Orwell: Keeping An Eye On You - Test, Adventure, iPhone, Mac, iPad, Linux, PC, Android

Orwell: Keeping An Eye On You
30.03.2020, Jörg Luibl

Test: Orwell: Keeping An Eye On You

Big Schnüffler ist watching you...

Lust auf ein erzählerisch kreatives Adventure mit Thriller-Flair und aktuellem politischen Bezug? Dann könnte Orwell: Keeping An Eye On You interessant sein. Zwar haben wir das Spiel bei der Premiere im Oktober 2016 für PC nicht besprochen, aber jetzt sind alle Episoden komplett auf Deutsch für iOS veröffentlicht worden - nicht zu verwechseln mit dem Nachfolger Orwell: Ignorance is Strength. Und wie sich beim Test herausstellte, haben die Hamburger Osmotic Studios nicht nur ein subversives Talent für Storytelling, sondern sie wecken auch wohlige Erinnerungen an Eternal Darkness.

Was zur Hölle ist mit meinem Bildschirm los? Wieso flackert der jetzt? Was, die Menüs sind ausgegraut? Hey, ich bin hier der verdeckte Ermittler! Ich hab den Auftrag der Regierung, ich hab hier die digitale Macht! Was soll dieser Scheiß? Ohne weiter auf diesen emotionalen Ausbruch einzugehen, seid vorgewarnt: Orwell hat es in sich. Das liegt nicht nur daran, dass das Abenteuer mit einem Bombenanschlag beginnt und viele aktuelle Bezüge zu Datenschutz, Überwachung & Co thematisiert, sondern auch an der gekonnten dramaturgischen Verdichtung bis hin zu verstörenden Konsequenzen, die ein wenig an Eternal Darkness erinnern.

Verstörende Ermittlungen

Ich liebe es, wenn Spiele mit mir spielen, wenn sie auf mich und mein Handeln reagieren - und genau diesen Nerv treffen die Osmotic Studios. Dabei reiht es sich ein in die wenigen guten Abenteuer wie Firewatch oder Heaven's Vault, die auch aufgrund der lebendigen Kommunikation für glaubwürdige Charaktere sorgen. Orwell ist wesentlich statischer als die beiden, denn man erkundet keine sichtbare Welt aktiv, sondern sitzt lediglich hinter dem Computer des Orwell-Projekts. Aber von Beginn an wird man von Agent Symes angeleitet, um die "letzte Verteidigungslinie im Kampf gegen Terrorismus" zu formen. Wer ist für die Bombenanschläge verantwortlich?

Im Intro wird man Zeuge eines Bombenanschlags im Jahr 2017. Die Kameras verfolgen eine Frau mit blauen Haaren, die einen Eintrag in der Datenbank hat. Ist sie verantwortlich? (PC)
Zwar ist das kein interaktiver Dialog, denn man kann ihn selbst nicht ansprechen, aber er reagiert auf die eigenen Uploads, indem er sie kommentiert und bewertet: Hey, das haben Sie gut gemacht! Mal sehen, ob wir das gebrauchen können. Gut, sie haben die Mobilnummer! Finden sie vielleicht den Aufenthaltsort? Ehrlich, das wollen Sie hochladen? So entsteht eine Beziehung aufgrund der Kommunikation. Es gehört zu den großen Stärken der Regie, dass diese Texte zum einen sehr gut geschrieben sind, also angenehm natürlich wirken, und dass sie bewusst tückisch sind. Man kennt das: Manchmal lesen sich Formulierungen in Mails ganz anders als sie gemeint sind. Welche Sätze lädt man also hoch, weil sie einen misstrauisch machen?

Schnüffeln will gelernt sein

Die erste Aufgabe besteht darin, alle relevanten Daten zu dieser Verdächtigen zu sammeln. (PC)
Genau darin besteht die Interaktion: Als Spieler kann man lediglich Daten auf den Orwell-Server hochladen, indem man sie Profilen potenzieller Täter zuordnet. Und die stammen aus Blogs, aus Chatrooms, aus Kommentaren, von Webseiten, aber auch von Banken, Militärarchiven oder direkt vom Desktop des Rechners oder des Mobiltelefons, wenn man gezielt in Ordnern sucht. Ganz langsam wird man von Symes an dieses digitale Schnüffeln im Namen der Regierung herangeführt, so dass man irgendwann sogar live bei Chats oder Anrufen zwischen Verdächtigen dabei sein kann - dabei wird der Diskussionsverlauf ähnlich vertikal dargestellt wie es die inkle Studios z.B. in Sorcery oder stellenweise 80 Days handhaben, die ähnlich leseintensiv sind.

