Fallout 4 - Test, Rollenspiel, PC, VirtualReality, PlayStation4, XboxOne, HTCVive
Ich erklimme einen Hügel. Mein Schäferhund bellt und prescht vorwärts. Als ich oben ankomme, blicke ich auf eine Landschaft aus Trümmern im diffusen Morgenlicht. Da liegt ein riesiger Jumbojet wie ein Kadaver, den man in drei Teile zerhackt und vom Himmel geworfen hat. Irgendwo zwischen all den Koffern, Stahlträgern und Leichen wühlen mutierte Kreaturen. Warum bleibe ich jetzt stehen und lass die Kamera über dieses Gelände streifen, das Zerstörung und Tod zeigt? Warum gehe ich später langsam durch die menschenleeren Gassen von Boston, um mir hier eine Leuchtreklame oder da eine Polizeistation näher anzusehen? Warum beeindruckt mich ein radioaktiver Sturm?
Die Ästhetik der Endzeit
Artdesign schlägt Technik
Sie stellen nicht nur Landschaft, Kulisse und auch Gegenstände unheimlich stimmungsvoll dar - ich ertappe mich dabei, wie ich die cool designte Lasermuskete oder die Plasmapistole im Ladebildschirm langsam drehe - sondern erzählen mit all dem Geschichten. Der Hügel mit dem Flugzeugwrack war nur einer von vielen. Hier habe ich das Gefühl, dass ich an jeder Ecke etwas entdecken kann. Jedes Gebäude von der Irrenanstalt bis zur Kaserne, vom Hexenmuseum bis zur Brauerei birgt eine Story, jeder Schritt kann einen tiefer in diese authentische, manchmal wahnsinnige, aber immer mit den Augen zwinkernde Welt hineinziehen. Der schwarze Humor ist bei all der Brutalität eine wichtige Konstante, die Fallout seit 1997 auszeichnet.
Worum geht es überhaupt? Zunächst um Rache, später immer wieder um das Warum. Man beginnt mit der Charaktererschaffung in einer Familie, kann sich als Mann oder Frau vor dem Spiegel in allen Facetten Formen sowie die sieben Attribute von der Stärke bis zum Glück festlegen. Im heilen Amerika des Jahres 2077 genießt man noch die Gemütlichkeit des eigenen Heims, trinkt frisch gebrühten Kaffee vom Haushaltsroboter Codsworth und spielt mit dem Baby Shaun, bevor die Welt urplötzlich nuklear zerstört wird. Gerade rechtzeitig können Mutter, Vater und Kind noch in einen Atomschutzbunker samt Kälteschlaf flüchten, weil ein Vertreter scheinbar zur rechten Zeit an der Tür klingelte. Auch wenn diese heile Welt leider nur für einige Minuten inszeniert wird, sorgt sie für die wichtige emotionale Anbindung vor der eigentlichen familiären Tragödie.
Von Rache getrieben
Faszinierende Begleiter
Es ist klasse, dass einem die Begleiter sporadisch dieses Feedback geben – sei es durch Sprüche oder über die
textliche Anzeige, dass ihnen eine Aktion nicht oder eben doch gefallen hat. Ihr baut etwas an der Werkbank? Codsworth freut sich! Ihr ballert los, statt einen Streit zu schlichten? Codsworth findet das doof! Ihr nehmt einen Killerauftrag an? Codsworth findet das richtig schlimm! Zwar kann man seine Begleiter auch per Befehl zu Verbrechern machen, indem man sie morden oder rauben lässt, aber die Spielwelt ahndet das als wären das die eigenen Verfehlungen. Sprich: Wer irgendwo rot markierten Privatbesitz klaut oder Schlösser öffnet, muss sofort mit einem Kampf rechnen! Wer es auf die Spitze treibt und ständig konträr zur Moral bzw. Ideologie des Partners handelt, muss damit leben, dass dieser nur noch störrisch antwortet oder gar komplett stur bleibt und einem nicht folgt. Als ich mit dem etwas einsilbigen Supermutanten Strong unterwegs war und ständig Schlösser knackte sowie kaum kämpfte, was dieser hasste, befürchtete ich schon fast einen Zweikampf. Dafür hat er mir immer eine Portion Hundefleisch geschenkt – keine Bange, andere Begleiter haben Süßkuchen oder Wasser dabei.Aber das Beste ist: Gelingt es einem, die höchste Stufe der Beziehung, also die Bewunderung zu erreichen, bekommt man zur Belohnung eine exklusive Fähigkeit – Codsworth schenkt einem z.B. die „Roboterliebe“ und damit weniger Energieschaden durch selbige. Das aktuelle Verhältnis wird nicht durch eine schnöde Leiste à la BioWare angezeigt, sondern muss entweder aktiv erfragt werden oder lässt sich beobachten. Es ist kein Hexenwerk, manchmal erreicht man das auch recht flott, aber es macht Spaß, die Vorlieben herauszufinden. Wenn die Begleiter z.B. von sich aus das Gespräch suchen, also einen während einer Wanderung einfach ansprechen und etwas über sich erzählen, dann ist man auf einem guten Weg. Es sind sogar Flirts samt Sex möglich, wenn man es denn darauf anlegt – hetero und homo übrigens, muss man ja heutzutage erwähnen.
