Harveys Neue Augen - Test, Adventure, iPad, Switch, PlayStation4, PlayStation4Pro, PC, XboxOneX, iPhone, XboxOne
Zu Beginn gleich eine Entwarnung an Edna-Fans: Auch die schizophrene Heldin des Vorgängers taucht häufig im Spiel auf, doch die Hauptrolle spielt diesmal die schüchterne Klosterschülerin Lilli. Das adrett gekleidete Mädchen bemüht sich stets, alle Aufgaben der strengen Oberin Ignatz zu erfüllen – egal wie ungerecht sie sind. Trotzdem bringt ihr das nur Ärger ein: Ihre Mitschüler halten sie für eine langweilige Streberin und die Chefin des Klosters hält ihr eine Standpauke nach der anderen, weil Lilli dank ihrer Tollpatschigkeit ständig etwas falsch macht.
Neue Neurosen
Wie es sich für ein braves Mädchen gehört, schluckt sie allen Ärger herunter und vergräbt kindliche Gefühlsausbrüche tief im Inneren – wie lange das wohl gut geht? Lillis Freundin Edna ist der einzige Lichtblick in ihrem trüben Klosteralltag: Nach ihrem Ausbruch aus der Geschlossenen ist sie ebenfalls in der Klosterschule untergekommen, wo sie natürlich nur Unsinn anstellt. So hat sie z.B. Termiten im Schaukelbaum angesiedelt, dessen Reifensitz zufälligerweise direkt über einem gähnenden Abgrund hängt. Lilli hat wieder einmal den schwarzen Peter gezogen. Sie soll den Baum im Auftrag der Oberin von der Schädlingsplage befreien.
Weniger Experimente
Eine der wichtigsten Änderungen zum Vorgänger ist, dass Lilli - anders als Edna - nicht wild alles mit allem kombinieren oder sich gar mit Gegenständen unterhalten kann. Inhaltlich wird die einschneidende Kursänderung folgendermaßen erklärt: Lilli ist psychisch zwar mindestens genau so gestört wie Edna, besitzt allerdings keine gespaltene Persönlichkeit, welche Ednas spezielle Fähigkeiten ermöglichen. Lilli ist zwar pflichtbewusst, aber nicht lebensmüde. Also lässt sie sich auch nach mehrfachem Klicken nicht zum Baum am Abgrund bewegen. Nicht einmal der Vertrauen erweckende Erzähler aus dem Off kann sie umstimmen. Auch als er mehrmals mit Nachdruck wiederholt, dass Lilli sich der „völlig ungefährlichen Reifenschaukel über dem Abgrund näherte“, schüttelt Lilli nur den Kopf und gibt mit besorgter Stimme nur ein verneinendes „Mm-mm“ von sich. Wenn sie ab und zu also doch ihren Willen durchsetzt, muss ich mir eine Alternative ausdenken. Die Termiten im Baum z.B. stehen nicht nur auf Holz, sondern lassen sich auch mit klebrigem Süßkram an andere Orte locken, an denen ihre Dienste benötigt werden.
Als Edna davon hört, dass ein Psychologe erzieherische „Persönlichkeitsveränderungen“ an den aufsässigen Schülern vornehmen soll, vermutet sie sofort ihren alten Erzfeind, den Anstaltsleiter Dr. Marcel, hinter der Aktion. Also macht sie das, was alle furchtlose Schulrabauken in dieser Situation täten: Sie verkriecht sich schnurstracks unter der Bettdecke und lässt Lilli die Drecksarbeit erledigen.
Er ist bööööööseee!
Vor der Ankunft des Doktors schlurfe ich mit Lilli über das Grundstück und versuche, alle Beweise für Ednas Anwesenheit verschwinden zu lassen: Dabei handelt es sich um verlorene Knallfrösche, einen in harte Baumrinde geritzten Freundschaftsschwur und weiteren Kleinkram. Um an die Beweise zu gelangen, häuft Lilli zunächst einmal jede Menge Gegenstände in ihrem Inventar an; bis zu 21 Dinge passen hinein. Alles Eingesammelte erfüllt diesmal auch eine Funktion: Wenn etwas nicht zusammen passt, teilt der Sprecher mir das mit und gibt meist zusätzlich einen süffisanten Gag zum Besten. Es gibt also viel weniger Möglichkeiten, sich in eine Sackgasse zu verrennen. Der Experimentierfreude werden dadurch natürlich engere Grenzen gesetzt, aber Fans großer Areale kommen trotzdem auf ihre Kosten: Ich grase gemütlich das Klosterschulgrundstück ab, entdecke hier und da etwas Neues und löse nach und nach immer mehr Inventarrätsel.
