Kentucky Route Zero - Test, Adventure, Linux, XboxOne, Mac, PC, PlayStation4, Switch

Kentucky Route Zero
03.02.2020, Benjamin Schmädig

Test: Kentucky Route Zero

Verwirrend und faszinierend

Ein alter Mann soll eine Bestellung ausliefern – so weit, so gut – nur kennt er den Weg dorthin nicht. Der Highway Zero soll ihn ans Ziel bringen, doch der Zugang dorthin ist zunächst versperrt. Erst als sich das Tor einer Scheune als Eingang in einen Tunnel entpuppt, der ausschließlich im Kreis verläuft und doch an verschiedene Ziele führt, geht die Reise weiter... Kentucky Route Zero weckte im Test Erinnerungen an die geheimnisvolle Introvertiertheit eines David-Lynch-Films – verliert im Verlauf seiner fünf Episoden allerdings das Ziel aus den Augen.

Kentucky Route Zero ist kein Adventure, jedenfalls nicht im klassischen spielerischen Sinn. Es ist mehr Graphic Novel, in der es vor allem ums Lesen geht. Sicher: Es gibt zahlreiche Dialogoptionen sowie kleine Verzweigungen, die sich z.B. darum drehen, ob man den Personen folgt, die sich auf einem Schiff befinden, oder jenen, die kurz an Land gehen. So erhält man unterschiedliche Einblicke, beeinflusst aber nicht den Verlauf der Handlung. Aufgaben löst man schon gar nicht. Man klickt einfach und beobachtet, wie sie erledigt werden.

Über Null ans Ziel

Und trotzdem fühlt sich das zunächst sehr interaktiv an, da Cardboard Conputer – ein gerade mal drei Personen großes Independent-Studio – gleich auf mehreren Ebenen mit Erwartungshaltungen spielt. Ein Charakter verschwindet etwa, der sich gerade noch direkt neben dem Protagonisten befand. Und obwohl der alte Mann, Conway, meist im Mittelpunkt steht, wählt man häufig Dialogoptionen anderer Figuren oder steuert sie eine Zeitlang gar komplett.

Dass Cardboard Computer an interaktiven Experimenten interessiert ist, zeigt sich übrigens auch an vier Bonus-Inhalten, die zwar nicht zu Conways Geschichte gehören, aber Kentucky Route Zero trotzdem auf interessante Art ergänzen - z.B. ein Theaterstück, dessen Regieanweisungen man folgt, während man bereits die später veröffentlichte Kritik liest.
Es geht immer darum, wie Conway den Ort erreicht, an den er seine Lieferung fahren soll. Dabei begegnen ihm ständig Personen, die ein Stück des Wegs oder nur einen Hinweis kennen und ihn anschließend auch begleiten. Sie erzählen von ihrer Vergangenheit oder was sie mit dem Highway verbindet. Alle suchen etwas, jemanden oder sind aus einem anderen Grund unterwegs. Es geht nicht darum, die Hindernisse ihrer Reise zu überwinden, sondern sie und wen sie treffen kennenzulernen.

Perspektiven wechseln ständig. Kamerabewegungen öffnen die Kulissen, weil sie durch Mauern hindurch führen. Oft genug stehen gar Antworten zur Verfügung, die verschiedene Vergangenheiten beschreiben, darunter die im Spiel selbst erlebten. Schreibt man diese Erinnerung quasi neu? Warum sitzen friedliche Bären in einem Bürogebäude? Wem gehören die Umrisse im flackernden Licht eines eingefallenen Stollens? Und hat es eine Bedeutung, dass die Gruppe irgendwann ein Videospiel spielt, dessen Handlung ihre Geschichte fortführt und damit neue Realität wird?

Verwirrend und faszinierend

Ein Blick in Conways Vergangenheit - Momente sind wichtiger als kausale Handlungsfolgen.
Kentucky Route Zero ist ebenso verwirrend wie faszinierend und deshalb interaktiv, weil der Kopf dabei ist. Man entschlüsselt eine Geschichte, die ähnlich wie Lost Highway oder Inland Empire nicht über eine kausale Abfolge von Ereignissen erzählt wird, sondern das emotionale Verbinden erinnerungswürdiger Momente. Denn darum geht es Cardboard: um Lebensläufe, Schicksal, die Zukunft. Und um Erinnerungen, durch die all das geprägt ist. Raum und Zeit spielen eine untergeordnete Rolle. Es geht um emotionale Zusammenhänge – ein Ansatz, den ich auch bei Lynch schätze und der den Entwicklern übrigens als Inspiration diente. Kentucky Road Zero regt zum Mit- und Nachdenken an...

