Disco Elysium - Test, Rollenspiel, XboxOne, PlayStation5, Switch, XboxSeriesX, PlayStation4, PC, Stadia, Mac
Disco Elysium beginnt zunächst wie ein klassisches Rollenspiel: In der Charakterwahl kann man sich für einen kontaktscheuen Denker, einen sensiblen Fühler oder einen körperbetonten Arbeiter entscheiden - oder sich was ganz eigenes aus den vier Werten Intelligenz, Psyche, Konstitution sowie Motorik bauen. Mit ihnen verknüpft sind 24 Fähigkeiten, die man steigern kann - so weit, so bekannt. Aber kaum bewegt man seinen Helden in isometrischer Perspektive durch eine impressionistisch illustrierte, retrofuturistische Kulisse, wird es ungewöhnlicher.
Was ganz klassisch beginnt...
Nachdem man mit einem schlimmen Kater ahnungslos in seinem Apartment erwacht, fühlt man sich fast wie ein Kind, das beim Spielen mit neuen Dingen ins Staunen gerät. Nicht etwa weil man zunächst nackt wie ein Idiot ohne Gedächtnis umher stolziert, um seinen Schuh zu suchen. Oder weil man angeblich ein Polizist ist, wovon man nichts mehr weiß. Kaum erkundet man seine versiffte Absteige trifft man auf eine Lady, die einen für einen Cop hält. Weiter unten wartet der Kollege Kim vom anderen Revier, der was über eine Leiche und einen Mordfall erzählt.
..sorgt für Neugier und Staunen
Ins Staunen gerät man allerdings, weil zum einen diese ungewöhnliche Mischung aus Pen&Paper- und Adventure-Elementen spürbar wird: Man kann sich Dinge wie in einem Point&Click anzeigen lassen, genauer ansehen und sein Inventar mit Gegenständen füllen. Rüstet man die Brechstange aus, kann man z.B. verschlossene Kisten öffnen. Hinzu kommt Ausrüstung von Kopf bis Fuß, die man anlegen kann und die einzelne Fähigkeiten verbessern.
Zusammen mit der textlichen Inszenierung entsteht auch das Flair eines Abenteuer-Spielbuchs. Denn wer sich falsch entscheidet oder Pech beim Würfeln hat, kann hier also ebenso schnell sterben wie beim Umblättern im Hexenmeister vom Flammenden Berg. Das hemmt zwar den Spielfluss, zumal es auch auf PlayStation 5 einige Ladezeiten beim Betreten neuer Gebiete gibt, aber erhöht die situative Spannung - man überlegt sich genau, ob man etwas riskiert.
Zum anderen ist da diese stets präsente Ahnung von Wahnsinn und die markante Stimme, die sich immer wieder etwas kommentiert. So werden aber keine statischen inneren Monologe, sondern köstliche interaktive Dialoge mit den eigenen Charktereigenschaften geführt. Man kann in verschachtelten Diskussionen samt Multiple-Choice z.B. mit seiner Logik streiten. Oder wer hat schonmal mit seiner Wahrnehmung darüber geschnackt, warum er etwas beobachtet? Und nicht nur das: Man kann sich mit einem Briefkasten unterhalten, ihn sanft streicheln oder treten und böse verfluchen. Hat das Konsequenzen? Natürlich! Ist das bekloppt? Oh ja!
Die Stimmen im Kopf
Aber es ist auch wunderbar, weil man genau deshalb staunend amüsiert diese bizarre Welt erkundet, die vom Esten Robert Kurvitz konzipiert wurde. Dabei erweist sich die Metropole Revachol mit ihren Streiks, Ideologien, Diskriminierungen sowie Ängsten auch als Spiegel unserer Gesellschaft. Und natürlich ist der Mord mit all den brisanten Themen verwoben, die das dynamische Duo langsam entflechten muss. Kim ist als Sidekick ein überaus interessanter Partner mit einem ganz anderen Blick auf den Job sowie das Leben, mit Geheimnissen und überraschenden Reaktionen. Das erzählerische Erlebnis ist intensiv, lebt von süffisanten Gesprächen, vielschichtigen Charakteren und politischen Winkelzügen.
