Get Even - Test, Action, XboxOne, PC, PlayStation4

Get Even
23.06.2017, Michael Krosta

Test: Get Even

Die etwas andere Therapie

Die Sekunden des Timers ticken unerbittlich runter. „Der Code lautet 3001, ich bin mir sicher“, wimmert das Mädchen vor mir, das an den Stuhl gefesselt ist. Vier Zahlen später geht die Bombe hoch, doch viele Fragen bleiben. Bandai Namco und The Farm 51 wollen das dramatische Ereignis in ihrem ungewöhnlichen Hightech-Thriller Get Even (ab 3,99€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) mit Hilfe einer verstörenden Therapie aufarbeiten und Antworten liefern. Ob sie greift, analysieren wir im Test…

Allerdings ist es gar nicht so leicht, dieses Spielerlebnis in Worte zu fassen. Denn die Entwickler folgen keiner der sonst so gerne verwendeten Schablonen, sondern vermengen Genres und Konzepte zu einem Gesamtwerk, das sicher zu den bisher außergewöhnlichsten Erfahrungen in diesem Jahr gehören dürfte. Es gibt Momente, in denen sich Get Even anfühlt wie ein Shooter, wenn man mit Pistolen, Gewehren oder der futuristischen Corner Gun sogar um Ecken herum seine Gegner ins Visier nimmt. Wer Konflikten lieber aus dem Weg gehen möchte, entdeckt dagegen die Schleichkomponente, wenn man die Laufwege der Patrouillen einstudiert und alles versucht, sich nicht erwischen zu lassen. Gar nicht so einfach, denn hat man erst die Aufmerksamkeit einer Wache erregt, lässt sich der Alarmzustand kaum noch durch anschließendes Verstecken wieder rückgängig machen und man wird regelrecht dazu gezwungen, das Feuer zu erwidern und damit den Actionweg

Was ist hier los? Wo bin ich? Was soll das alles? Fragen über Fragen...


Keine typische Schablone

Die meiste Zeit wird man allerdings damit verbringen, die Umgebung nach Hinweisen abzusuchen, die Licht ins Dunkel der verworrenen Geschichte bringen. Als wichtigstes Werkzeug erweist sich dabei ein Handy, das nicht nur mit den üblichen Telefon-Funktionen für Anrufe und SMS, sondern auch mit einer Wärme-Sicht, einer UV-Lampe und einem hilfreichen Analyse-Tool für Beweisstücke ausgestattet ist. So sammelt man nicht nur fleißig Dokumente oder lauscht Audio-Logs, sondern sichert u.a. Fingerabdrücke, folgt Blutspuren und Fußabdrücken oder orientiert sich auf der Suche nach dem Sicherungskasten an den Stromleitungen, die immer noch eine Restwärme abgeben. Praktisch: Befindet sich ein Beweisstück in der Nähe, leuchten bis zu vier grüne Dioden am Gehäuse des Handys auf – je nachdem, wie nah man sich bereits befindet. Und auch die Rumble-Motoren des Controllers geben entsprechendes Feedback. Außerdem verfügt das gute Stück über eine Kartenfunktion, auf der nicht nur Gegner, sondern auch deren Sichtfeld markiert wird. Hallo Soliton Radar System, hallo Metal Gear Solid.

einzuschlagen – schade. Denn dabei wird man auch feststellen, dass die KI-Schergen nicht unbedingt zur cleveren Sorte gehören, denn teilweise rennen sie an einem vorbei oder bleiben hängen und schießen dabei stupide in die Wand.

Okay, das klingt bisher nach einem recht gewöhnlichen Krimi, der in klassische Stealth-Action eingebettet wurde. Aber weit gefehlt: Denn schnell stellt sich heraus, dass man in der Rolle des Söldners Cole Black ein futuristisches Headset auf dem Kopf trägt und Teil einer abgefahrenen Therapie ist. Sie soll es erlauben, frühere Erinnerungsfetzen erneut und so realistisch wie möglich zu erleben, um dadurch die Wahrheit der Ereignisse Schritt für Schritt zu enthüllen. Da werden schnell Erinnerungen an Kinofilme wie Inception oder Die Matrix wach! Gleichzeitig öffnet der Kniff den Entwicklern Tür und Tor für...nennen wir es mal vorsichtig experimentelle Situationen. Dort verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen der gefühlten Realität und dem Wahnsinn  oder man verliert sich sogar völlig in skurrilen Traumsequenzen. Wie in Layers of Fear wird man auch hier Zeuge, wie sich die Umgebung von jetzt auch gleich verändert: Der Computer, der eben noch auf dem Tisch stand, ist

Die Traumsequenzen sind nur die Spitze des Eisbergs.