... und ist vor allem visuell ausnehmend faszinierend. Die verzerrte Realität wirkt wie eine mythische Anderswelt, in die man sich mit Haut und Haaren fallenlassen kann. Über Licht und Schatten skizzieren die Entwickler starke Kontraste in monochromen Kulissen, um immer wieder auf überraschende Art in die dritte Dimension zu tauchen. Seltene Lieder fangen die Seele auf, sonst ist es abseits rauschender Radios oder geheimnisvoller Rufe weitgehend still.

Und trotzdem verhaspelt sich das Trio leider, verliert sich irgendwann in seinem Konzept, ohne es sinnvoll fortzuführen und hatte deshalb auch mich ab der Hälfte etwa fast komplett verloren. U.a. schließen sich nämlich immer mehr Personen der Gruppe um den alten Mann an, sodass die fokussierte Erzählung schon deshalb auf der Strecke bleibt. Man bleibt zudem immer häufiger am Wegrand stehen, um Anekdoten aus dem Leben Anderer zu erfahren, die schon zwei Minuten später keine Rolle mehr spielen.

In Bruchstücken erzählt

Wirkt der dritte Akt mit dem erwähnten Spiel im Spiel noch wie ein interessantes Zusammenführen der Beobachter vorm Bildschirm und der fiktiven Charaktere, trägt er inhaltlich schon kaum noch Neues bei. Akt vier fühlt sich schließlich wie ein erzwungenes Strecken der Spielzeit an, dem ich fast nichts mehr entnehmen konnte. Ständig wird man aufgehalten, um noch diese, später jene und dann eine weitere Anekdote zu lesen. Obwohl es auch später noch interessante Gedanken und Möglichkeiten der Interpretation gibt – etwa eine unter das Dach einer Lagerhalle verlegte Siedlung – funktioniert die Reise über recht lange Strecken nicht als geschlossenes Abenteuer. Weniger wäre sowohl in Bezug auf die Charakterriege als auch die erzählten Bruchstücke mehr gewesen.

Cardboard Computer verpackt interessante Botschaften, verzettelt sich im Mittelteil aber in zu vielen belanglosen Kurzgeschichten.
Zu allem Überfluss entpuppen sich einige zunächst interessante Elemente als Selbstzweck, der keinen weiterführenden Nutzen hat. Die Antwort auf die Frage, ob man Erinnerungen selbst schreibt und ob das entsprechende Auswirkungen hat, fällt etwa ernüchternd aus: Nichts dergleichen ist der Fall. Es sind auf den Moment beschränkte Gesprächsoptionen, damit solche überhaupt vorhanden sind. Nun bin ich ein großer Freund interaktiver Unterhaltungen, in denen man eben nicht am Rad des großen Schicksals dreht, denn diese Entscheidungsmacht hat mit realem Erleben wenig zu tun. Damit man sich wie ein Teil des Geschehens fühlt, müsste das Umfeld aber trotzdem reagieren oder zuvor Gesagtes aufnehmen.

Eine Sammlung von Anekdoten

Abgesehen davon empfand ich einige spätere Texte als seltsam profan. Wenn eine Person etwa ihre Version einer Anekdote erzählt, nur damit eine andere direkt im Anschluss ein anderes Licht darauf wirft, wirkt das wie ein lieblos hingeworfener Knochen. Würden ganz frühe, womöglich zentrale Erkenntnisse einen anderen Anstrich erhalten, wenn man sie viel später aus einer anderen Perspektive kennenlernt, hätte das einen bleibenden Eindruck hinterlassen können. Auf solche Offenbarungen verzichtet Cardboard aber.

Und so findet Kentucky Road Zero schließlich ein Ende, das zum Glück noch einmal Fahrt aufnimmt, weil es die lange Reise in jeder Hinsicht schlüssig beendet. Schade, dass es zu diesem Zeitpunkt aber längst nur noch eine Sammlung von Anekdoten ist, die bei weitem nicht so geschlossen funktioniert, wie es die Filme von David Lynch tun.

