Gettysburg: The Tide Turns - Test, Taktik & Strategie, iPad, PC

Gettysburg: The Tide Turns
03.08.2017, Jörg Luibl

Test: Gettysburg: The Tide Turns

Nord gegen Süd

Auf dieses Spiel mussten Freunde rundentaktischer Wargames lange warten. Das ursprünglich für iPad angekündigte Gettysburg: The Tide Turns von Eric Lee Smith sollte bereits 2014 erscheinen, aber ist erst kürzlich für den PC veröffentlicht worden. Für 8,99 Euro könnt ihr die berühmte Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs (1. - 3. Juli 1863) auf Seiten der Union oder der Konföderierten in abstrakter Draufsicht nachspielen.

Warum habe ich mich so auf dieses kleine Spiel gefreut? Nicht nur, weil ich ein Faible für historische Wargames habe, die es vor allem auf dem Tisch als Tabletops mit Miniaturen oder Cosims (Konfliktsimulationen) zu vielen Schlachten vom antiken Gaugamela bis zum napoleonischen Austerlitz gibt. Vor allem jedoch, weil die Shenandoah Studios gerade mit dieser Brettspieltradition im Rücken sowie einem kreativen Zeitmanagement qualitative Zeichen im Bereich der Rundentaktik setzen konnten. Deshalb wurde Desert Fox: The Battle of El Alamein (Wertung: 92%) bei uns zum Strategiespiel des Jahres 2014 gekürt. Bereits die vorherigen iOS-Titel hatten mit ihren Gefechten des Zweiten Weltkriegs auch international hervorragend abgeschnitten - darunter Battle of the Bulge (Wertung: 88%) und Drive on Moscow (90%).

Eine lange Reise

Das Tutorial erklärt die wesentlichen Elemente des Spiels in Form von Texttafeln - eine deutsche Übersetzung gibt es noch nicht.
Daher war es fast zu erwarten, dass das unabhängige US-Studio einige Begehrlichkeiten wecken würde - zumal es trotz der Wertungserfolge wohl große finanzielle Probelem gab. Und so wurde es noch 2014 von der britischen Slitherine Group aufgekauft, die sich vor allem auf Strategie aller Art für den Rechner spezialisiert. Schon vor der Übernahme häuften sich die Verschiebungen und Ungereimtheiten rund um das Kickstarter-Projekt Gettysburg - es kam nicht vorwärts, es gab Verwirrung aufgrund des Brettspiels gleichen Namens, das eigentlich bei Clash of Arms Games erscheinen sollte und viele Backer befürchteten schon die Einstellung. Statt wie geplant das iPad wurde dann unter den neuen Besitzern der PC zur ersten Entwicklungsplattform ernannt. Unterm Strich musste man jedenfalls drei Jahre auf ein 2014 als "fast fertig" bezeichnetes Spiel warten, das seit dem 20. Juli für 8,99 Euro bei Steam erhältlich ist. Ob es tatsächlich noch für iPad erscheint?

Im Osten von Gettysburg sind die strategischen Siegpunkte mit Flaggen markiert, die die Konföderierten besetzen müssen. In jedem Zug werden die aktivierbaren Truppen zufällig ausgewürfelt.
Wie auch immer: Umso größer ist die Ernüchterung, wenn man es endlich spielt - denn im Gegensatz zu den bisherigen Titeln entsteht nicht diese besondere taktische Faszination. Das ist seltsam, denn sowohl die Draufsicht als auch die abstrakte Darstellung wirken vertraut. Sowohl Spielprinzip als auch Präsentation weichen zwar nicht auf den ersten, aber spätestens auf den zweiten Blick von den Vorgängern ab.

Norden gegen Süden

Dabei sorgt die edle Karte der Region um Gettysburg umgehend für historisches Flair, weil sie im Stile des 19. Jahrhunderts gestaltet ist: Jeder noch so kleine Fluss oder Hügel, jede Straße und jeder Trampelpfad ist sichtbar und wird teilweise original benannt - von "Mc Pherson's Ridge" bis "Weikert's Hill". Es gibt in dieser kartographischen Draufsicht keine sichtbaren Gebiete mit Grenzen, aber sie ist in Hexfelder unterteilt und alle möglichen Positionen werden erst bei Bewegung als Punkte angezeigt.

Je nachdem ob man Union oder Konföderierte spielt, ändern sich die Siegbedingungen.
In diesem Gelände kann man entweder auf Seiten der Union oder der Konföderierten die berühmte Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs nachspielen. Dabei hat man die Wahl zwischen drei KI-Stufen und sechs Szenarien, die entweder eine begrenzte Zeit von wenigen Stunden oder das komplette Geschehen vom 1. bis 3. Juli 1863 über 31 Züge inszenieren. Außerdem gibt es einen Online-Modus für zwei Spieler. Meist gilt es bis zu einer bestimmten Runde mehr Siegpunkte als der Gegner vorzuweisen, indem man ihm Verluste zufügt oder mit Flaggen markierte strategische Punkte auf der Karte besetzt und hält. Woran liegt es also, dass der taktische Funke nicht so überspringt wie mit Panzern & Co in den Ardennen oder in Nordafrika?

