Paradise Lost - Test, Adventure, XboxSeriesX, PlayStation4, PlayStation5, PC, XboxOne

Paradise Lost
02.04.2021, Jan Wöbbeking

Test: Paradise Lost

Abstieg in den Bunker

Wie sähe der Alltag in einem postapokalyptischen Polen aus, in dem die Nazis die Erdoberfläche atomar eingeäschert und die verbleibenden Einwohner in tiefe Bunker getrieben hätten? Dieser Frage gehen wir im Test des narrativen Adventures Paradise Lost (ab 13,31€ bei GP_logo_black_rgb kaufen) für PC, PS4 und Xbox One auf den Grund.

Um die eingangs gestellte Frage gleich zu beantworten: In diesem Fall träge. Sogar sehr träge gestaltet sich der von PolyAmorous entwickelte Ausflug durchs tiefe Höhlen- und Bunkernetzwerk, in dem die Deutschen einen erstaunlich großen Rückzugsraum erschaffen hatten. Um ein Spiel handelt es sich bei Paradise Lost nicht wirklich: Stattdessen schreite ich selbst bei gehaltener Lauftaste mit quälend langsamer Geschwindigkeit über den linearen Pfad mit kleinen Abzweigungen und drücke bei weiß aufleuchtenden Kreisen aufs Knöpfchen. Wenn’s hoch kommt, wird gleichzeitig ein Stick zur Seite gedrückt (am PC ist alternativ eine Maussteuerung möglich).

Bunker-Ausflug auf Valium

Die einzige Herausforderung besteht hier darin, in der oft dunklen Umgebung die nächste weiße Kreismarkierung zu finden und mich im passenden Winkel davorzustellen, da sich die leicht haklige Eingabe als etwas zickig erweist. Auch verstreute Briefe und Audiologs lassen sich konsumieren, wodurch ich wichtige Hintergründe zum Verständnis der Story lerne. „Begehbare Graphic-Novel“ oder der negativer belegte Begriff „Walking-Simulator“ dürften das Genre vermutlich passend einordnen.

Die eingestreuten Entscheidungen nehmen offenbar nicht all zu viel Einfluss auf die Handlung - sofern sich das nach dem erneuten Laden des einzigen Speicherpunktes beurteilen ließ.
Nachdem der Zweite Weltkrieg hier 20 Jahre länger andauerte, liegt Europa im Schutt der gnadenlosen deutschen Nuklearangriffe. Aus der Ego-Perspektive übernehme ich die Rolle des zwölfjährigen Szymon, der sich auf der Suche nach seiner Mutter und einem mysteriösen Mann auf einem Foto befindet. Bei meiner Ankunft in der unterirdischen Stadt erscheinen die hohen Grotten und riesigen Maschinenparks zunächst komplett verlassen.

Eher Erzählung als Spiel

Doch schon bald nehme ich mit Hilfe fortschrittlicher Kommunikations-Terminals Kontakt zu einem mysteriösen Mädchen namens Ewa auf. Kann ich ihr trauen? Hat sie Verbindungen zu polnischen Rebellen, welche die Anlage offenbar irgendwann eingenommen hatten, von denen mittlerweile aber ebenfalls jede Spur zu fehlen scheint? Noch überraschender ist allerdings, welch enormer Fortschritt im unterirdischen Bunkerreich erreicht wurde. Ich will nicht zu viel verraten, aber der verstorbene Verschwörungs-Youtuber Axel Stoll wäre vermutlich stolz auf die Technik der „Grottennazis“ aus Paradise Lost.

Vor allem auf dem PC ergeben sich stimmungsvolle Panoramen.
Sie haben schließlich bereits in den Sechziger Jahren Probleme geknackt, an denen sich selbst die heutige Forschung noch die Zähne ausbeißt. All das natürlich ohne Rücksicht auf Verluste und inklusive zahlreicher Gräueltaten im Sinne der menschenverachtenden rassistischen Ideologie, wie sich immer wieder in den Forschungsunterlagen zeigt. Die technische Umsetzung dieser Errungenschaften wirkt zunächst ähnlich lächerlich wie Stolls Geschwurbel oder in der Filmkomödie Iron Sky. Das gilt vor allem, weil die Geschichte primär ernsthaftere Themen wie das Familiendrama vermitteln möchte - inklusive Rückblenden mit Erinnerungen an die Mutter.