Fazit

Vielleicht liegt es daran, dass Kentucky Route Zero ein konzeptionelles Relikt aus der Zeit vor Dear Esther und Telltales The Walking Dead ist. Auf jeden Fall hätten es keine fünf Episoden, verteilt auf sieben Jahre sein müssen, um diese Reise zu erzählen. Denn als Sammlung kurzer Anekdoten zieht sie sich zu lange hin, während ihr als interaktive Geschichte eine sinnvolle Einflussnahme ebenso fehlen wie größere erzählerische Bögen über mehrere Episoden hinweg. Dennoch wirft Cardboard Computer einen faszinierenden Blick auf ganz normale Menschen. Im Mittelpunkt stehen ihr Leben und ihre Erinnerungen, aber auch das Schicksal und die Macht es zu beeinflussen. Die eindrucksvolle Kulisse überrascht mit geheimnisvollen Ansichten, während der Kopf arbeitet, weil die bekannte Struktur von Raum und Zeit scheinbar ständig durchbrochen werden. Emotionale Anker sind hier wichtiger als kausale Ereignisfolgen. Und auch wenn vieles davon über die Dauer der Reise seine Wirkung verliert: Diese Art des Erlebens ist etwas ganz Besonderes.

Pro

  • spielt mit Erwartungen an kausale erzählerische Logik
  • überraschende audiovisuelle Momente...
  • interessante interaktive Experimente als Bonusinhalte
  • sowohl mit Maus als auch Gamepad spielbar
  • einstellbare Schriftgröße

Kontra

  • Akte drei und vier treten erzählerisch weitgehend auf der Stelle
  • ... die gegen Ende abnehmen und letztlich keinen erzählerischen Zweck zu erfüllen scheinen
  • interaktive Dialoge und kleine Verzweigungen erfüllen keinen spielerischen oder inhaltlichen Zweck
  • ständiges Hinzufügen neuer Charaktere wirkt beliebig und schadet der zentralen Geschichte

Wertung

PC

Stilistisch eindrucksvolle Geschichte über Schicksale und Erinnerungen, der ein straffer erzählerischer und spielerischer Faden fehlt.

Echtgeldtransaktionen

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Kommentare
No Cars Go

Kann dem Test in Gänze zustimmen.

vor 2 Jahren
Azazin

Ich würde das Spiel niemanden empfehlen.
Das Hauptproblem liegt hier an der eher "künstlerischen" symbolisch, hochabstrakten Herangehensweise statt auf Erzählung einer stringenten und vor allem logischen Geschichte. Wer eine gute Geschichte erwartet wird spätestens in der Mitte von Teil drei enttäuscht, so ist es auch nicht verwunderlich das die Auflösung im letzten Teil selbst bei Fans des Spiels nicht gut ankam. Zumindest, wenn man sich die Diskussionen bei Steam anschaut.
Teil drei und besonders Teil vier waren echt eine Zumutung, vor allem verschwindet einer der zwei Hauptcharaktere am Ende von Teil vier einfach so, ohne eine richtige Weiterführung von dessen Geschichte.

Postmoderner Unsinn den ich hoffentlich schnell wieder vergessen habe. Eine Wertung von 75 würde ich für die ersten zwei Teile akzeptieren, aber als Gesamtwertung erscheint mir eher eine 50er Wertung gerechtfertigt.

Zuletzt bearbeitet vor 4 Jahren

vor 4 Jahren
c452h

Das Spiel entstand damals unter dem Eindruck der https://en.wikipedia.org/wiki/Great_Rec ... ted_States. Hilft einem vielleicht grob dabei, die Inhalte etwas einzuordnen.

Hier wurde auch mal damit angefangen, Symbole und Inhalte zu entschlüsseln. Das wurde nach Act 3 leider nicht mehr fortgesetzt: https://superlevel.de/spiele/kentucky-f ... h-edition/

Die Atmosphäre des Ganzen ist auf jeden Fall wirklich einnehmend.

Zuletzt bearbeitet vor 4 Jahren

vor 4 Jahren
Jörg Luibl

Jup, das sind wunderbar verschrobene Orte dabei.

vor 4 Jahren
artmanphil

Spiele es schon eine Weile... und ich LIEBE es. Über kein Game denke ich so oft nach, schon seitdem ich es anfing vor knapp 2 Jahren. Kann die Kritik an der mangelnden Straffheit verstehen, bin aber viel zu beeindruckt von den absurden Szenarien und der emotionalen Ahterbahnfahrt. Das Bären-Büro, das Wohnmuseum... wie geil

Zuletzt bearbeitet vor 4 Jahren

vor 4 Jahren