    Zum einen weil das toll designte Gelände letztlich zu wenig Auswirkungen auf die eigene Taktik hat. Ja, es beeinflusst die Marschweite der Truppen - man kommt deutlich weiter auf Straßen. Ja, von Hügeln herab und in Wäldern bekommt man als Angreifer oder Vertediger spezielle Boni. Außerdem darf man nicht einfach so in die Kontrollzone eines Feindes, denn dann muss man mit Annäherungsfeuer leben. Aber weder spielen Versorgung im Rückraum noch Sichtlinien ins Vorfeld, forcierte Gewaltmärsche, Hinterhalte oder gewählte Formationen eine Rolle. Ohne einen Nebel des Krieges sieht also jeder sofort jede Truppe, auch wenn sie sich hinter einem Hügel annähert; hier hätte man sich vielleicht am Überraschungsprinzip der "Block Wargames" à la Julius Caesar orientieren sollen, die den Typ sowie die Stärke des Gegners erst bei Kontakt offenbaren. Natürlich widerspricht das dem Kalenderprinzip, indem man alle Einheiten der kommenden Stunden einsehen kann, aber das hätte man entsprechend anpassen oder in einem separaten Spielmodus anbieten können - General Lee wusste auch nicht zu jeder Zeit, wer wann erscheint.

    Schönes Gelände, wenig Möglichkeiten

    Nach der Bewegung wählen die Truppen automatisch eine Formation.
    Bewegt man eine Einheit, werden erreichbare Punkte angezeigt, wo sich die stilisierten Icons der vier Truppentypen (Infanterie, Kavallerie, Artillerie, Pferde-Artillerie) dann voll automatisch ausrichten. Meist nachvollziehbar, aber leider nicht immer ganz plausibel z.B. als defensiver Kreis, obwohl der Gegner lediglich auf einer Seite sichtbar ist und man die Linie bevorzugen würde. Außerdem erweist sich gerade beim Aufmarsch die relativ kleine regionale Karte als hinderlich: Obwohl man auf Seiten der Konföderierten z.B. gerne über den Südwesten auf Gettysburg marschieren würde, ist das aufgrund des künstlichen Kartenendes nicht möglich - hier hätte nur etwas mehr Größe für mehr strategische Freiheit sorgen können. Und  wenn man bedenkt, dass jetzt primär für PC designt wurde, wirken sowohl die Benutzeroberfläche als auch Kameraführung alles andere als optimal; wenn neue Truppen erscheinen, muss man stets nachjustieren und man vermisst auch Kleinigkeiten wie intuitiv eingeblendete Schussreichweiten; für die Streuung der Artillerie muss ich zusätzlich drücken.

    Warum stören hier Dinge, die bei Desert Fox und Co nicht so ins Gewicht fielen? Gerade weil die dargestellte Topographie so viel geländetaktisches Potenzial anbietet, ist man angesichts der bescheidenen praktischen Möglichkeiten letztlich ernüchtert.

    Die Gefechte werden lediglich abstrakt dargestellt.
    Außerdem weicht auch das eigentlich kreative Zufallsprinzip von jenem im Zweiten Weltkrieg ab. Zwar darf man wie gewohnt in einem Kalender nachschlagen, zu welcher Zeit man selbst sowie der Gegner mit welchen Verstärkungen rechnen kann, so dass man durchaus vorausschauend planen kann. Aber sowohl Spieler als auch KI dürfen pro Zug, der jeweils eine Stunde simuliert, nur eine spezielle Auswahl an Einheiten bewegen - also nicht alle sichtbaren, sondern die jeweils ausgewürfelten. Auch der Angriffsbefehl muss quasi als Würfel fallen.

    Zufall entscheidet über Manöver

    Diese Ungewissheit sollte theoretisch für mehr Spannung sorgen, denn man muss sich je nach Ergebnis umorientieren. Allerdings wirkt das hier viel strenger als noch in Desert Fox, wo ich mich in meinem Zug aus einem gewählten Gebiet heraus alle Truppen bewegen und quasi immer kämpfen konnte - so hatte man deutlich mehr Flexibilität und Freiheit sowie klarere geostrategische Optionen. Hier kann man über mehrere Runden einfach Pech haben und die Kavallerie steht still oder eine klar mögliche Umzingelung oder Flankierung scheitert an nicht aktivierten Truppen. Immerhin wird das etwas ausgeglichen, indem man immer ein ganzes nach römischen Zahlen geordnetes Regiment zufällig bewegen darf, das wiederum aus mehreren Einheiten bestehen kann. So kann man dann mehrere Marsch- oder Angriffsbefehle in freier Reihenfolge erteilen. Interessant ist auch, dass der Angreifende drei Vorteile hat: Er kann sich freiwillig zurückziehen, er kann im Vorfeld die Kanonen sprechen lassen und er kann nach einem Sieg in das Feld nachsetzen. All das sollte man bei seinen Überlegungen in der Offensive genauso berücksichtigen wie die Aufteilung der Kräfte, falls man von mehreren Seiten umringt wird - dann verliert man an Schlagkraft. Wie laufen die Kämpfe ab?