Roboterliebe und Hundeleben
Die Entscheidung für den Hund fällt einem deshalb schwer, weil Bethesda so viele andere interessante Begleiter parat hat, die mit eigenen Biografien und Vorlieben überzeugen: Neben dem erwähnten Codsworth oder dem Supermutanten Strong kann man auch frühzeitig auf den Ranger Preston Garvey zugreifen. Aber die dramaturgischen Highlights kommen erst noch, wenn man z.B. die mutige Reporterin Piper und ihre Tochter trifft, die über Diamant City sagt: „Es ist groß, laut, korrupt und voller Arschlöcher. Aber es ist mein Zuhause.“ Es gibt nicht nur moralisch
einwandfreie, sondern auch richtig fiese und brutale Charaktere vom Söldner bis zum Ghul-Mafiosi, die man nur dann von sich überzeugen kann, wenn man entsprechend handelt. Es gibt auch noch einen weiteren Roboter, der etwas anders tickt als Codsworth.Schließlich muss ich noch den Synth Nick Valentine erwähnen, weil er einer der besten Nebencharaktere ist, die ich bisher in einem Videospiel getroffen habe. Okay, ich habe ein Faible für Roboter im Stile von Asimov und Privatdetektive. Die Ausflüge mit ihm an der Seite haben jedenfalls richtig Spaß gemacht, seine Geschichte ist bewegend und er ist als Hacker sehr nützlich: ich kann ihn an Terminals schicken, die er knackt, während er dabei die Art der Verschlüsselung kommentiert – Bethesda erschafft hier eine echte Persönlichkeit. Während ich in Schubladen und Schränken wühle, setzt er sich in einen Sessel, zündet sich eine Zigarette an und sagt trocken: „Na, willst du wieder eine Sammlung aufbauen?“ In diesen Momenten ist
Fallout 4 so magisch wie ein Vampire: Die Maskerade Bloodlines.Privatdetektiv und deutsche Sprachausgabe
Alle Charaktere werden übrigens hervorragend gesprochen – nicht nur im wählbaren englischen Original. Die deutsche Lokalisierung ist ausgezeichnet, was die Auswahl und Besetzung der Sprecher angeht. Hier macht es Spaß, das Abenteuer komplett in der Muttersprache zu erleben, weil Betonungen und auch Wortwitz stimmen. Selbst nach zig Stunden wird man noch überrascht, wenn ein weiser Ghul-Farmer tatsächlich mit der Stimme von Hershel aus The Walking Dead spricht. Gerade angesichts der Menge an Dialogen muss man Bethesda für diese deutsche Übersetzung ausdrücklich loben, zumal es auch in den vielen Texten kaum nennenswerte Fehler gibt.
Apropos Sammlung: Eigentlich bin ich weder ein Waffenfreak noch mag ich das Anhäufen von Objekten in Spielen. Auch die reine Fülle an bizarren Schießprügeln, Raketen-, Flammen- und Eiswerfern oder Schlag- sowie Schlitzinstrumenten, die Fallout 4 ja traditionell bietet, lässt mich meist kalt. Aber hier versinke und versacke ich in der Fülle, weil das Modifizieren und Sammeln reizvoll und nützlich ist. Jede Blechdose, jeder Wecker, jede Uhr und jedes Werkzeug lassen sich nochmal in Kupfer, Aluminium, Schrauben oder zig anderes Rohmaterial verwandeln, das man wiederum für das Zielfernrohr, den verbesserten Lauf oder den Geschützturm in der Siedlung braucht. So entsteht ein Kreislauf der Nützlichkeit, dem man sich kaum entziehen kann, weil eine Schraube wertvoller ist als hundert Kronkorken.