Es gehört zu den großen Herausforderungen einer nicht visuell erkundbaren Spielwelt, dass sie nur über Texte und Webseiten die Illusion erzeugen muss, tatsächlich eine zu sein. Auch wenn es einige faule Kompromisse gibt, weil man nicht wie im realen Internet wirklich alles anlicken und checken kann: Neue Schlagzeilen, Wetterberichte und ein stets wachsendes Archiv an teilweise vernetzten Links bis hin zu Dating-Portalen oder Angelvereinen sorgen dafür, dass man das Gefühl einer in sich stimmigen Gegenwart bekommt. Die beruht auf einem fiktiven westlichen Staat nach Vorbild der USA, der gerade zum Schutz seiner Bürger und Grenzen den Datenschutz aushebelt.

Fiktiver westlicher Staat

Dazu tragen vor allem die glaubwürdigen Charaktere bei, darunter Professoren, Anwälte, Musiker etc., die in einem Netz aus Beziehungen verbunden sind, das man erstmal entwirren muss. Dabei vervollständigt man quasi Biographien und ertappt sich bei den eigenen Vorurteilen, die durch Hobbys, Beruf oder Äußerungen entstehen. Aber Vorsicht: Wenn man einmal jemanden beschuldigt, indem man z.B. seine Aversion gegen die Regierung oder einen Spruch über eine Bombe als Datensatz hochlädt, kann man das nicht mehr aus Orwell zurücknehmen! Irgendwann reichen diese Indizien und der Verdächtige wird im Auftrag von Symes verhaftet - vielleicht sogar noch in dem Moment, in dem man auf seinem Rechner spitzelt. Das sind ebenso spannende wie unheimliche Momente.

Es gibt auch Leerlaufphasen in Orwell, in denen man alles nochmal durchwühlt, weil man die eine oder andere Aufgabe von Symes nicht sofort erledigen kann. Es entsteht aber meist ein eigenartiger Flow aus Neugier und Sammelreizen, wenn man während der Recherche plötzlich einen Chat live beobachten kann, darin die fehlenden Bankdaten extrahiert und direkt Zugriff auf das Konto bekommt, während sich Symes vor lauter Spitzeleifer überschlägt. Man bekommt ein Gefühl für die Macht, die in digitalen Daten steckt. Aber was noch viel wichtiger ist: Man bekommt auch ein Gefühl für den Machtmissbrauch, wenn man eine Person falsch einschätzt.

Leerlauf ja, aber es bleibt spannend

Was hat es mit der Gruppe auf sich? (PC)
Zu den Schwächen von Orwell gehört neben der Statik, einigen faulen Kompromissen und teilweise wirrer Menüführung, dass man nicht frei jeden Textbaustein als Verdacht extrahieren kann, sondern nur vormarkierte. Unter diesen ist nur einigermaßen Vielfalt vorhanden, so dass man gefühlt alles nutzen kann.  Aber die totale Beliebigkeit der Auswahl wird zumindest dadurch ausgeglichen, dass sich Symes manchmal fragt, warum man das für wichtig erachtet, und dass es auch böse Folgen haben kann - nicht nur klar markierte Widersprüche zwischen der Akte und späteren Erkenntnissen, sondern auch die oben erwähnten Zugriffe.

Auf dem PC konnte man sich noch Beziehungen anzeigen lassen. (PC)
Schließlich gibt es kurz vor dem Finale auch endlich mal eine Einschränkung, dass man ab jetzt lediglich eine bestimmte Zahl an Datensätzen hochladen darf. Ich hätte mir schon vorher etwas mehr klassisches Rätselflair gewünscht, so dass ich als Ermittler direkter gefordert werde. Außerdem habe ich eine interaktive Übersicht vermisst, in der ich alle Profile auf einer Art digitalen Pinnwand ansehen und miteinander verbinden kann - so ähnlich wie die Beweise in Sherlock Holmes oder auch The Sinking City oder zumindest so wie auf dem PC mit den Beziehungen. Trotzdem darf man die finale Stärke dieses Storytelling-Experiments aus Hamburg nicht vergessen: Man muss es einfach durchspielen, weil das letzte Drittel so spannend ist und sich die Ereignisse überschlagen. Und nach diesem Spiel will man nochmal gerne mit den Leuten diskutieren, die gerne behaupten, dass man ja von der Datenüberwachung nichts zu befürchten hat, wenn man nichts verbrochen hat.

