Clandestine - Test, Action-Adventure, PC

Clandestine
11.11.2015, Benjamin Schmädig

Test: Clandestine

Liebeserklärung an Deus Ex

Der Türcode ist 0451 – natürlich! Und nachdem Katya die Toilette der Männer betreten hat, erhält sie von ihrem Boss einen Rüffel. Im Hauptquartier kann sich die Agentin frei umsehen, mit ihren Kollegen reden sowie Informationen zum Weltgeschehen und ihren Kollegen einholen: Clandestine ließ vom Beginn unseres Tests an keinen Zweifel daran, dass es neben Deus Ex ins Genre der taktischen Stealth-Action gehört. Aber spielt es auch in derselben Liga wie das große Vorbild?

Das ist ja alles kein Zufall: Jonas Waever heimste schon 2009 mit einer umfangreichen Modifikation des ursprünglichen Deus Ex Lorbeeren ein, bevor er als Creative Director Expeditions: Conquistador entwickelte. Handlungsfreiheit und Entscheidungen liegen dem Spielemacher offenbar und so erschuf er für Clandestine vor allem vielseitige Möglichkeiten zum Lösen unterschiedlicher Herausforderungen.

Zurück in die Vergangenheit

Neu ist es dabei nicht, wenn sich die russische Agentin Katya vor Wachen versteckt, sie mit Störgeräuschen von sich fort lockt, lautlos ausschaltet oder kurzerhand erschießt. Sie geht Kameras aus dem Weg, findet in E-Mails wichtige Informationen und beliest sich über zahlreiche Informationsschnipsel zum Weltgeschehen – statt der Zukunft immerhin eine fiktive Version des Jahres 1996, in der sich östliche und westliche Geheimdienste gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschließen.

Katya sammelt nicht zuletzt vom Zufall verteilte Geheimdienstinformationen und bringt Modems an Computern an, die ihr Partner Martin daraufhin hacken kann. Auch das ist nicht neu: Einzelspieler springen jederzeit in die Rolle des

Nicht nur der regelmäßige Besuch im Hauptquartier zitiert das ursprüngliche Deus Ex.
Hackers, um Kameras auszuschalten, Wachen zu markieren, Programmschlüssel herunterzuladen oder Codes für Türen zu knacken, die Katya erst dann öffnen kann. Martin überlädt außerdem elektrische Anlagen, um Gegner mit einem Stromstoß außer Gefecht zu setzen oder lässt Gasleitungen explodieren.

Das Besondere an Clandestine sind nicht die Fähigkeiten des IT-Virtuosen, die ein JC Denton oder Adam Jensen ebenfalls besitzt – es ist die Möglichkeit, dass ein zweiter Spieler per Onlineverbindung die Rolle des Hackers übernehmen kann. Er oder sie verfolgt das Geschehen dann auf vier Bildschirmen, informiert Katya über ankommende Gegner, deaktiviert Laserschranken, ruft einen Cleaner zum Beseitigen Bewusstloser oder lässt einer Person im Einsatzgebiet gar Bestechungsgeld zukommen, mit dessen Hilfe Katya schneller ihr Ziel erreicht.

Experten ergänzen sich

All das können auch Solisten tun! Allerdings werden nur Steam-Freunde, die sich untereinander absprechen, die Agenten-Action in vollen Zügen genießen. Klasse funktioniert z.B. das Werfen eines Mobilfunkempfängers, den Martin zu einem beliebigen Zeitpunkt aktivieren kann. Zudem vermittelt Clandestine auch Onlinepartnern, die nicht im externen Sprachchat kommunizieren, alle wichtigen Informationen über sinnvolle Anzeigen. Geknackte Türcodes kann Katya etwa einsehen.