Versinken und versacken
Denn wenn ich hier meine eigene Kleidung oder Waffe an der Werkbank baue, kann ich sicher sein, dass sie deutlich
effizienter hinsichtlich Schutz, Schaden oder Reichweite sind als die gewöhnliche Beute. So ist mein Scharfschützengewehr sowie die Schrotflinte und der Revolver quasi über all die Stunden mit mir gewachsen, weil ich alle vom Griff über den Lauf sowie die Mündung weiter entwickeln konnte – man kann ihnen sogar Namen geben. Lediglich die legendären Waffen verleiten einen vielleicht dazu, die alten Gefährten mal ruhen zu lassen. Vor allem, wenn sie vielleicht neben mehr Durchschlagskraft auch ein oder mehrere SPECIAL-Attribute erhöhen. Das ist übrigens auch eine Stärke des Ausrüstungssystems: Man kann über Kleidung charakterliche Defizite wie etwa zu wenig Charisma wettmachen, indem man vor einem wichtigen Gespräch oder dem Feilschen mit dem Händler einen Hut, eine Brille und einen Anzug anlegt, die vielleicht zusammen plus fünf Charisma geben.Und dazu gehören auch die vielen Orte und Quests, die einen immer wieder geschickt von der Hauptstory weglocken, weil man hier ein Gespräch mitbekommt, da ein Holoband findet oder in einem Computertagebuch stöbert. Soll man dabei helfen, den miesen Moderator aus Diamant City zu töten oder baut man sein Selbstbewusstsein über eine fingierte Schlägerei auf? Hilft man dabei, den Tresor der Stadt zu knacken? Eine typische Erkundung von Fallout 4 sieht so aus: Ich will zu einer Siedlung, weil sie überfallen wird – ich habe also eigentlich ein klares Ziel. Da ich sie noch nicht entdeckt habe, kann ich aber nicht über die Karte schnellreisen, sondern muss zu Fuß dorthin. Auf dem Weg entdecke ich irgendwo im Westen ein verfallenes Herrenhaus. Da will ich mal kurz reinschauen, weil die Tür offen steht und es vielleicht Beute gibt. Kaum habe ich das Erdgeschoss erkundet, finde ich im Keller eine versperrte Tür. Das Schloss kann ich mit einer Haarspange schnell knacken und finde dahinter Leiche mit einer Notiz, die
ich überfliege - und prompt bin ich einem Verbrechen auf der Spur und auf meiner Karte wird automatisch ein neuer Ort verzeichnet. Gar nicht weit weg, hört sich interessant an!Ein Netz aus Quests
Da kann ich nicht nein sagen, denn diese persönliche Tragödie beschäftigt mich. Also gehe ich nach Norden, um diesen Ort und vielleicht den Täter zu finden. Kaum habe ich einen Fluss erreicht, höre ich über Funk ein Notsignal. Das hört sich sehr dramatisch und wichtig an, also versuche ich dem Signal zu folgen, indem ich seine Stärke im Pip-Boy beobachte und Peilung aufnehme. Übrigens spielt auch Akrobatik eine gewisse Rolle, denn man muss auch mal schwimmen, tauchen oder geschickt springen, um versteckte Bereiche oder höhere Etagen ohne Jetpack zu erreichen. Kaum bin ich am Peilungsziel, finde ich einen toten Paladin der stählernen Bruderschaft, der eine Nachricht hinterlassen hat. Plötzlich stürmen Ghule auf mich zu und ich kann mich gerade noch gegen sie behaupten. Da hocke ich also neben einem Toten in der Pampa, obwohl ich einen anderen Mord aufklären und eigentlich eine Siedlung befreien wollte. Was mache ich bloß als Erstes? Falls das nicht reicht, warten noch die Hauptquest sowie die vier epischen Anliegen der Fraktionen. Ach so, es gibt auch noch Sonstiges mit einer Brauerei oder dem Hexenmuseum. Und wenn man richtig Glück hat, stapft man ahnungslos in eines der skurrilen Highlights wie etwa den Vergnügungspark voller durchgeknallter Roboter. Sprich: Fallout 4 spinnt ein Netz aus Quests, das einen nicht mehr loslässt. Zwar sind die wenigen "Städte" eher kleinere Siedlungen, in denen nicht gerade das Leben pulsiert - kein Vergleich zu den vollen Gassen eines Novigrad in The Witcher 3. Aber zum einen hat diese Leere durchaus erzählerische Gründe, denn schließlich versammeln sich da die Reste der Menschheit. Zum anderen kann man auch dort coole Situationen erleben, wenn man in eine falsche Gasse abbiegt oder eine der Tavernen besucht. Letztlich fehlt es zwar an Leben, an besserer Mimik und Gestik, aber die Orte versprühen durchaus Charme.