Dezente Hinweise
Eine besondere Design-Entscheidung ist der intensive Einsatz des Erzählers: Lilli ist von Haus aus introvertiert, doch selbst wenn sie sich einmal mitteilen möchte, kommt sie nie zu Wort. Entweder die Oberin schimpft vorher mit ihr, Edna nimmt ihr einen Gedanken aus dem Mund oder ihr Gesprächspartner findet eine anderen Weg, ihr nach nur einer gesprochenen Silbe über den Mund zu fahren. Im Endeffekt kommt sie im kompletten Spiel nie richtig zu Wort, auch wenn sie – wie im Unterricht – noch so rührend den Finger in die Luft reckt. Da natürlich trotzdem allerlei Gedanken in ihrem Kopf herumschwirren, übernimmt der Erzähler die Aufgabe, sie dem Spieler mitzuteilen.
Die ausgiebigen Sprecher-Monologe sind ein echter Glücksgriff: Die besten Witze ergeben sich durch die Situationskomik. An jeden noch so unbedeutenden Nebensatz hängt der Erzähler zum Abschluss einen trockenen Kommentar. Natürlich lässt er es sich nicht nehmen, vorher eine kleine Atempause einzulegen: "Lilli fand Ednas Selbstportrait sehr gelungen. Sie hätte ihren rechten Arm dafür gegeben, auch so zeichnen zu können. Leider war sie nicht stark genug, um durch den Knochen zu kommen." Besonders unterhaltsam sind jene Szenen, in denen Lillis sklavisches Festhalten an der Etikette mit den Rachefantasien ihres Unterbewusstseins aneinander gerät. Es ziemt sich schließlich nicht, jemanden zu wünschen, dass eine Tarantel Eier in seine Augenhöhlen legt. Da kann er noch so gemein sein, ein braves Mädchen denkt so etwas nicht.
Schadenfreude ist die schönste Freude!
Der trashige Zeichenstil passt ebenfalls prima ins Konzept. Er wurde zwar aus der Not des Vorgängers geboren (der erste Teil wurde zum Großteil von Müller-Michaelis im Alleingang erschaffen), unterstützt aber auch die ausschweifende Erzählweise. Der visuelle Minimalismus lenkt die Aufmerksamkeit auf die wichtigen Dinge – und nicht vom Text ab. Schon das Intro ist ein Sinnbild dafür: Minutenlang sieht man nur einen gezeichneten Wollzwirn durch das Bild scrollen, während der vom Edna-Erfinder gesungene Titelsong "Nadel und Faden" erklingt. Der finstere Text gibt bereits einen guten Vorgeschmack auf den rabenschwarzen Humor, welcher sich wie ein roter bzw. stoffhasenblauer Faden durchs Abenteuer zieht. In besonders nahen Einstellungen und im späteren Spielverlauf wirken manche der Zeichnungen allerdings schon zu detail- und kontrastarm - vor allem im Zeitalter von 4K und konkurrierenden HDR-Standards.
Pass damit auf, sonst gibt's Narben!
Die auf einer Goblin-Statue hängenden Knallfrösche schnappe ich mir mit der Hilfe eines anderswo eingesammelten Schwertes. Dazu muss ich die Klinge allerdings erst einmal in den Zeiger der defekten Schuluhr stopfen. Wenn ich auf den großen Zeitmesser klicke, gibt der Sprecher übrigens einen entsprechenden Hinweis, dass die Zeiger seltsamerweise in Klingenform gestaltet wurden. Und wenn ich auf den Goblin klicke, erzählt er ausgiebig davon, wie instabil die schwere Skultur an der Wand befestigt ist.
Mysteriöse Unfälle
An ihrer Stelle sind jetzt die lustigen kleinen Zensur-Gnome aufgetaucht, die Lilli manchmal sieht. Sie malen all das hübsch rosa an, mit dem ihre Psyche sich lieber nicht auseinandersetzen möchte. Wie praktisch! Während Lilli sich durch das Kloster rätselt, verschwinden nach und nach immer mehr Mitschüler von der Bildfläche. Für die naive Antiheldin ist das noch lange kein Grund zur Skepsis, doch ich als Spieler finde mit fortschreitender Spieldauer immer mehr Gefallen daran, unter dem Deckmantel der Etikette Gemeinheiten anzustellen. Schließlich liefert mir mein Alter ego mit der unschuldigen Miene die perfekte Rechtfertigung für mein Handeln: Wenn man sich nur an Regeln und Sitte hält, wird schon alles seine Richtigkeit haben!
In den folgenden Kapiteln wird es noch abgedrehter. Wer sich so wenig wie möglich spoilern möchte, sollte den Rest des Tests überspringen und zum Fazit wechseln. Da es sich um ein zentrales Feature der Spielmechanik handelt, will ich es aber nicht unerwähnt lassen: Als Lilli einen Brief von Edna findet, versucht sie natürlich, auch aus dem Kloster zu entkommen und ihrer Freundin zu helfen. Leider kommt ihr Dr. Marcel in die Quere. Als er sie in seiner Gewalt hat, wird klar, was es mit dem Titel des Spiels auf sich hat: Er hat Ednas alten Stoffhasen Harvey in eine Hypnosepuppe mit rot glühenden Augen verwandelt. Mit Hilfe des teuflischen Werkzeugs verpflanzt sie noch mehr psychische Blockaden in das ohnehin gebeutelte Hirn der armen Klosterschülerin.
