Déraciné - Test, Adventure, VirtualReality, PlayStationVR

Déraciné
13.11.2018, Benjamin Schmädig

Test: Déraciné

Miyazakis Schmetterlinge

Wenn der Schöpfer von Dark Souls ein Erzählspiel herausbringt, macht das natürlich hellhörig – nicht zuletzt deshalb, weil seine Art Geschichten über interaktive Kulissen zu erzählen gerade in der Virtual Reality interessantes Spielekino verspricht. Also habe ich mich mit PlayStation VR und Move (das dringend benötigt wird) in ein märchenhaftes Abenteuer begeben, das in unserem Test allerdings nicht ganz so endete, wie es die Einleitung verspricht.

Tatsächlich ist die Kulisse zumindest auf den ersten Blick eine Stärke dieses Erzählspiels, denn das abgelegene Internat mit seinen schweren Holztüren, verschmierten Kreidetafeln und quietschenden Öllampen wirkt beinahe wie das Museum einer Jahrzehnte alten Epoche. Als Fee schwebt man über die Holzdielen und ist vor menschlichen Blicken geschützt, obwohl man Gegenstände anfassen und manipulieren kann.

Miyazakis Zeitreise

Wie ein Museum wirkt der Schauplatz auch deshalb, weil sich praktisch nichts bewegt. Denn während man umhereilt, aus einem Fenster schaut oder den Dachboden erkundet, verharren alle Kinder und Erwachsenen starr in ihrer Position. Miyazaki inszeniert also Momentaufnahmen, die nur dann zumindest einige Sekunden lang lebendige Szenen werden, nachdem man ein gesuchtes Detail verändert hat. Die entscheidenden Aktionen mit den richtigen Gegenständen auszulösen, ist daher die Aufgabe der Fee. Sie sucht Schlüssel, um Türen zu öffnen, hebt einen Stapel Wäsche auf, auf dass ein darin verstecktes Buch herausfällt und mehr.

Leben und Tod

Die knorrige alte Schule ist ein romantisch verklärter, plastischer Schauplatz.

Grundsätzlich haucht Miyazaki seinen Figuren dabei mit viel Herz Leben ein. Seine Schule ist kein gruseliger Ort, die dort untergebrachten Kinder und Erwachsenen sind warmherzige Freunde. Und wenn ihr partout nichts über die Handlung erfahren wollt, dann überspringt diesen und den folgenden Absatz! Interessant ist, dass man gleichzeitig einer Erzählung folgt, die sich um Leben und Tod dreht. Immerhin besitzen Feen hier die Fähigkeit Toten neues Leben einzuhauchen, wenn sie Anderen dafür ihre verbleibende Lebenszeit abnehmen. Doch welche Folgen hat es denn, wenn sich der Direktor opfert, um ein Mädchen zu retten?

Die Frage ist höchst interessant – ihre Auflösung wirkt leider profan und war für mich schon lange im Voraus vorhersehbar. Nach dem packenden, mehr als zehn Jahre alten Director’s Cut von The Butterfly Effect wusste ich jedenfalls sehr früh, wie der Hase läuft, und war zu allem Überfluss enttäuscht darüber, dass Miyazaki recht hölzern zwischen naivem Wir-haben-uns-alle-lieb-Kitsch und dem düsteren Spiel mit Leben und Tod hin und her pendelt. ‚Typisch japanisch‘, dachte ich mir – besser macht es diese Einsicht freilich nicht.

Die wenigen starren Animationen sowie der übertrieben prosaische Sprachfluss der Charaktere erzwingen außerdem eine Distanz zum Geschehen, was gerade dem Erleben in der Virtual Reality abkömmlich ist: Das zentrale Hineinversetzen leidet unter der sperrigen Inszenierung. Einen emotionalen Zugang schafft Miyazaki dadurch nicht.

Überhaupt nähert er sich auf so konventionelle Weise der virtuellen Realität, dass Déraciné weit hinter meinen Erwartungen an ein modernes VR-Abenteuer zurückbleibt. Alleine die Steuerung hat mit moderner Interaktion nichts zu tun. So dankbar ich etwa dafür bin, dass man über Teleportationspunkte durch die Schule „springt“, so sehr sollte man Spielern mit VR-festen Mägen ein alteratives freies Bewegen anbieten. Weiterhin verstehe ich nicht, warum die Tasten zum Ändern der Blickrichtung auf dem gleichen Move-Controller liegen wie die zum Teleportieren. Das ständige Umgreifen verkompliziert nämlich das Vorankommen, während man die Tastenbelegung „selbstverständlich“ nicht ändern darf.

Anklicken statt Anfassen

Und wenn es doch nur die Bewegung wäre... Tatsächlich ist aber die komplette Interaktion nur ein Schatten dessen, was sie sein sollte. Warum fasst man Gegenstände z.B. nicht so an, wie man gerade die virtuelle Hand dranhält und warum stellt man sie nicht an einem beliebigen Ort ab oder wirft sie gar dahin? Stattdessen gibt es feste Greifpunkte und vorgefertige Aktionen, die man per Knopfdruck auslöst. Das empfinde ich anderthalb Jahre nach Lone Echo und noch dazu in einem von Sony, also einem der größten VR-Anbieter veröffentlichten Titel als überraschend veraltet. Von überzeugender Immersion kann keine Rede sein.

Spielerisch enttäuscht das erste VR-Abenteuer des Dark-Souls-Schöpfers leider.

Man schaue sich an, wie Lone Echo Erzählspiel und VR-Adventure verbindet, wie What Remains of Edith Finch seine interaktive Geschichte erzählt oder Tacoma eine Welt zum Leben erweckt, in der man ebenfalls unsichtbarer Beobachter ist. Im Gegensatz dazu wirkt Déraciné wie ein Relikt aus der Zeit um Dear Esther, sprich überholt und spröde.

