The Invisible Hours - Test, Adventure, VirtualReality, HTCVive, PC, PlayStation4, OculusRift, XboxOne, PlayStationVR
Ich kann es einfach nicht lassen. Die Neugier ist stärker. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, im zweiten Akt erst einmal beim schwedischen Detektiv zu bleiben, der offenbar zufällig in den Mordfall gestolpert ist. Beim zweiten oder dritten Anlauf bleibt schließlich noch genügend Zeit, durchs Haus zu laufen, Dokumente zu untersuchen und Nebenschauplätze zu finden. Doch wenn im Raum nebenan ein spitzes Kreischen ertönt oder im Augenwinkel ein Schatten die Treppe hinauf huscht, muss ich der Sache einfach nachgehen! Und tatsächlich, der Ausflug hat sich gelohnt. Die berühmte Schauspielerin Sarah Bernhard setzt sich an ihren Schminktisch und – tut etwas, was ich hier natürlich noch nicht verrate, was aber eine hochinteressante Verbindung zum Hauptverdächtigen offenbart. Ich fühle mich dabei zwar fast wie ein Voyeur, aber der Ausflug hat sich gelohnt. Als ich wieder die Treppe hinunter stürme, braut sich im Foyer neues Konfliktpotenzial zusammen, dessen Ursprung ich ungerne verpassen würde, also spule ich die Szene einfach ein, zwei Minuten zurück.
Neugier als Triebfeder
Ähnlich wie in Her Story handelt es sich nicht um kein klassisches interaktives Spiel – schließlich durchstreift man die Welt quasi als unsichtbarer Zuschauer, der lediglich beobachten, zuhören und wichtige Gegenstände aus der Nähe betrachten kann, also spielt man auf gewisse Art mit Fakten und Positionen im Haus. Passend dazu gibt es im Theatersaal, der als Hauptmenü dient, eine Liste mit entdeckten Geheimnissen. Als Gustav und die niedergeschlagene Frau das Haus betreten, liegt der Gastgeber bereits ermordet hinter der Eingangstür. Die Tat geschah offenbar erst wenige Minuten vorher. Der blinde Butler hat den Mord nicht einmal mitbekommen und auch der Großteil der Gäste streitet natürlich ab, damit in Verbindung zu stehen. Verdächtige gibt es zur Genüge: Teslas von Komplexen geplagter Rivale Thomas Edison, ein zwielichtiger Triebtäter und auch eher ruhige Naturen wie der Sohn eines Eisenbahnmagnaten agieren in gewissen Momenten reichlich nervös. Sie alle haben eine vage formulierte Einladung des Erfinders erhalten: Der Besuch soll ihnen die Chance bieten, ihre schlimmsten Übeltaten wiedergutzumachen.
Weder Film noch Spiel?
Ein Lob verdient hat sich in dem Zusammenhang auch die gelungene deutsche Vertonung, welche die Dramatik und subtilere Momente meist professionell herüberbringt. Nur manchmal durchbrechen längere Ruhepausen die Illusion – z.B., wenn sich eine Figur nach einer dramatischen Auseinandersetzung minutenlang stoisch und fast regungslos ans Kaminfeuer setzt. Manchmal wirken solche Denkpausen sogar glaubwürdig, z.B. wenn sich der emotional erschöpfte Gustav zu einer Denkpause auf den Boden des Foyers kauert, doch manchmal ziehen sich solche „Auszeiten“ zu sehr in die Länge. Die Geschichte und ihre Wendungen haben mich zwar nicht ganz so stark gefesselt wie im Kinofilm The Prestige von Christopher Nolan, doch auch hier wirkt die Auflösung gelungen. Zudem ist es unheimlich faszinierend, all die weiteren Zusammenhänge zwischen den Handlungsfäden aufzudecken, während man durchs Haus läuft und immer wieder vor- und zurückspult. Oder man überprüft auf der Übersichtskarte im Hauptmenü die Laufwege der Figuren, die sich mit Hilfe einer beweglichen Zeitskala nachvollziehen lassen.
Professionelle Umsetzung
Fazit
Dies sind die Momente, für die ich VR liebe: Auch wenn die neue Technik die Spielewelt bisher nicht auf den Kopf gestellt hat, so gibt es doch Augenblicke, in denen man einfach spürt, etwas Neues und Aufregendes vor sich zu haben - so, wie man es noch nicht erlebt hat. The Invisible Hours von Tequila Works gehört klar zu diesen Ausnahme-Titeln, für die das spanische Studio praktisch eine neue Erzählform entwickelt hat. Im Grunde handelt es sich um einen klassischen Mord-Krimi mit sehr verschiedenen Charakteren in einem Herrenhaus. Doch hier wird das ganze Anwesen zur Bühne, auf der man frei herumspaziert. Woher kam gerade der spitze Schrei? Was zum Kuckuck hat der unruhig durchs Haus tigernde Edison dort hinter der Treppe verloren? Und welche Rolle spielen bei all dem die seltsamen surrenden Erfindungen, die auf der Insel stehen? In solchen Momenten kann man gar nicht anders, als die Szene zu pausieren und der Sache auf den Grund zu gehen. Als unsichtbarer Zuschauer kann man schließlich sämtliche Nebenschauplätze besuchen, an denen die professionell agierenden Schauspieler interessante Hintergründe offenbaren. Ein Nachteil ist wie so oft bei VR die Kürze des Ausflugs: Nach nur rund drei Stunden hatte ich die wichtigsten Geheimnisse entschlüsselt. Dazu gesellen sich kleine Mankos wie seltsame Lippenanimationen oder die fummelige Vive-Steuerung. Trotzdem habe ich großen Respekt für diese Leistung von Tequila Works, denn mir fällt gerade kein Spielfilm ein, der mich in diesem Jahr so gut unterhalten hat wie The Invisible Hours! Im Gegensatz zu erzählerisch fokussierten Adventures wie Batman: The Telltale Series nerven hier zudem keine aufgesetzten Alibi-Rätsel. Der Titel versucht schließlich erst gar nicht, ein interaktives Spiel zu sein.
Pro
- faszinierender klassisches Krimi-Thema in neuem Gewand
- innovative Erzählform weckt immer wieder das Interesse
- erstaunlich gut kombinierte Handlungsfäden
- an jeder Ecke entdeckt man spannende persönliche Geheimnisse der Gäste
- intuitive, einfach gehaltene Steuerung mit praktischen Kniffen wie Vor- und Rückspulfunktion
- tolle deutsche Synchro
- gemütliche Kriminalfilm-Atmosphäre in ungemütlichem Wetter
- schöne Einbindung bekannter Figuren
- sehr unterschiedliche Charaktere mit coolen Macken und Schlagwörtern
- sehr komfortabel und ohne Übelkeitsgefahr
Kontra
- mit einer Stunde Echtzeit ziemlich kurz (man spielt allerdings mehrere Durchgänge)
- einige unnatürlich wirkende Ruhepausen von Figuren
- Steuerung nicht ideal an Controller angepasst (Vive)
- Mundbewegungen mitunter seltsam animiert