Nicht mit dem Feuer spielen!
Immer, wenn sie etwas tut, was sich für ein braves Kind nicht gehört, erscheint eine Projektion von Harvey auf der Bildfläche und betet mit mechanischer Stimme ein Verbot herunter. Versucht sie, Löcher in ein Laken zu stanzen, ermahnt sie der flauschige Anstandswauwau z.B. „Du sollst nicht mit spitzen Gegenständen hantieren.“ Ein versuchter Ausflug in eine finstere Höhle quittiert Harvey mit „Du sollst dich nicht an gefährlichen Orten herumtreiben!“ Natürlich hat der „lustige Hase“ auch einen Gegenvorschlag parat: „Es gibt doch so viel schönere Orte, an denen Kinder sich aufhalten können. Das Berufsinformationszentrum des Arbeitsamts zum Beispiel. Oder ein Rolf-Zuckowski-Konzert!“
Skurrile Traumwelten
Ab und zu trifft Lilli außerdem auf eines der ausgelagerten Puzzles und Minispiele. Sie sind zwar mit der Handlung verwoben, wirken aber trotzdem etwas aufgesetzt. Sie muss zum Beispiel den Schamanen durch ein Höhlenlabyrinth lenken oder Logikrätsel lösen, in denen eine von Harveys aufgestellten Regeln als Widerspruch entlarvt werden. Dazu schiebe ich auf einem Extrabildschirm meist diverse Gegenstände, Symbole oder Satzteile an die richtige Stelle. Keine Angst – das Spiel ist nicht zum Professor Layton-Klon mutiert - es gibt nur rund ein halbes Dutzend dieser Aufgaben. Mir haben sie aber nicht sonderlich gut gefallen. Die Entwickler wollten ihre Spieler offenbar auch nicht zu sehr damit ärgern, daher lassen sie sich mit einem Knopfdruck überspringen. Im späteren Verlauf gibt es übrigens ein Wiedersehen mit liebgewonnen Bekannten wie Droggelbecher und dem philosophierenden Bienenmann.
Fazit
Was für ein Trip! Neben Trover rettet das Universum gehört Harveys Neue Augen auch heute noch zu den bizarresten Geschichten der Spielewelt! Edna-Schöpfer Jan Müller-Michaelis konnte sich seinerzeit voll austoben: Lillis Abenteuer quillt geradezu über vor albernen Pointen, obskuren Momenten, viel schwarzem Humor und unheimlich treffsicher verfassten Texten. Vor allem Erzähler Götz Otto macht seine Sache perfekt. Es ist einfach zu cool, mit Lillis unschuldigem Gesichtsausdruck durch die Welt zu stapfen und nach und nach immer mehr Chaos anzurichten. Auch spielerisch wirkt das Abenteuer rund: Das aberwitzige Alles-mit-Allem-Kombinieren und Unterhaltungen mit Gegenständen wurden zwar gestrichen, doch dieser Umstand sorgt auch für logischere Kopfnüsse. Die Inventar-Rätsel fallen trotzdem noch ein wenig komplexer und kniffliger aus als im Genre-Durchschnitt. Die Hamburger hatten die richtige Balance zwischen einem mittleren Schwierigkeitsgrad und in die Dialoge eingebundenen Hinweisen gefunden. Auch der Umfang passt mit rund zwölf Stunden. Nur Details dämpfen den Spaß ein wenig: Die Controller-Steuerung etwa geht nicht so intuitiv von der Hand wie mit Maus und Tastatur - auf Dauer kann man sich aber gut damit anfreunden. Auch ein paar neue Fehler wie Sound-Macken funkten dazwischen, während alte ausgemerzt wurden. Eine vertane Chance ist außerdem, dass sich Daedalic auf der Switch schon wieder eine Touchscreen-Steuerung gespart hat. Wer auch nur ansatzweise auf Adventures mit skurrilem Humor steht, sollte sich Harveys Neue Augen trotzdem unbedingt zulegen! So oft wie hier musste ich nicht einmal in Klassikern wie Monkey Island oder Zak McKracken lachen!
Pro
- viel schwarzer Humor
- interessante Charaktere
- wahnwitzige Situationskomik
- unheimlich komische Texte
- Götz Otto brilliert als Sprecher
- übrige Dialoge auch gut vertont
- alberner, trashig-minimaler Zeichenstil
- jede Menge Inventar-Rätsel
- Großteil der Kopfnüsse verrückt, aber logisch
- sinnvolle Rätsel-Hinweise in Dialogen
- abgedrehte Ideen wie Zensur-Gnome
- transzendentale Hypnose-Trips
- lustiges Verbotssystem
- skurrile, aber eingängige Musikbegleitung
Kontra
- kleine Bugs wie Soundknackser
- aufgesetzt wirkende Minispiele (lassen sich überspringen)
- Nahaufnahmen zu undetailliert gezeichnet
- ein paar nervig-repetitive Soundeffekte
- gelegentliche Abstürze (Switch)
- keine Touchscreen-Steuerung (Switch)
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