Deutsche Texte, komplette Sprachausgabe
Da es hier um viele emotionale und argumentative Nuancen geht, ist die beste Nachricht für Spieler zwischen Nordsee und Alpen: Im Final Cut gibt es eine komplette deutsche Übersetzung der Texte - und diese könnt ihr auch nochmal zur besseren Lektüre vergrößern. Gerade weil man so viel lesen muss, können viele Rollenspieler jetzt sicher besser abtauchen. Zumal die Entwickler aus Estland nochmal satte 150.000 Wörter hinzugefügt haben. Und all das gibt es erstmals in kompletter englischer Sprachausgabe, die sich auf hohem Niveau hören lassen kann.
Dass man all das nicht auch noch mit deutschen Sprechern aufgenommen hat, ist zwar schade, aber angesichts der Kosten verständlich. Was schon alleine die englische Vertonung für eine Mammutaufgabe war, hat Autor Justin Keenan im Interview erläutert: Drei Voice-Over-Regisseure haben in Vollzeit mit Dutzenden von Schauspielern gearbeitet, um mehr als eine Million Wörter zu vertonen. Wie gewissenhaft und fleißig das Team ist, hat man schon kurz nach Release auf dem PC bemerkt, denn Anfang des Jahres gab es neben dem Hardcore-Modus u.a. Unterstützung für Ultrabreitbild-Darstellungen.
Was ist sonst noch neu? Im Zentrum stehen vier Nebenquests samt frischer Schauplätze und Zwischensequenzen. Sie beeinflussen zwar die Haupthandlung nicht wesentlich, aber vertiefen das Verständnis der politischen Zusammenhänge. Es geht dort u.a. um Kommunismus, Faschismus, Moralismus und Ultraliberalismus. Und Vorsicht: Die Texte dazu dürften selbst so manchen Politologen-Kopf zum Rauchen - oder zumindest Schmunzeln - bringen. Da sie sich gegenseitig ausschließen und man sich für einen Weg entscheiden muss, kann man also eine spezielle Ideologie vertiefen.
Neue Quests vertiefen Ideologien
Abseits des Schicksals des Helden waren es ja diese gesellschaftspolitischen Themen, die nicht nur der Welt, sondern auch den Gesprächen sowie der Charakterentwicklung ihre ebenso interessante wie brisante Würze verliehen. Innerhalb dieser Quests trifft man u.a. auf neue Figuren, kann weitere Gegenstände finden und sogar dauerhaft das Menüdesign ändern. Gerade diese ungewöhnlichen bis subtilen Konsequenzen machen trotz der vielleicht etwas monotonen Abläufe den Charme des Abenteuers aus.
Statische Erkundung, audiovisuelles Feintuning
Man kämpft nämlich weiterhin weder aktiv noch knackt man in Minispielen Schlösser oder interagiert physikalisch mit der Umgebung, so dass die Illusion einer wirklich lebendigen offenen Spielwelt auch in 4K auf PlayStation 5 genauso brüchig ist wie Ben das schon im Test analysierte - zumal die Bildrate beim Scrollen nicht stabil bei 60fps liegt. Aber das ist bei so einem langsamen Spielablauf nicht tragisch. Man bleibt auch schonmal an Kanten hängen, muss genauer hinsehen oder mehrmals Dinge anwählen, damit etwas passiert. Manchmal fühlt sich das Erkunden also recht zäh an, zumal man auch mal hin und her spazieren muss.
Trotzdem ist die Gamepad-Steuerung mit dem Zoom sowie der Anwahl über Analogstick oder Schultertasten gelungen; man kann sich auch wie in einem Adventure alle "Hotspots", also interaktiven Punkte, anzeigen lassen. Zudem haben die britischen Entwickler einige Kleinigkeiten verbessert: Es gibt z.B. neue Kleidung, dazu akustische und grafische Polituren sowohl für Portraits der Charaktere als auch verbesserte Animationen sowie Lichteffekte an einigen groben Stellen - wer das Original kennt, wird also durchaus audiovisuelles Feintuning entdecken.