    Die Abwicklung der Gefechte ist traditionell extrem spartanisch, denn bis auf etwas Qualm, Geschrei und Verlustanzeigen sieht man nichts. Ich meine damit natürlich kein animiertes Handgemenge, sondern plausible taktische Gewinn- und Verlustanzeigen, so

    Man kann sich die Ergebnisse eines Gefechts "detaillierter" anzeigen lassen.
    dass man das Ergebnis besser nachvollziehen kann - das haben die Shenandoah Studios in The Battle of the Bulge mit dem "Combat Preview" wesentlich besser gelöst, der schon im Vorfeld eine schematische Gegenüberstellung der Kräfte bot, so dass man ins angenehme Grübeln kam; hier kann man lediglich die Ergebnisse in einer sterilen Anzeigen mit Prozentangabe aufklappen. Auch die aktuelle Zahl der Siegpunkte wird nicht elegant in jeden Zug integriert, sondern in ein externes Menü verlagert.

    Spartanische Gefechte

    Es gibt natürlich statistische Unterschiede innerhalb der Truppen von Neulingen bis zu Veteranen und Elite, also Erfahrung in sechs Stufen, außerdem hinsichtlich der Schlagkraft, aber selbst diese wenigen Feinheiten gehen irgendwie unter. Überhaupt hat man mitunter Probleme mit den ausgewürfelten Auswirkungen, denn die Artillerie feuert manchmal aus nächster Nähe mehrmals ins Leere und so manche Flucht aufgrund von Moralverlust wirkt angesichts der sichtbaren Verstärkung nicht nachvollziehbar. Oder anders: Man fühlt sich weitgehend wie der Beobachter eines automatisierten Geschehens. Was natürlich nicht stimmt, denn man

    Schade ist, dass man lediglich drei sterile KI-Stufen wählen kann, die sich zwar durchaus in ihrem Anspruch unterscheiden, aber das geänderte truppentaktische Verhalten über feindliche Generäle hat mir in früheren Spielen deutlich besser gefallen. Online ist so gut wie nie etwas los und ich konnte bisher keine vernünftige Partei spielen, zumal man auch kein eigenes Spiel mit unterschiedlichen Parametern aufsetzen kann, sondern lediglich in vorhandene einsteigen bzw. einladen kann. Übrigens gibt es unter "More" und "History" eine historische Einbettung dieser berühmten Schlacht samt seiner Generäle Lee und Meade. Aber auch das wirkt im Vergleich zu den bisherigen Titeln etwas lieblos.

    Fazit

    Ich werde nicht warm mit Gettysburg! Da warte ich über drei Jahre auf dieses Spiel im Amerikanischen Bürgerkrieg, weil die Shenandoh Studios bisher immer herausragende Qualität für iPad abgliefert haben - inklusive Desert Fox, unserem Strategiespiel des Jahres 2014. Aber kaum verlieren sie ihre Unabhängigkeit und entwickeln erstmals priorisiert für PC, können sie die Faszination nicht mehr halten. Gerade weil die toll dargestellte Topographie so viel geländetaktisches Potenzial anbietet, bin ich angesichts der bescheidenen praktischen Möglichkeiten letztlich ernüchtert. Dass die Präsentation gerade für dieses System viel zu spartanisch ist und es einige Kamera- sowie unnötig umständliche Menütücken gibt, ist gar nicht das Problem. Aber bis auf die edle historische Karte sowie das solide Fundament mit seinem - gegenüber früheren Spielen eher nachteilig abgewandelten - Zufallsprinzip sowie dem immer noch kreativen Zeitmanagement, wird wenig von diesem abstrakten Kräftemessen zwischen Nord- und Südstaaten in Erinnerung bleiben. Ich vermisse gerade angesichts des Zeitalters mehr geländetaktische Tiefe, was Sichtlinien und Formationen sowie Überraschungen betrifft. Zwar wird man auch so einige unterhaltsame Manöver erleben, zumal auch Artillerie, Annäherungsfeuer, Moralverluste und Kräfteteilungen eine wichtige Rolle spielen, aber hier gerate ich lange nicht so ins gemütliche Grübeln wie noch in The Battle of the Bulge & Co.

    Pro

    • edle Karte
    • drei KI-Stufen
    • interessantes Zeitmanagement mit Zufallsprinzip
    • Moral, Position und Gelände relevant
    • sechs Szenarien spielbar
    • Konföderierte oder Union spielen
    • Online/Offline-Modus für zwei Spieler

    Kontra

    • spartanische Präsentation
    • zu wenig Geländetaktik möglich
    • kein Nebel des Krieges, alles sichtbar
    • kleinere Kameratücken bei frischen Truppen
    • nicht immer plausible Gefechtsauflösungen
    • keine manuellen Formationen oder Ausrichtungen
    • schwacher Online-Modus
    • nur englische Texte

    Wertung

    PC

    Immer noch solide historische Rundentaktik in abstrakter Draufsicht. Aber die Faszination von Desert Fox und Battle of the Bulge wird nicht erreicht.