Aus der Zeit gefallen

Verstärkt wird dieser Eindruck durch die geringe Anzahl an Objekten, die man aufnehmen und anschauen darf sowie die wenigen Interaktionspunkte, an denen das überhaupt möglich ist. Nicht zuletzt wird man beim Auswählen eines Interaktionspunktes oft unangenehm nah an die Figuren herangesetzt und zu allem Überfluss ist die Schrift auf sämtlichen Büchern oder Notizzetteln dermaßen klein, dass man sie nur über darüberliegende Hilfefenster lesen kann – eine Immersionshürde, die so leicht vermeidbar gewesen wäre!

Interessanterweise hat das ebenfalls in diesen Wochen veröffentlichte Return of the Obra Dinn ganz ähnliche Probleme – allerdings überzeugt das von gerade mal einem einzigen Entwickler geschaffene Detektivspiel mit einer Rätselkunst, von der Déraciné meilenweit entfernt ist: Beobachtet man auf der Obra Dinn genau die Umgebung und muss ohne Händchenhalten clever schlussfolgern, klickt man sich hier über wenige Interaktionspunkte einfach zum Ziel. Und kommt man im Finale schließlich „zu früh“ auf die entscheidende Idee, steckt man so lange fest, bis man wider besseres Wissen gegenteilig zur theoretisch längst möglichen Lösung gehandelt hat. Nein, geschicktes Spieldesign ist Miyazakis Stärke in diesem Fall leider wirklich nicht.

So lange es spielerisch passt...

Fazit

Hidetaka Miyazaki ist dafür bekannt, über spielerisch und erzählerisch einzigartige Kulissen Geschichten zu erzählen – seinem Déraciné merkt man das allerdings nicht an. Weder entdeckt man in der alten Schule interessante Objekte noch hat man auch nur die Möglichkeit, die Umgebung eingehend zu untersuchen. Gerade die in der Virtual Reality so wichtige Interaktion beschränkt sich auf ein profanes Point-and-Touch mit ganz wenigen dafür vorgesehenen Gegenständen. Würde man wenigstens einer spannenden Erzählung folgen... doch mehr als ein müdes Butterfly Effect, das anderswo längst packender inszeniert wurde, gelingt Miyazaki nicht. Hinzu kommen ein viel zu früh vorhersehbares Ende und liebenswerte, aber unnatürlich steife Charaktere. Eine Weile lang wird man von der Neugier über die übernatürlichen Ereignisse, der stimmungsvollen Musik sowie den plastischen Kulissen getragen. Zu schnell geht diese Faszination aber im ermüdenden Voranklicken eines oberflächlichen Mystery-Krimis verloren.

Zweites Fazit von Michael Krosta:

Langeweile hat einen neuen Namen: Déracinè! Ich weiß nicht, was Miyazaki-san und sein Team bei From Software geritten hat, ein solch dermaßen ödes, uninspiriertes und belangloses Abenteuer abzuliefern. Im Prinzip geistert man auf der Suche nach neuen Wimmelbild-Hinweisen sowie dämlichen Sammelaufgaben immer wieder durch die gleichen Areale, lauscht den einschläfernden (aber immerhin komplett lokalisierten) Dialogen oder Monologen der uninteressanten Figuren oder freut sich, mit dem Einsatz des mächtigen Geister-Ringes oder Gegenständen aus dem Inventar zumindest einen Hauch von halbwegs sinnvoller Interaktion zu erleben. Die vor allem aufgrund des Soundtracks vorherrschende Melancholie wirkt dabei nicht nur künstlich aufgesetzt, sondern drängt sich mit den ewig gleichen Klängen sogar unangenehm auf und lullt mich als Spieler passend zum Spielverlauf zusätzlich ein. Dazu gesellt sich eine fummelige Teleport-Steuerung mit den obligatorischen Move-Controllern, bei der man aufgrund zu weniger „Fixpunkte“ teilweise sogar Umwege gehen muss, um ans gewünschte Ziel zu gelangen. Warum zum Teufel kann man als Geist zwar auf Bäume klettern, sich aber nicht von einem Dach zurück auf den Boden teleportieren? Leider versagt Déracinè für mich damit nicht nur als Erlebnis, sondern auch als Spiel! Wenn das die Vision ist, die From Software für VR hat, kann man nur hoffen, dass Déracinè das erste und letzte Experiment des Studios in diesem Bereich darstellt. Da kehre ich sogar lieber freiwillig zur nächstbesten generische VR-Ballerbude zurück als noch eine Minute länger mit dieser inhaltlich sowie spielerisch mangelhaften Schlaftablette zu verschwenden.

Pro

  • plastische Kulisse und stimmungsvolle Musik
  • emotionale Geschichte mit liebenswerten Figuren...

Kontra

  • unkomfortable, altmodische VR-Steuerung
  • ... die allerdings seltsam künstlich auftreten und sprechen
  • keine umfassende Interaktion, sondern kurzes Berühren vorgesehener Objekte
  • langweiliges Abarbeiten einfacher Klickaufgaben statt eleganter Rätsel
  • viel nervenaufreibendes Hin
  • und Herlaufen, besonders gegen Ende
  • vorhersehbares Ende und auffallende Logikfehler

Wertung

VirtualReality

Erzählerisch und vor allem spielerisch enttäuschender VR-Einstieg von Hidetaka Miyazaki.

PlayStationVR

Erzählerisch und vor allem spielerisch enttäuschender VR-Einstieg von Hidetaka Miyazaki.

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