Fazit

Glückwunsch an die Osmotic Studios! Ich habe Orwell am Wochenende angefangen und direkt durchgespielt. Ich konnte einfach nicht aufhören, weil mich Story und Charaktere immer tiefer in den subversiven Datendschungel dieses fiktiven Überwachungsstaates gelockt haben. Auch wenn sich das Spieldesign auf das Lesen, Recherchieren sowie den Upload beschränkt, entsteht ein wesentlich dynamischeres Spielgefühl als in einer Visual Novel. Es gelingt den Entwicklern sehr gut, für emotionale Anbindung über kommunikatives Feedback sowie eine glaubwürdige Spiewelt zu sorgen. Digitale Macht und ihr Missbrauch werden wunderbar thematisiert. Die stellenweise Statik, so mancher fauler Kompromiss und fehlendes aktives Rätselflair werden von einer klasse Regie sowie einer gekonnten dramaturgischen Zuspitzung wettgemacht, in der das Spiel plötzlich böse zurückgrinst. Ich wünsche diesem Hamburger Team viel Erfolg mit den kommenden Projekten. Endlich gibt es nach Firewatch oder Heaven's Vault auch ein kreatives Storytelling-Adventure aus Deutschland, das sich international sehen lassen kann - zumindest war auch Gabe Newell angetan. Eine Android-Version ist übrigens in Arbeit.

Pro

  • kreatives Storytelling-Experiment
  • aktueller Bezug zu Datenschutz & Co
  • glaubwürdige Charaktere
  • klasse kommunikatives Feedback
  • gut konzipierte fiktive Spielwelt
  • tolle dramaturgische Zuspitzungen
  • Eternal Darkness lässt grüßen
  • auf Englisch oder Deutsch spielbar

Kontra

  • zu wenig vormarkierte Datensätze
  • gewisse Leerlaufphasen
  • ab und zu wirre Menüführung
  • einige faule Kompromisse im Pseudo-Internet
  • habe etwas mehr aktives Rätselflair vermisst
  • keine Übersicht aller Profile (interaktive Pinnwand)

Wertung

iPhone

Glückwunsch an die Osmotic Studios! Ich habe Orwell am Wochenende angefangen und direkt durchgespielt - ein packender Thriller rund um digitale Überwachung!

iPad

Glückwunsch an die Osmotic Studios! Ich habe Orwell am Wochenende angefangen und direkt durchgespielt - ein packender Thriller rund um digitale Überwachung!

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Kommentare
Jörg Luibl

Und genau an der Stelle wurde aus einem guten ein sehr gutes Spiel.

vor 4 Jahren
ClassicGamer76

Kann nur sagen, das Spiel ist wirklich gut, bin nun an der Stelle Spoiler "an der Symes ersetzt wird"

Das aktuell kostenlose SIMULACRA (iOS) was mich seit zwei Tagen beschäftigt, schlägt in die gleiche Kerbe, Orwell ist aber noch ausgefeilter.

Zuletzt bearbeitet vor 4 Jahren

vor 4 Jahren
Jörg Luibl

Jup, solche reduzierten Adventures verlieren manchmal an der 4K-Breitbildanlage mit Power-PC und Präzisionsmaus ihren Reiz. Da erwartet man unbewusst immer mehr. Das ist natürlich das ideale Spiel fürs Tablet. Einfach irgendwo hinlegen und touchschmökern.

vor 4 Jahren
katzenjoghurt

Bezüge auf Uplink kann ich kaum erkennen.
Ich hatte Uplink angeführt wegen der Präsentation, die mich bei Uplink auch nicht störte und sogar faszinierte. Ähnlich schlicht kommt auch Orwell daher. Wollte damit nur ausdrücken, dass das für mich kein Makel ist.
Uplink holt als “UI Game” jedoch viel mehr raus... war meine Meinung.
Vielleicht hat Jörg aber auch recht und ich hab einfach zu früh aufgegeben.

Hab’s auf PC gespielt.
Vielleicht isses das perfekte Spiel für iPad + Badewanne?
Vielleicht sollte ich es in der Kombination nochmal versuchen.

Zuletzt bearbeitet vor 4 Jahren

vor 4 Jahren
Exist 2 Inspire

Hab das Spiel schon damals 2016 zum release gespielt, wirklich guter Titel. Der Nachfolger Ignorance is Strength ist auch ziemlich gut.

vor 4 Jahren