Bethesda legt neben der erzählerischen Hauptfährte zig dieser kleinen situativen Köder aus, wozu auch plötzliche Begegnungen gehören: Man kann auf wandernde Händler treffen, mitten in Überfälle geraten oder mysteriöse Wanderer treffen, die ganz seltsam nach dem Weg fragen – gibt man ihnen die richtige Antwort, obwohl man so ein komisches Gefühl bei dieser Visage und der kurzen Sätze hat? Man könnte dem Typen auch folgen. So wird man für Stunden beschäftigt – schließlich braucht man zum Überleben Waffen und Ausrüstung, muss also hier und da stromern, plündern und kämpfen. Hinzu kommen vier epische Nebenstränge, in denen die wichtigsten Fraktionen neben Raidern, Ghulen, Söldnern und Supermutanten sichtbar werden, die eigene politische Ziele verfolgen und bei Erfolg das Ende beeinflussen. Zunächst lernt man die eigentlich nicht mehr existenten Minutemen kennen, die sich wie gute Freischärler und Ranger um
die Siedler kümmern wollen und nach einem neuen Anführer suchen. Schön auch, dass man ab und zu strategische Entscheidungen für sie treffen muss. Kurze Zeit später trifft man auf die militante stählerne Bruderschaft, die weitere Soldaten für die Durchsetzung ihrer ideologischen Führerschaft braucht. Und etwas länger dauert es, bis man erste Informationen über die anarchistische Railroad sowie das mysteriöse Institut findet.Vier Fraktionen beeinflussen das Spielende
Nicht nur durch diese Staffelung gelingt es der Regie, abseits der Suche nach dem Sohn immer mehr interessante Fragen zu stellen. Man wird recht früh in Zwischenfälle auf der Straße verwickelt, in denen Menschen so genannte Synths umbringen wollen. Stimmt es, dass das Institut diese Androiden als Doppelgänger baut, um die Weltherrschaft zu übernehmen? Kidnappen sie Menschen? Haben sie also Shaun? Beschützen die Leute dieser Railroad geflohene Androiden? Könnte es also hilfreich
sein, der stählernen Bruderschaft beizutreten und all diese Freaks zu vernichten? Hinzu kommt, dass sich nach dem Abschließen des ersten Aktes einiges in der Welt ändert – sowohl außenpolitisch und sichtbar am Himmel als auch für den Helden, der aktiv verfolgt wird. Verfolgt man die Hauptstory, spürt man also auch eine erzählerische Dynamik innerhalb der Spielwelt. Man hat aber mehr als genug Zeit, um sich mit den Zielen der vier Fraktionen vertraut zu machen. Wer einem der Pfade über gemeisterte Aufgaben folgt, genießt natürlich gewisse Vorteile: Wer die Minutemen unterstützt, kann viele Siedlungen befreien sowie verwalten, deren historisches Erbe finden und sogar Artilleriebeschuss anfordern – ein richtig cooles Feuerwerk übrigens. Allerdings mit der physikalischen Inkonsequenz, dass man selbst Holzgebäude damit nicht zerstört.Auch wenn man mit Charisma einige Konflikte friedlich lösen kann, indem man in Dialogen einschüchtert oder überzeugt: In Fallout 4 sind Kämpfe sehr wichtig und oftmals unumgänglich. Zwar gibt es bei der Infiltration von Gebäuden manchmal
coole Möglichkeiten, einem Gefecht aus dem Weg zu gehen, indem man sich rein schleicht, um vielleicht an einem Terminal die Wachroboter zu aktivieren, denen man die Persönlichkeit „Rechtsvollzug“ zuweist, damit sie die Flure säubern. Aber oftmals führt kein Weg an der Waffe vorbei. Dabei hat man die Wahl, ob man den Zeitlupenkampf inklusive der Aktionspunkte einsetzt oder ob man das Ganze als Shooter in Echtzeit erleben will – man kann auch jederzeit wechseln. Wer es flüssig und schnörkellos mag, darf sich darüber freuen, dass Bethesda jetzt eine intuitivere Mechanik anbietet, so dass das Anvisieren samt Luft anhalten sowie Schießen aus der Hüfte und in Echtzeit mehr Spaß macht als noch in Fallout: New Vegas.Zeitlupentaktik oder Shooterechtzeit
Ich mag es lieber traditionell und visiere in der Zeitlupe des VATS spezielle Körperteile an, um damit vielleicht Feinde zu entwaffnen oder fatalen Schaden anzurichten. Das macht richtig Laune und wird genauso brachial inszeniert wie bisher, so dass enthauptet und verstümmelt wird, bis am Ende auch mal Augäpfel vom Boden schielen. Diese überzeichnete Gewalt gehört traditionell zu Fallout und die Fülle an Waffen lädt natürlich zu morbiden Experimenten ein – man kann Gegner auf zig Arten verbrennen, vereisen, perforieren und wenn alles nicht hilft auch mal eine kleine Atombombe werfen. Man kann über Minen aller Art gezielt Fallen auslegen oder vorhandenes explosives Material aus der Distanz zünden. Sprich: Wer es ordentlich krachen lassen will, hat verdammt viel Auswahl.