So stiehlt das Duo Daten – Katya muss z.B. einen Serverraum erreichen, Martin ein bestimmtes Terminal hacken – und erledigt zusätzliche Aufgaben, falls es sich in die zum Teil weit vom Hauptziel entfernten Räume wagt. Je erfolgreicher die beiden sind, desto mehr Ausrüstung steht ihnen in den folgenden Missionen oder Wiederholungen bereits abgeschlossener zur Verfügung. Dass sich Katya dabei stets auf wenige Gegenstände beschränken muss, macht schon die taktische Planung interessant; zumal sie ohnehin nicht zahllose Objekte im Einsatz sammelt.

Spionin im Abendkleid

Manche Zonen sind außerdem nicht öffentlich zugänglich, was die Schauplätze glaubwürdiger erscheinen lässt. Weder die Handlung noch das Szenario sind zwar so packend wie in einem Deus Ex und die Anzahl aller Aufträge ist gering. Mit einem Auge für wichtige Feinheiten haucht Jonas Waever seiner Liebeserklärung an das Genre aber Leben ein. Dazu zählen Wachen, die sich durchgehend in ihrer Landessprache unterhalten, und ein großartiges

Die angenehme Seite des Agentenlebens:

Hors­d'œu­v­re und Abendkleid.spielerisches Element: Je mehr Spuren Katya und Martin zurücklassen, desto eher kommt ihnen ein Doppelagent in den eigenen Reihen auf die Schliche und sorgt für Fallen oder ein besseres Bewachen zukünftiger Einsatzorte. Zu den Spuren zählen abgefeuerte Schüsse, ausgeknockte Personen oder wenn Martin vom Programm des System-Administrator entdeckt wird. Mehr als andere Spiele fördert Clandestine so das unbemerkte Vorgehen.

Klasse ist auch eine Party, die Katya im Abendkleid besucht: Zum einen kann sie in diesem nur einen Gegenstand statt sonst drei mitnehmen und zum anderen muss sie dort einer Person aus dem Weg gehen, die sie als Spionin identifizieren könnte. Falls die Agenten die richtigen Informationen finden und Katya im Gespräch mit einer Wache schnell genug eine richtige Antwort gibt, erhält sie zudem freien Zugang zu manchen Arealen. Im Kleinen sind das tolle Höhepunkte.

Im Großen offenbart Clandestine aber auch dicke Schwächen. Dazu zählt das gefühlt träge Bewegen der Agentin, weil die Maus frei drehbar ist, ihre Figur aber relativ behäbig auf Eingaben reagiert und z.B. statt des Mauszeigers auf ein

Wird Katya entdeckt, fallen die Wachen leider durch viele Fehler auf.
Dokument schauen muss, wenn sie es benutzen will. Dazu zählt auch der einzige Spielstand, mit dem man eine Mission evtl. abbrechen muss, um einen kooperativen Einsatz zu starten, weil ein Kumpel online kommt. Man darf zwar zwei Profile anlegen, das Anlegen mehrerer Spielstände wäre aber die bessere Lösung.

"Erschieß mich!"

Die altbackenen Kulissen sind ebenso verkraftbar wie die rudimentäre akustische Umgebung. Unentschuldbar sind allerdings die häufigen Fehler im Verhalten der Wachen, sobald Katya mit ihnen interagiert oder entdeckt wird. Dann ist es zwar großartig, dass sie ihre Waffe fallen lassen und sich scheinbar ergeben kann, um im letzten Augenblick doch noch die Flucht zu ergreifen. Dass Gegner aber überhaupt nicht reagieren, obwohl sie direkt vor ihr stehen oder sie direkt hinter einer Ecke nicht finden, um die sie gerade erst geflüchtet ist, gleicht einer unfreiwilligen Parodie.

Katya kann Wachen auch eine nach der anderen erschießen, wenn die nacheinander und am selben Fleck vor einem toten Kollegen stehen bleiben. Es kann sogar passieren, dass mehrere Gegner nach einer Gasexplosion auf den ausströmenden Rauch zu laufen, um dort bewusstlos umzukippen. Sie lassen sich ohnehin viel zu leicht übertölpeln, weil sie stets geradeaus schauen und sich selbst nach Erreichen eines Wegpunkts selten umsehen. Schade, aber ausgerechnet die in einem solchen Spiel wichtigen Reaktionen auf das Verhalten der Agentin hat Waever viel zu schlecht im Griff!