Das gewisse Extra

Get Even ist voll von diesen Mindfucks, die dem Thriller stellenweise nicht nur ein übernatürliches, sondern sogar ein bedrohliches Horror-Flair verleihen. Und nicht nur das: Auch mechanisch löst man sich durch die Virtual-Reality-Therapie von den Fesseln der Konventionen und lässt den Spieler im späteren Verlauf in manchen Abschnitten u.a. durch die Gegend „warpen“ oder erlaubt das Hinzufügen oder Entfernen von  Objekten wie Kisten, Gittern oder Wänden an vorgegebenen Stellen, die sich oft als zusätzliche Deckung verwenden lassen oder den weiteren Weg ebnen. Auf jeden Fall halten diese durchaus abgedrehten Elemente den Spielverlauf angenehm frisch. Für Abwechslung sorgen zudem die eingestreuten Rätsel, bei denen man z.B. elektronische Türschlösser auf kreative Weise knacken oder eine Erinnerung mit der richtigen Anordnung von Fakten aktiv rekonstruieren muss.

mit dem Kameraschwenk zurück plötzlich verschwunden. Oder die Tür, aus der man gerade gekommen ist, führt plötzlich in ein ganz anderes Zimmer oder man landet gar in einer Schleife aus ewig gleichen Räumen.

Darüber hinaus formt man mit diversen Entscheidungen und Handlungen das weitere Spielgeschehen: Zwar durchlebt man in erster Linie Erinnerungen, doch lassen sich diese auch verändern. Lässt man gefährliche Patienten einer Nervenheilanstalt z.B. lieber in ihrer Zelle verrotten oder schenkt man ihnen die Freiheit, muss dann aber mit den Konsequenzen leben? Tatsächlich wird man im späteren Verlauf sogar Auswirkungen spüren, ob man sich vorwiegend für die simple Rambo-Methode oder das aufwändigere Schleichen entschieden hat – und das auf eine ziemlich coole Art und Weise, die hier nicht verraten werden soll. Klasse sind in diesem Zusammenhang die Kommentare des geheimnisvollen Mr. Red aus dem Off, der offenbar als Leiter der Therapie fungiert und den ballerfreudigen Spieler bzw. Mr. Black schon mal direkt fragt, ob ihm das Töten so viel Freude bereitet oder auch andere Handlungen umgehend kommentiert. Das allerdings nur auf Englisch, denn auf eine komplette Lokalisierung hat Bandai Namco leider verzichtet. Immerhin werden in Dialogen deutsche Untertitel angeboten und auch sämtliche Dokumente wurden übersetzt. Trotzdem schade, denn Get Even hätte auch eine deutsche Sprachausgabe verdient gehabt.

Qual der Wahl

Hier werden alle Beweise zusammengetragen. All die gefundenen Dokumente lassen sich erneut durchlesen, um langsam aber sicher einen Durchblick zu bekommen.

Zu Beginn fällt es enorm schwer, all die Zusammenhänge zu verstehen. Man wird regelrecht bombardiert mit Namen, Dokumenten und Zeitungsausschnitten, kann sich zusammen mit den merwürdigen Auswirkungen der Therapie aber noch keinen Reim darauf machen, was zum Geier eigentlich vorgeht. Das Schöne daran: Dem Spieler ergeht es dabei genauso wie dem Protagonisten und so fällt es recht leicht, sich mit ihm zu identifizieren und die Puzzleteile Stück für Stück zusammenzufügen. Und kaum hat man das Gefühl, endlich einen Schimmer zu haben, wartet schon die nächste überraschende Wendung oder Sequenz, die alles wieder über den Haufen wirft. Die Entwickler schaffen es daher gut, Spannung und Neugier über die zehn bis 12 Stunden der Kampagne aufrecht zu halten. Zumal man ab einem bestimmten Punkt auch jederzeit in Abschnitte zurückkehren und dabei alternative Methoden ausprobieren oder sich auf die Suche nach restlichen Hinweisen begeben darf. In dieser Zentrale werden alle bisherigen Erkenntnisse zusammengetragen. Gleichzeitig sieht man auf den Beweis-Tafeln, wo und wie viele Lücken es noch gibt. Zusammen mit den getroffenen Entscheidungen werden also genug Anreize geschaffen, mindestens einen weiteren Durchgang in Angriff zu nehmen.