Allerdings gibt es ein großes Problem: die KI. Zum Glück begegnet man in Fallout 4 auch vielen klassischen Viechern, Bestien oder Monstern ohne Verstand wie Ghulen, so dass das nicht immer auffällt. Und es gibt auch Situationen gegen Menschen, in denen man auch mal flankiert oder einfach von der Masse überwältigt wird. Aber die menschlichen Gegner verhalten sich vor allem bei Infiltrationen sehr dämlich in ihren Wachroutinen – dagegen wirkt Metal Gear Solid wie eine Simulation des KSK. Sie haben zwar Laufwege und mehrere Alarmstufen, aber selbst wenn man schon zwei ihrer Kollegen mit richtig viel Krach vor ihren Augen (!) erschossen hat und irgendwo wartet, begeben sie sich viel zu früh wieder an ihre Plätze und geben dann Realsatire à la „Ich glaube, da ist jemand. Aber vielleicht spielen meine Sinne mir nur einen Streich“ von sich. Hinzu kommt, dass sie sich nicht taktisch sinnvoll als Gruppe verhalten, so dass man relativ leicht mit ihnen fertig wird.
Das Problem der KI
Ein weiteres KI-Problem sind die eigenen Begleiter, denn mal abgesehen davon, dass sie urplötzlich auf dem Weg von A nach B verschwinden können: Im Kampf können Codsworth, Piper, Nick & Co auch ganz schön nerven, weil sie entweder direkte Befehle nicht befolgen oder sich taktisch sinnlos verhalten. Das ist nicht immer so, denn ich wurde auch schon oft in letzter Sekunde gerettet. Außerdem ist es schön, dass sie parallel mit mir in den Schleichmodus wechseln, aber sie sind nicht zuverlässig genug. Da weist man Preston mit seinem Scharfschützengewehr extra an, dass er hinten bleiben und Feuerschutz geben soll, aber er läuft trotzdem ins Vorfeld. Hier vermisst man dann doch klarere Befehle à la Full Spectrum Warrior.
Der laufende Kampfanzug und SPECIAL
Es wirkt zwar erzählerisch unpassend, dass man gleich zu Beginn den Zugriff auf das mächtige Baumenü bekommt: Warum kann jemand, der zweihundert Jahre verschlafen hat wie ein Top-Ingenieur alles vom Haus über den Generator bis zum Geschützturm herstellen? Außerdem wird das Bauen selbst nicht gut genug erklärt und kann recht fummelig sein – es dauert seine Zeit, bis das Drehen, Wenden und Andocken flutscht. Seltsam ist auch, dass man bei planierten Flächen nicht automatisch gerade Wände hochziehen kann. Hat man sich daran gewöhnt, entfaltet es aber nicht nur architektonische Reize, weil man coole Bauwerke inklusive Elektrizität und Fallen über mehrere Etagen erreichten kann.
Top-Ingenieur in Baulaune
Ärgerlich ist auf Dauer also vor allem das Babysitten: Man muss immer wieder in seinen Siedlungen manuell eingreifen, weil Leute vielleicht nicht alle Befehle befolgen und sich quasi nicht in grundlegenden Dingen wie Nahrung, Betten & Co selbst verwalten. Unterm Strich sorgt dieses Bauen und Verwalten aber für frischen Wind. Ihr habt trotzdem keine Lust darauf? Ignoriert es!
