Everybody's Gone to the Rapture - Test, Adventure, PC, PlayStation4
...rattert es aus dem Radio. Was hat diese Zahlenfolge zu bedeuten? Ein militärischer Geheimcode? Was sind das für komische Graffiti an den Wänden, die wie Brillen aussehen? Wo sind all die Menschen hin? Das sind nicht die einzigen Fragen, die man sich in der Rolle eines unbekannten Reisenden stellt - es gibt keine Vorgeschichte, man spaziert einfach mitten rein in ein Geheimnis. Nach etwas Erkundung weiß man lediglich, dass man sich im Jahr 1984 im Shropshire County befindet, das wie ein modernes Auenland anmutet.
One-Four, Zero-Four, Zero-Eight...
In Egosicht wandert man durch eine südenglische Landschaft, die im Sonnenlicht mit ihren sanften Hügeln, hübschen Hecken und Reet gedeckten
Landhäusern sehr idyllisch wirkt - die CryEngine inszeniert eine prächtige Kulisse, die nur ganz selten von Texturauffüllungen geplagt wird. Und egal ob Tante-Emma-Laden oder Autowerkstatt, Wohnzimmer oder Viehstall - das Interieur sorgt für authentisches Flair der 80er, zumal man C-64, Zauberwürfel und Walkman entdecken kann.Allerdings muss man sich viel Zeit und Geduld nehmen, zumal man nicht sprinten kann und die offene Spielwelt keinerlei Action oder Rätsel wie in The Vanishing of Ethan Carter anbietet. Sie ist komplett entschleunigt und auf das Wesentliche beschränkt: Man darf weder rennen noch springen, es gibt weder Statusanzeigen noch ein Inventar - Gegenstände kann man nicht aufnehmen und als 3D-Objekte untersuchen wie z.B. in Gone Home. Es gibt nicht einmal einen Zoom, obwohl sich so manche Kinderzeichnung mit gekrakelter Schrift oder kleine Texte auf Büchern dafür angeboten hätten.
Der X-Knopf dient allerdings u.a. dazu, Türen und Gatter zu öffnen oder klingelnde Telefone und
Funkgeräte einzusetzen. Schade ist, dass es manchmal willkürliche Beschränkungen in der Bewegung gibt, wenn man ein kniehohes Hindernis nicht überwinden, die Toilette des Pubs nicht betreten oder ein halb geöffnetes Gartentor nicht aufschieben kann, und dass viele Häuser geschlossen bleiben. Trotzdem gibt es reichlich Freiraum für die Erkundung - nicht nur in kleinen Wäldern oder an Flussufern, auch innerhalb von Gebäuden. The Chinese Room hat auch tatsächlich einige subtile Sammelreize eingebaut, denen man folgen kann, falls man denn Trophäen jagen will.Schön ist, dass Aktivierbares nicht schon aus der Distanz leuchtet und dass es keinerlei überflüssige Oberflächen gibt. Die pure Kulisse ist hier der Star, die die komplette Flora Südenglands abbildet; oder besser: Die mysteriöse Geschichte, die sich hinter dieser menschenleeren Idylle verbirgt. Denn schnell wird über Aushänge klar, dass es eine Art Katastrophe gegeben haben muss.
Wenn man durch die kleinen Gassen und pittoresken Gärten von Yaughton schlendert, findet man nicht nur Häuser, die offiziell unter Quarantäne gestellt wurden oder Aufrufe zum Notfalltreffen, sondern auch Straßensperren oder Briefe von Bewohnern, die alle sieben Sachen packen und abreisen wollten - selbst der Pub ist leer. Seltsam ist nur, dass so manche Zigarette und so mancher Grill noch qualmt, dass frische
Wäsche an Leinen baumelt, dass man sowohl Schmetterlinge sieht als auch Bienen summen hört, aber weder einen Hund, eine Katze oder gar einen Menschen sieht. Es ist also nicht alles tot und von Leichen keine Spur. Aber obwohl zu Beginn noch Vögel zwitschern, findet man bald ihre gefiederten Überreste und anderes Blut. Also doch eine Seuche? Während man grübelt, entfaltet sich abseits der sonst so trostlos inszenierten Endzeit-Szenarien ein nahezu anmutig-schaurige Idylle in fast stillen Phasen des Spazierens.Folge dem Radiorauschen oder dem Licht
Aber gibt einen surrealen Kontrapunkt, der aufmerksam macht: Wesentlich merkwürdiger als die toten Vögel sind nämlich die Begegnungen der grellen Art. Man trifft sehr früh auf hin und her schwebende Lichtkugeln, deren zauberhafte Inszenierung ein wenig an Flower erinnert - hier wirken sie zunächst wie kitschige Fremdkörper in der realistischen Welt. Aber dann wird es bizarr, denn einige dieser Wesen scheinen einen tatsächlich wie Irrlichter irgendwo hin locken zu wollen - so kann man sie auch wie Orientierungshilfen nutzen, wenn man mal nicht weiter weiß.