Ist es ein Shooter? Ja, wenn man es will. Bleibt die Frage, ob das wirklich eine so gute Idee ist...


Grandioses Sounddesign

Einen Bärenanteil an der stellenweise extrem dichten Atmosphäre leistet das herausragende Sound-Design – allen voran der interaktive Soundtrack aus der Feder von Olivier Deriviere (Remember Me), der zusammen mit den gelungenen Effekten und einer gelungenen Surround-Abmischung maßgeblich den Takt für die gewollte Stimmung vorgibt. Bereits in den ersten zehn Minuten spürt man den Einfluss des Klangs, wenn die hämmernden Schläge eines alten Uhrwerks zunehmen und unterbewusst einen Zeitdruck suggerieren oder sich die Musik mit ihrem anfänglichen Bass langsam steigert und an Intensität gewinnt. Doch das ist nur ein erster Vorgeschmack, denn im späteren Verlauf dreht der Soundtrack mit seiner Mischung aus Orchester- und Elektroklängen erst noch richtig auf, teilweise perfekt abgestimmt auf Geräusche der Umgebung oder sogar mit Gesangseinlagen. Vor allem die Horror- und Traumsequenzen entfalten vor allem dank der durchaus verstörenden Arrangements erst ihre volle Wirkung. Gleichzeitig stimmt der Soundtrack in das Unerwartete und Überraschende ein, von dem das ganze Spiel geprägt ist: So tönt z.B. während eines heftigen Schussgefechts plötzlich ein fröhlicher Pop-Song aus den Boxen und es schießt ein weiteres Mal – wie so oft ein „What the Fuck“ durch den Kopf. Tatsächlich habe ich selten ein Spiel erlebt, bei dem dem die Klangkulisse so hervorragend und oft mit fließenden Übergängen auf das Geschehen am Bildschirm abgestimmt wurde. Damit ist Get Even für mich bisher ein heißer Anwärter auf das beste Sound-Design des Jahres – Hut ab, Lautstärke rauf!   

Leider kann die übrige Technik nicht mit diesem Audio-Feuerwerk mithalten. Obwohl der Einsatz von Photogrammetrie, bei der 3D-Modelle auf der Basis von Fotografien der realen Objekte rekonstruiert werden, eine aufwändige bzw. nahezu fotorealistische Kulisse verspricht, wirkt die Grafik leicht angestaubt. Dafür sorgt zum einen die mangelnde Dynamik hinsichtlich der Beleuchtung, wodurch die Szenerie oft genauso statisch und leblos wirkt wie ein Foto. Zum anderen springt die eingeschränkte Zeichentiefe ins Auge, bei genauem Hinsehen häufig Objekte ins Bild ploppen. Die PS4 hat teilweise sogar in den überschaubaren Innenbereichen Probleme damit, Teile des nächsten Raums rechtzeitig darzustellen. Das ist zwar oft nur eine Frage von einer Sekunde oder weniger, aber es fällt auf.

Darstellung am Limit

Genau wie die Tatsache, dass die Unreal-Engine entweder nicht hinreichend optimiert wurde oder – was wahrscheinlicher ist – die Photogrammetrie einen großen Hardwarehunger mitbringt, der sich vor allem in den Außenarealen bemerkbar macht. Selbst auf unserem potenten Gaming-PC kommt die Bildrate ins Straucheln und die Darstellung bewegt sich am Limit des Erträglichen – gleiches gilt für die PS4. Kommt es in einem dieser Areale dann auch noch zu Schusswechseln, spürt man außerdem die negativen Auswirkungen auf die Steuerung, wenn das Zielen plötzlich nicht mehr so flutscht. Viel ärgerlicher sind jedoch die Bugs hinsichtlich der Kollisionsabfrage, die einige Nerven gekostet haben – nämlich dann, wenn man plötzlich festhängt und sich nicht mehr bewegen kann. Hier hilft dann nur noch das Laden des letzten Checkpunkts, der bei unserem Glück meist

Das Drama nimmt seinen Lauf...

weit entfernt war und das erneute Spielen von längeren Passagen erforderte. Dieses „Vergnügen“ hatte im Rahmen des Tests vier Mal – das ist mindestens vier Mal zu viel! Auf der PS4 trat außerdem ein bizarrer Bug auf, bei dem nach dem Intro nur das beleuchtete Display des Handys zu erkennen war, der gesamte Rest der Kulisse aber irgendwie fehlte bzw. von der Dunkelheit verschlungen wurde, obwohl ich mich bewegen und sogar Türen öffnen konnte. Das erneute Starten und selbst eine neue Installation halfen nichts. Erst als ich meinen (offenbar defekten) Spielstand löschte, konnte ich das Spiel an der PS4 mit der korrekten Darstellung beginnen – sehr merkwürdig.