Fazit

Und so sind es vor allem technische Mängel, die Clandestine zu schaffen machen: Das oft unsinnige Verhalten der Wachen zählt ebenso dazu wie die schwammige Steuerung und die schwache Technik. Auch die wenigen Aufträge oder die Tatsache, dass Leichen mit dem Anruf beim Cleaner sofort verschwinden, lassen Jonas Waevers Liebeserklärung an Deus Ex kleiner erscheinen als sie sein müsste. Dabei erschafft er ein inhaltlich umfassendes, spielerisch faszinierendes Schleichen, Stehlen und Spionieren, das sich vor seinem Vorbild nicht verstecken muss. Die Einsatzgebiete sind abwechslungsreich, bestehen sowohl aus offenen als auch abgesperrten Arealen und fordern den cleveren Einsatz vielseitiger Ausrüstungsgegenstände sowie wichtiger Hacks. Im Gespräch mit manchen Wachen erhält das Agenten-Duo sogar Zugang zu zutrittsbeschränkten Räumen. Die größte Stärke ist ohnehin das optionale gemeinsame Erleben, bei dem ein Spieler Türen öffnet und das Umfeld seines Partners im Blick behält, während der andere durch Sicherheitslücken schlüpft oder Wachen ausschaltet. Eine andere ist das Belohnen von Spielern, die ihren Auftrag erfüllen, ohne Wachen zu attackieren und jemals entdeckt zu werden. Für Fans fordernder Stealth-Action ist das ambitionierte Clandestine deshalb ein verdammt sympathisches Abenteuer, das ohne technische Schwächen ein starkes Spiel sein könnte! Es leidet es jedoch unter zu vielen Ärgernissen, die dem guten Erlebnis häufig einen Dämpfer versetzen.

Pro

  • freies Vorgehen: vorbei schleichen, Gegner leise ausschalten oder offenes Gefecht
  • manche Wege öffnen sich durch geschicktes Verhandeln mit Wachen
  • Einzel- oder kooperatives Spiel als Agent und Hacker
  • zweiter Charakter hackt Computer oder Schlösser, kontrolliert Kameras und mehr
  • sehr eingeschränktes Inventar zwingt zu taktischen Entscheidungen
  • Einsatzgebiete bestehen aus öffentlich zugänglichen und abgesperrten Bereichen
  • zahlreiche Nebenaufgaben, teils in weit abgelegenen Ecken
  • Wachen können sowohl im Nah- als auch Fernkampf getötet oder lediglich außer Gefecht gesetzt werden
  • Charaktere gehen auf Katyas Leistung im Einsatz ein, mahnen z.B. hinterlassene Spuren an
  • Wachen und andere Figuren sprechen in Landessprache
  • verschiedene Schwierigkeitsgrade und Herausforderungen motivieren zu Wiederholungen
  • nett: zahlreiche Referenzen an Agenten-Spiele und -Filme

Kontra

  • Gegner reagieren erschreckend dämlich, sobald Katya entdeckt wurde
  • Wachen drehen sich nicht um und rennen nacheinander auf z.B. entdeckte Bewusstlose zu
  • wenige Aufträge
  • Steuerung fühlt sich ungenau an
  • altbackene Kulissen und Geräusche
  • kein manuelles Speicher und nur ein Spielstand
  • Solisten mit Gamepad müssen zwischen Controller und Maus/Tastatur hin und her wechseln
  • kleine Fehler kosmetischer und spielbeeinflussender Natur
  • keine deutsche Lokalisierung

Wertung

PC

Ambitionierter und vor allem im Spiel zu zweit spannender Agenten-Thriller mit technischen und KI-Schwächen.