Fazit
Fallout 4 lässt mich versinken und versacken, bis mich die Müdigkeit ins Bett zwingt. Die Sogwirkung dieser Endzeit ist fast schon unheimlich. Und das, obwohl es klare Defizite gibt: Von der schwachen KI über ärgerliche Bugs bis hin zur steifen Mimik sowie Steuerungstücken. Aber dieses Rollenspiel zieht mich gnadenlos in seine apokalyptische Welt, weil ich ständig neue Quests, interessante Charaktere und Orte kennenlerne. Bethesda inszeniert eine nahezu idyllisch anmutende Monumentalität der Zerstörung, baut dabei viel Geschichte und Folklore aus Neuengland ein und versteckt hinter jedem Block in Boston quasi einen Dungeon, so dass man über Wochen zu tun hat. Man kann der Story folgen, sich vier Fraktionen anschließen oder sich einfach treiben lassen: Auf dem Weg von einer Siedlung zur anderen macht man einen Abstecher, weil diese riesige Bauruine aus der Ferne lockt, nur um plötzlich einem skurrilen Händler zu begegnen, bevor man durch einen Funkspruch zu einer Satellitenstation gelockt wird. Kaum plündert man irgendwo einen Safe, findet man eine Nachricht über einen miesen Deal und steckt nach einem Fußmarsch zur Küste vielleicht knietief in Kellerleichen. Oder man landet nach einem Straßenkampf ganz nebenbei in einem Comicladen. Es gibt kein Spiel, das diese direkten und indirekten Erkundungsreize so meisterhaft vereint. Hinzu kommt, dass die Begleiter von Codsworth über Piper bis hin zum grandiosen Nick Valentine die eigenen Aktionen kommentieren und als Charaktere mit eigenen Vorlieben und Abneigungen lebendig werden. Und obwohl ich sonst allem Sammel-, Mod- und Baukram abgeneigt bin, macht mich Bethesda auch noch zum Ingenieur und Tüftler. Habe ich schon erwähnt, dass die offene Charakterentwicklung klasse ist? Aber viel wichtiger: Fallout 4 erzählt viele bizarre und tragische Geschichten, die so in Erinnerung bleiben, dass man mit seinen Kumpels darüber spricht. Man schmunzelt, lacht und hat das gute Gefühl, in einer offenen Welt versinken zu können.
Pro
- Rollenspiel mit unheimlicher Sogkraft
- stimmungsvoller Einstieg im heilen Amerika
- viele interessante Begleiter mit Beziehungsaufbau
- NSC reagieren auf Kleidung & Begleiter
- süffisanter schwarzer Humor, tolle Dialoge
- gut erzählte Hauptquest mit Perspektivwechsel
- riesige Spielwelt voller Orte und Sehenswürdigkeiten
- stimmungsvolle Licht- und Wettereffekte
- viele große unter- und oberirdische Dungeons/Gebäude
- vier Fraktionen mit eigenen Zielen und Nebenquests
- angenehm offene Charakterentwicklung
- Charisma als effiziente Fähigkeit
- sinnvoll verzahnte Sammel-, Mod- und Baureize
- taktischer VATS- oder Echtzeitkampf
- Gegner setzen Granaten, Raketen gefährlich ein
- coole Mech-Perspektive und Optionen im Kampfanzug
- bessere Zufallsbeute gegen legendäre Feinde
- Siedlungsbau mit Verwaltung und freier Architektur
- ausgezeichnetes Art-, Figuren- und Objektdesign
- vorbildliche deutsche Sprachausgabe und Lokalisierung
- zig kleine Quests und Überraschungen
- zig Waffen, Rüstungen, Bomben, Objekteâ€Å
- Schlösser knacken, Terminals hacken, Taschendiebstahl
- Mord, Raub und Diebstahl mit Konsequenzen
- manche Konflikte auch friedlich lösen
- wunderbarer Soundtrack
- sechs jederzeit wechselbare Schwierigkeitsgrade
- automatisches und manuelles Speichern
- Siedlungsbau ist komplett optional
- Begleiter ist komplett optional
- vier unterschiedliche Enden
Kontra
- schwache Gegner-KI
- steife Mimik und Gestik
- viel Siedlungs-Babysitting
- Bau-Editor nicht gut genug erklärt, störrisch zu bedienen
- Begleiter ignorieren Befehle, nerven im Kampf
- verkürzte Gesprächsoptionen
- schade, keine Beziehung zum Hund aufbauen
- viele kleine Bugs (Wegfindung, Begleiter weg etc.)
- Bildratenprobleme und Clippingfehler
- sporadische Abstürze
- fummelige Maus
- & Menüsteuerung (PC)
- Grafikoptionen nur im Launcher anpassen (PC)