Fazit

Get Even ist eine außergewöhnliche Spielerfahrung! The Farm 51 pfeift auf Konventionen und zelebriert stattdessen einen experimentellen Rausch zwischen Shooter, Stealth, Detektiv-Arbeit, Science-Fiction-Technologie und verstörenden Psycho-Spielchen mit Horror-Anleihen. Man stelle sich vor, The Matrix, Inception und Total Recall würden zusammen mit Layers of Fear, Metal Gear Solid und Alan Wake eine ziemlich verrückte Party feiern. Dabei will man bis zum bitteren Ende die Wahrheit entschlüsseln – und wird dabei nicht nur hinsichtlich der verworrenen Geschichte, sondern auch der Spielmechanik einige gelungene Überraschungen erleben. Zudem wird man feststellen, dass Entscheidungen und selbst die Wahl der Spielweise spürbare Folgen in diesem abgedrehten Szenario haben, in dem vor allem das herausragende Sound-Design für Atmosphäre sorgt. Schade nur, dass die statische Kulisse etwas angestaubt wirkt und sich die Bildrate vor allem in Außenarealen am Limit bewegt, was sich gleichzeitig negativ auf die Steuerung auswirkt. Dass man nach einer Entdeckung nur selten auf den Schleichweg zurückkehren kann, sondern sich stattdessen mit den nicht immer clever agierenden Feinden auseinandersetzen muss, zählt zusammen mit den vereinzelt auftretenden Fehlern (Stichwort: Festhängen) ebenfalls zu den Schwachpunkten. Nichtsdestotrotz ist Get Even ein ganz besonderes Erlebnis, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Pro

  • ungewöhnliche Kombination aus Spielelementen und Genres
  • herausragendes Sound-Design
  • Entscheidungen und Spielweisen haben Folgen
  • interessante und mitunter überraschende Entfaltung der Geschichte
  • nette Rätseleinlagen
  • dichte Atmophäre
  • ordentlicher Umfang (ca. 10-12 Stunden)

Kontra

  • Bildrate stellenweise am Limit (vor allem in Außenarealen)
  • keine deutsche Sprachausgabe (nur lokalisierte Untertitel / Texte)
  • nachträgliches Verstecken bei Stealth-Versuchen kaum möglich
  • vereinzelte KI-Aussetzer
  • ärgerliche Bugs (Festhängen in Umgebung)

Wertung

PC

Get Even ist eine außergewöhnliche Spielerfahrung voller Action, Mystery und WTF-Momente, die man so schnell nicht vergessen wird.

PlayStation4

Get Even ist eine außergewöhnliche Spielerfahrung voller Action, Mystery und WTF-Momente, die man so schnell nicht vergessen wird.

Kommentare
SpookyNooky

Super geschriebener Test. Alle wichtigen Elemente des Spiels werden beleuchtet und eigentlich wurde alles wichtige schon gesagt, aber eine Sache kann man nicht oft genug betonen:

Tatsächlich habe ich selten ein Spiel erlebt, bei dem dem die Klangkulisse so hervorragend und oft mit fließenden Übergängen auf das Geschehen am Bildschirm abgestimmt wurde. Damit ist Get Even für mich bisher ein heißer Anwärter auf das beste Sound-Design des Jahres – Hut ab, Lautstärke rauf!
Für das Sound-Design hat Get Even zurecht Preise abgeheimst. Dazu muss man sagen, dass man das Spiel unbedingt mit Kopfhörern spielen sollte, um diese grandiose Produktion und Abmischung zu genießen. Diese schichtenartige Nutzen von Musik, Sounds und Sprache (Stichworte "The Party" oder "Puppet Master") habe ich so in wirklich noch keinem Spiel erlebt.

Im Indie-Bereich ein kleines Meisterwerk.

vor 4 Jahren