Falls ihr neu einsteigt, müsst ihr knapp 40 Euro in diese Reise investieren, alle anderen können ihre Version vom PC kostenlos aufrüsten. Die Versionen für Xbox und Switch sind bereits für den Sommer in Entwicklung.
Fazit
Das Warten auf diesen Final Cut hat sich gelohnt! Damals hatte ich nicht genug Zeit für Disco Elysium, jetzt kann ich es endlich gemütlich auf der Couch an der PlayStation spielen. Und ich freue mich sehr über die deutsche Übersetzung der Texte, denn so kann ich mit allen Feinheiten noch besser abtauchen, während komplette englische Sprachausgabe aus den Boxen schallt. Dass ich um ein Prozent aufwerte, liegt auch an den vier neuen Nebenquests, die mit ihrem gesellschaftspolitischen Fokus die Zusammenhänge der Spielwelt vertiefen, auch wenn sie die etwas monotone Spielmechanik nicht aufbrechen - es bleibt also bei den wesentlichen Kritikpunkten des Originals. Aber diese werden weitgehend von einem stimmungsvollen Erlebnis kompensiert, mit dem das Team aus Estland an die Tradition eines Planescape Torment anknüpft und diese kreativ fortführt. Wer Lust auf großartige Geschichten und markante Charaktere hat, wird hier sehr gut unterhalten. Ich hoffe, dass Disco Elysium nicht nur als TV-Serie, sondern auch als Spiel noch weiter entwickelt wird!
Pro
- relativ freies Vorgehen beim Lösen des zentralen Falls und vieler weiterer Aufgaben
- große Entscheidungsfreiheit besonders innerhalb der Unterhaltungen
- viele großartig geschriebene Dialoge mit grandiosem Sinn für Humor
- Sinne und Charaktereigenschaften mischen sich als Gesprächspartner ein
- vielschichtige Parallelwelt mit eigenen Begriffen und gesellschaftlichen Bezügen zur Wirklichkeit
- Schauplatz ist ein einziger, detaillierter Stadtteil
- stilvolles, wie gemaltes Artdesign
- Fähigkeiten beeinflussen Gesprächsverlauf, teils durch Ermöglichen einzigartiger Aktionen oder Kommentare
- Auswürfeln von Erfolg oder Misserfolg sorgt für Spannung beim Ausführen von Aktionen
- umfangeiche, praktisch vollständig auf Dialoge fokussierte Charakterentwicklung
- Lernen besonderer Fähigkeiten und Nutzen verschiedener Kleidung vertiefen Spezialisierung
- Drogen bringen vorrübergehend weitere Vor- und Nachteile
- Geld für Übernachtung und zum Kauf verschiedener Gegenstände ist relativ knappe Ressource
- Tag-/Nachtwechsel, der einige spielerische Möglichkeiten beeinflusst
- übersichtliche Karte mit allen aktuellen Aufgaben
- kein Abklappern von Wegpunkten
- Sammeln alter Flaschen in siffiger Plastiktüte als Mittel zum Geldverdienen
- NEU: vier zusätztliche Quests
- NEU: deutsche Übersetzung aller Texte
- NEU: komplette englische Sprachausgabe
- NEU: Gamepad-Unterstützung
Kontra
- relativ starres Werteverschieben, u.a. durch häufigen Kleidungswechsel
- keine Spielmechanik abseits der Dialoge
- schnelle, nicht vorhersehbarer Tode erschweren den Einstieg
- oft kein automatisches Speichern über lange Zeiten
- fast alle Gesprächsoptionen können beliebig oft wiederholt werden
- das Gesagte passt (relativ selten) nicht zum Spielverlauf
- relativ häufige, nicht allzu kurze Ladezeiten hauptsächlich beim Betreten und Verlassen von Gebäuden
- nur englische Sprachausgabe
- kleinere Bugs bei der Anzeige (PS5)
- Bildrate nicht konstant (PS5)
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- Es gibt keine Käufe.
- Dieses Spiel ist komplett echtgeldtransaktionsfrei.