dass man per Texteingabe nach einzelnen Themen in über zweihundert Videoclips suchen kann, die manchmal nur ein paar Sekunden lang sind. Leider gibt es keine deutsche Übersetzung, aber mit solidem Schulenglisch sollte man die Recherche meistern können.



Ein Archiv mit sieben Siegeln

Man sitzt allerdings nicht vor einem modernen PC mit Googlefunktionen und Breitbild, sondern vor einem alten Polizeirechner mit Grünstich und gefühlten 15 Zoll. Wenn das Spiel startet, schaut man auf einen gewölbten Bildschirm mit schlechter Auflösung und leichten Spiegelungen - wer will, kann das Ganze schärfer stellen, aber dann geht der Röhren-Charme verloren. Man arbeitet auf einem Desktop mit zwei einleitenden Textdokumenten, einem Minispiel sowie dem geöffneten Polizei-Programm samt Suchleiste. Dort steht ein erster Begriff: "Murder". Bestätigt man die Eingabe, erscheinen fünf Videos in einer Reihe - und dort schauspielt Viva Seifert die Frau des Ermordeten großartig.

Viva Seifert ist eine britische Schauspielerin und Musikerin, die in der Band "Joe Gideo and the Shark" singt.
Dass sich der Einsatz von echten Schauspielern lohnt, hat nicht nur Heavy Rain demonstriert. Allerdings hat man es hier nicht mit Motion Capturing zu tun, sondern mit realen Aufnahmen - das mag ich eigentlich nicht, weil es ein Stilbruch und damit ein Stimmungskiller sein kann. Aber in diesem Fall verleiht es dem Ganzen einen angenehm dokumentarischen Charakter. Kaum hat man sich drei, vier Szenen mit der Frau angehört, entsteht aufgrund der extrem authentisch wirkenden Verhörsituation eine emotionale Verbindung. Obwohl sich die Räumlichkeiten bei der Polizei natürlich kaum ändern, wechseln Frisur, Kleidung sowie das Auftreten der Frau - mit einigen Überraschungen. Sie spielt auf der kompletten Klaviatur emotionaler Zustände, von trotzig bis ängstlich, keck bis schüchtern, genervt bis neugierig, gelangweilt bis wütend.

Überzeugendes Schauspiel

Die Neugier ist natürlich groß: Man weiß ja weder wer man selber ist, also warum man überhaupt ein Interesse an diesem Mord hat, noch was genau geschehen ist - das ist quasi ein Verhör mit sieben Siegeln. Man kann in alle Richtungen ermitteln und theoretisch jedes Wort eingeben, aber es werden immer nur fünf Videos angezeigt, obwohl vielleicht siebzig relevant sind - dann hilft nur, den Begriff zu wechseln oder ihn weiter einzugrenzen: Statt "simon" hilft dann vielleicht "simons parents" weiter. Und kaum schaut man sich die Videos an,

Zu Beginn der Ermittlungen ist der Begriff "MURDER" bereits eingegeben. Jetzt kann man "Search" antippen, um die Videoclips dazu zu sehen.
tauchen vielleicht andere Namen auf. So sammelt man weiter Sichworte und Fakten, um sich wie in einem Puzzle zunächst einen Rahmen über Beziehungen und Berufe der Beteiligten zu schaffen. Schön und gleichzeitig etwas unwirklich ist, dass es akustisches und/oder visuelles Feedback wie kleine Melodien oder Reflektionen auf dem Bildschirm bei bestimmten Treffern gibt - dann weiß man, dass man eine interessante Spur aufgenommen hat.

Trotzdem ist die Suche nach der Wahrheit aus zwei weiteren Gründen gar nicht so leicht: Erstens gibt es keine modernen Sortierfunktionen, die mich z.B. nur chronologisch vorgehen oder gar archivieren lassen. Bei der Recherche hilft lediglich, dass man die Videos beschriften und ein wenig ordnen kann. So lassen sich z.B. Uhrzeiten oder Begriffe direkt unter einem Clip notieren; alles Geschriebene wird dann automatisch in einer Suchliste gespeichert. Zweitens muss man die komplexe Persönlichkeit der Frau erstmal einordnen. Denn kaum glaubt man, dass man sie durchschaut hat, sorgt der nächste Videoclip vielleicht für einen Widerspruch oder gar einen Bruch in der bisherigen Analyse. Man wird also auch psychologisch überrascht und muss all die Mosaike mehrmals neu ordnen, um sich ein Bild zu machen. Es gibt  dabei keinerlei Rätsel oder andere klassische Spielmechaniken.

