The Complex - Test, Adventure, XboxOne, Switch, PlayStation4, PC
Wer erinnert sich noch an die Zeiten, als zu Beginn der CD-ROM-Ära die Scheiben vornehmlich mit Filmsequenzen gefüllt wurden? Von The 7th Guest und Shockwave über Wing Commander 3 und Privateer 2 bis hin zu den Abenteuern von Tex Murphy wirbelten plötzlich real gefilmte Akteure und teilweise sogar echte Hollywood-Stars durch die Videospielwelten. Manchmal reichte es den Machern schon aus, um in aufwändigen Introsequenzen für Filmflair zu sorgen und den massig vorhandenen Speicherplatz zu verprassen, wie es z.B. beim ersten Resident Evil auf der PlayStation der Fall war. Selbst Adventure-Königin Roberta Williams konnte den faszinierenden Möglichkeiten der modernen Technologie nicht widerstehen und inszenierte mit Phantasmagoria einen interaktiven, wenn auch mäßigen Horrorstreifen für das CD-Format. Auch Gabriel Knight kehrte in den Fortsetzungen zu dem klassischen Point'n'Click in Form eines interaktiven Films auf den Bildschirm zurück.
Der Trend zum „Spiel-Film“
Trotz dieses Trends steckte im Kern von vielen derartigen Produktionen aber immer noch das reine Spielerlebnis: Bei The 7th Guest oder The 11th Hour wurde zwischen den Videosequenzen über die Lösungen von Rätseln gegrübelt und bei Wing Commander 3 stieg man immer noch selbst ins Cockpit, um es in den Raumschlachten mit den Kilrathi aufzunehmen.
Wenig Spiel, wenig Film
Dabei hat man nicht immer nur die Wahl zwischen Weg A und B, sondern teilweise sogar mehrere Optionen, in welche Richtung man die Handlung vorantreiben möchte. Allerdings ist die Zeit oft relativ knapp bemessen – langes Abwägen oder Herumdrucksen ist also nicht drin. Falls man sich nicht entscheiden kann, wird nach Ablauf des Limits automatisch eine Antwort ausgewählt. Sie beeinflussen nicht nur die Handlung, sondern auch die Beziehung zu anderen Mitmenschen, die eine Rolle in der Geschichte spielen. Ein Status-Bildschirm, den man jederzeit aufrufen darf, gibt Aufschluss über die aktuellen Beziehungen zu den einzelnen Personen, dessen Wert sich aufgrund getroffener Entscheidungen dynamisch verändert. In einer weiteren Übersicht werden außerdem die Charakterwerte der Protagonistin Dr. Amy Tennant (Michelle Mylett) vermerkt, darunter Faktoren wie Ehrlichkeit, Mut, Neugierde, Intelligenz und Empfindlichkeit. Sie spiegeln den Lauf der Geschichte ebenfalls wider und entscheiden am Ende darüber, welche Einstufung man bei der Persönlichkeitsbeurteilung erhält. Apropos: Ein Durchgang hat etwa eine normale Spielfilmlänge von etwa 90 Minuten. Je nach (dummer) Entscheidung kann aber schon nach 20 Minuten der Abspann laufen.
Laut internen Statistikangaben besteht The Complex aus insgesamt 196 Szenen, die in neun unterschiedlichen Endsequenzen münden können. Im Rahmen des Tests habe ich sechs von ihnen freigeschaltet und kann sagen, dass die Änderungen stellenweise nur subtil, in anderen Fällen aber durchaus massiv voneinander abweichen und mitunter sogar völlig neue Facetten der Figuren offenbaren. Von daher lohnt es sich schon, mehrere Durchläufe in Angriff zu nehmen. Wer bereits bekannte Sequenzen nicht nochmal ansehen möchte, bekommt nach dem ersten Durchspielen übrigens Zugriff auf eine Vorspulfunktion, mit der man auf Knopfdruck zur nächsten Entscheidung skippen kann – sehr gut! Was leider fehlt, ist eine Zeitleiste oder ein visueller Hinweis, wann der Spielstand zuletzt gespeichert wurde. Unter Umständen muss man längere Passagen erneut spielen, wenn man den Film unterbricht und erst später fortsetzen möchte.
Mehrere Enden
Es gibt lediglich eine englische Tonspur, bei der das Hörverständnis teilweise mit sehr ausgeprägten Akzenten, allen voran von der schottischen Schauspielerin Kate Dickie, gefordert wird. Zwar gibt es deutsche Untertitel, doch sind diese angesichts schlampiger Übersetzungen und peinlicher Tippfehler kaum zu gebrauchen. Hier hätte man deutlich mehr Sorgfalt walten lassen müssen, wenn man schon keine komplette Lokalisierung mit einer deutschen Tonspur anbietet. Wenn diese billige Übersetzung als Vorlage gedient hätte, ist es aber vielleicht besser, dass man auf Sprachaufnahmen verzichtet hat.
Nur auf Englisch
Fazit
Denkt man an Wales Interactive, denkt man nicht unbedingt an Qualität. Das walisische Team hat bisher wenig Unterhaltsames wie Typoman, sondern meist schwache Spiele wie Soul Axiom oder das ernüchternde Horror-Abenteuer Don't Knock Twice abgeliefert. Der interaktive Film liegt dem Team eindeutig besser: Das Produktionsniveau von The Complex ist trotz des B-Movie-Flairs überraschend hoch und die meisten Schauspieler machen in ihren Rollen einen guten Job. Spielerisch wird abseits der Entscheidungen keine weitere Interaktion geboten – das hier ist tatsächlich mehr eine Film- als eine Spielerfahrung. Die verschiedenen Enden, die sich teilweise sehr deutlich voneinander unterscheiden, motivieren zu mehreren Durchläufen. In diesem Zusammenhang stolpert man aber nicht nur vermehrt über so manche Logiklöcher, sondern gelangt auch zu der Erkenntnis, dass manche der Entscheidungen nur vorgegaukelt waren oder keine so deutlichen Konsequenzen nach sich ziehen wie ursprünglich gedacht. Für die gebotene Erfahrung kann man durchaus darüber nachdenken, die knapp 15 Euro zu investieren. Nur darf man eben wirklich nicht viel Spiel von diesem interaktiven Film erwarten!
Pro
- meist überzeugende Darsteller
- halbwegs professionelle Produktion
- vereinzelte Spannungsmomente
- insgesamt neun verschiedene Endsequenzen
- Beziehungen haben Einfluss auf Handlung
- einige schwierige Entscheidungen
- Vorspul-Funktion beim erneuten Spielen
- manchmal mehr als nur zwei Entscheidungsmöglichkeiten
- fotorealistische Grafik selbst auf Switch ;)
Kontra
- spielerisch rein auf das Treffen von Entscheidungen beschränkt
- relativ kurze Durchläufe (maximal ca. 90 Minuten)
- vereinzelte Logiklöcher
- Auswahlzeit manchmal sehr knapp bemessen
- manche Entscheidungsmöglichkeiten werden nur vorgekaukelt
- Speicherpunkte nicht ersichtlich (keine Zeitleiste o.ä.)
- nur englische Tonspur (mit z.T. stark ausgeprägten Akzenten der Akteure)
- miserable deutsche Untertitel (falsche Übersetzungen, Schreibfehler etc.)
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