Andere wiederum kann man über das Kippen des Gamepads so aktivieren, dass sie sich nach einer kleinen Explosion in leuchtende Gestalten verwandeln - etwas fummelig zu Beginn, aber man muss lediglich den richtigen Winkel finden und es halten. Danach lauscht man einer kurzen Szene aus der nahen Vergangenheit des Dorfes, während man die schemenhaften Partikel der Bewohner sieht. Man kann ihnen weder Fragen stellen noch eingreifen, sondern hört dem Spuk zu, bis er vorbei ist. In diesen Dialogen überzeugt die deutsche Sprachausgabe übrigens auf ganzer Linie; man kann allerdings auch auf die englische oder andere Tonspuren umschalten und Untertitel anzeigen lassen.Geschichte auf zwei Ebenen
Mit der Zeit kennt man auch ihr Alter und ihre Berufe, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen sowie Techtelmechtel und
Feindschaften. So lernt man auch Lizzie und Stephen, Kate und Charlie immer besser kennen. Diese indirekte kapitelartige Führung beugt auch geschickt dem Fluch der Tatenlosigkeit in einer offenen Welt vor, in der es ja keine Quests oder Minispiele gibt. Man kann auch nicht einfach eine Karte aufrufen und sich ein Ziel anzeigen lassen; man muss sich immer selbst orientieren und sollte die Kartenaushänge nutzen, die manchmal den eigenen Standort anzeigen. Während sich das Mosaik aus Personen füllt, ergeben sich auch immer klarere und interessantere Einblicke in die tatsächlichen Geschehnisse - da es kein Tagebuch gibt, lohnt es sich übrigens Notizen zu machen.Fazit
Everybody's Gone to the Rapture ist wie eine zauberhafte Novelle. Goethe hat sie mal als ein „seltsames, unerhörtes Ereignis" beschrieben - und das passt wunderbar. Wer abseits klassischer Spielmechaniken nach einem ungewöhnlichen Abenteuer sucht, dessen Geheimnisse sich in idyllischer südenglischer Kulisse langsam entfalten, der wird für vier bis sechs Stunden sehr gut unterhalten. Dabei beschränken sich The Chinese Room zwar wie in Dear Esther ohne Rätsel oder Action auf die Erkundung, aber entwickeln ihre Art des Spieldesigns weiter, indem sie die Welt offen gestalten, zumindest kleine Interaktionen einstreuen und vor allem die reale um eine surreale Erzählebene ergänzen, wobei auch die Musik dynamisch für den Spannungsaufbau eingesetzt wird. Die Regie nutzt die auf den ersten Blick kitschigen Lichtwesen nicht nur sehr geschickt, um neben all dem sichtbaren Flair der 80er Jahre das soziale Milieu und die menschlichen Konflikte einer Dorfgemeinschaft abzubilden - sie leitet den Spieler auch clever und forciert mit ihnen die Dramaturgie bis zum Finale. Auf dem Weg dorthin hat mich allerdings gestört, dass man nicht zoomen und Gegenstände nicht als 3D-Objekte untersuchen kann, obwohl man gerade mit Letzteren sowohl die Erkundungsreize hätte steigern als auch etwas Rätselflair hätte anbieten können. Aber diese Art des Spiels ist längst kein Experiment mehr wie noch anno 2008, sondern zu einer neuen Form des Adventures gereift.
Pro
- interessantes Storytelling-Konzept
- mal eine kreative Variante der Endzeit
- mysteriöse Hintergrundgeschichte
- gute und natürlich wirkende Dialoge
- englische Gegend & Milieu der 80er nachgebildet
- nachvollziehbare menschliche Konflikte
- wunderschöne Landschaften, tolle Lichteffekte
- offenes Gebiet, viel architektonische Abwechslung
- authentisch wirkendes Interieur
- subtile, unaufdringliche Sammelreize
- sehr gute deutsche Sprecher; Originalton wählbar
- stimmungsvolle dynamische Musikuntermalung
Kontra
- kein Zoom
- keine Gegenstände aufnehmen, keine Rätsel
- einige willkürliche Bewegungsbeschränkungen
- ab und zu Texturnachladen