Man kann die vielen Videoclips beschriften, um sich wichtige Namen, Orte etc. zu merken und später über eine Suchliste weiter recherchieren zu können.
Aber je länger man notiert und wühlt, desto weiter öffnet sich ein Fenster in ein privates Milieu. Das lässt nicht nur auf die sozialen sowie familiären Zustände im englischen Portsmouth der 90er Jahre blicken, auf eine Kindheit sowie die Entwicklung von Beziehungen, auf schöne und tragische Momente, sondern auch tief in die Psyche einer Frau mit all ihren Sorgen, Gefühlen, Macken und Erinnerungen. Ich kann an dieser Stelle nicht auf die erzählerischen Hintergründe eingehen, weil jedes Stichwort natürlich sofort etwas verraten würde. Nur so viel: Diese Reise an der Tastatur lohnt sich. Es gibt nach knapp zwei Stunden zwar eine scheinbare Auflösung samt Abspann, aber dann hat man vielleicht noch nicht alles gesehen. Und es gibt zumindest bei einigen Suchergebnissen Momente, da wirft Silent Hill einen surrealen Schatten auf die rationale Recherche.

Fenster in ein privates Milieu

Finanziert wurde Her Story übrigens vom Indie Fund. Das ist eine Organisation, die von erfolgreichen unabhängigen Entwicklern gegründet wurde, um kommende Projekte zu unterstützen - und zwar auf andere Art als im klassischen Modell über einen Publisher. Mehr dazu auf der offiziellen Webseite .

Fazit

Freunde des kreativen Spieldesigns, der guten Geschichten und psychischen Untiefen: Her Story ist klasse! Je länger man in diesem Krimi-Adventure wühlt, desto weiter öffnet sich ein Fenster in ein privates Milieu. Das lässt nicht nur auf die sozialen sowie familiären Zustände im englischen Portsmouth der 90er Jahre blicken, sondern vor allem tief in die Seele einer Frau, die sehr überzeugend von Vivan Seifert gespielt wird. Und kaum glaubt man, die Frau durchschaut zu haben, sorgt der nächste der über zweihundert Videoclips mit einer Wendung für einen Widerspruch - freut euch auf erzählerische Überraschungen und eine bewegende Story. Nein, es gibt keine klassischen Spielmechaniken, weder Action noch Rätsel, denn man wühlt lediglich mit Suchbegriffen in einer Polizei-Datenbank. Aber in der Beschränkung auf das Wesentliche liegt hier die Kunst. Keine Bange, das ist kein l'art pour l'art: Es gibt eine Auflösung und dazu Momente, in denen Silent Hill seinen surrealen Schatten auf diese rationale Recherche wirft. Kann jetzt bitte jemand Sam Barlow sehr viel Geld geben, damit er nach diesem überzeugenden Storytelling-Experiment sein nächstes Abenteuer entwickeln kann? Danke.



Pro

  • spannendes Krimi-Adventure
  • kreatives Storytelling-Konzept
  • sehr gute Hintergrundgeschichte
  • einige erzählerische Überraschungen
  • überzeugende Schauspielleistung
  • charmantes Retro-Rechner-Flair
  • kleine surreale Momente
  • angenehme Musik

Kontra

  • nur auf Englisch
  • leider nur knapp zwei Stunden Spielzeit
  • surreale Ansätze hätten stärker sein können
  • bis auf Datenbanksuche kaum Interaktion

Wertung

iPad

Freunde des experimentellen Spieldesigns, der guten Geschichten und psychischen Untiefen: Her Story ist klasse!

PC

Freunde des kreativen Spieldesigns, der guten Geschichten und psychischen Untiefen: Her Story ist klasse!