Erstaunliche Fortschritte

Als ich erst einmal in die Thematik eingetaucht war, haben die Geheimnisse hinter den monströsen Maschinenparks, Computer-Terminals, Widerstandskämpfen und Ewa aber doch noch mein Interesse geweckt – zumindest ansatzweise. Visuell ist all das schließlich sehr stimmungsvoll in Szene gesetzt. Die gigantischen Raketenwerften, retro-futuristischen Terminals und mystisch verzierten Höhlen bieten vor allem auf dem PC mit Ultra-Einstellungen einen prachtvollen sowie detailverliebten Ausblick. Auch die slawische Mythologie spielt bei Malereien und religiösen Tendenzen des Widerstandes eine Rolle.

Geheimnisvolle Technik

Wie sich in Aufzeichnungen zeigt, entbrannte nach dem Kampf gegen die Nazis ein brutaler, teils religiös fanatischer Streit um Grundsatzfragen zum weiteren Leben unter Tage. Auch hier kann ich die Themen nur andeuten, da vor allem die Nutzung einer bestimmten Nazi-Technologie zu einem wichtigen Streitpunkt wird. Wie so oft kann der Fortschritt in solch einer Notlage Fluch oder Segen bedeuten und bringt allerlei interessante ethische Fragen mit sich.

Auf diesen Mann will Szymons Mutter in der Rückblende lieber nicht eingehen.
All das klingt in der Theorie spannend, ist aber von der hübschen Kulisse abgesehen schrecklich fade inszeniert. Der größte Knackpunkt ist die fehlende Persönlichkeit von Szymon und Ewa: Auch nach den gut vier Stunden Spielzeit weiß ich so gut wie gar nichts über sie – abgesehen von Charaktereigenschaften, die ihnen von der konkreten Handlung auferlegt wurden. Mit ihren platten Dialogen wirken sie einfach austauschbar und apathisch. Sicher: Eine ordentliche Portion Skepsis und Abgebrühtheit wirkt bei einer solchen postapokalyptischen Kontaktaufnahme unter Tage authentisch. Trotzdem würde ich die Figuren in solch einer Geschichte lieber persönlich kennenlernen, statt sie als bloßes Produkt ihrer lebensfeindlichen Umgebung und ihrer problembehafteten Vorgeschichte wahrzunehmen.

Mangel an Persönlichkeit

Soll ich Ewa in einer Entscheidungs-Sequenz über Funk sagen, dass ich ihr traue oder nicht? Ich habe nicht die geringste Ahnung, da ich weder sie noch Szymon kenne. Beide unterhalten sich fast ausschließlich mit der gleichen Monotonie in der Stimme über Probleme, die vor oder hinter ihnen liegen, statt auch mal menschliche Anekdoten oder Erlebnisse wie in Half-Life: Alyx einzustreuen. Mit Hilfe solcher Geschichten hätte man die Distanz zur Realität des Spielers besser überbrücken können, um eine emotionale Bindung zu ihm aufzubauen. Nicht einmal bei der finalen Entscheidung des Spiels kratzte mich der Ausgang. Stattdessen wollte ich nur noch, dass das schrecklich träge Erzähl-Abenteuer endlich ein Ende nimmt!

Je tiefer man vordringt, desto mystischer und religiöser wird es.
Auf Xbox One X und PS4 Pro verliert sogar die Kulisse an Reiz, da alles etwas detailärmer dargestellt wird - auf Sonys Konsole wirken zudem Lichtreflexionen wie von einer Kerze etwas unsauberer. Auf der One X schrammt die Framerate gelegentlich haarscharf am Ruckeln vorbei, während sie auf der PS4 Pro noch etwas tiefer bzw. unangenehmer sinkt. Zusätzlich wird die Geduld bei den klassischen HDD-Konsolenfestplatten mit sehr langen Ladezeiten strapaziert. Auf einem aktuellen Spiele-PC mit einer SSD und einer GeForce RTX 2080Ti hatte ich diese Probleme nicht. Ein Versäumnis auf allen Plattformen ist übrigens, dass sich keine einzelnen Speicherstände anlegen lassen und auch kein Entscheidungs-Diagramm mit Einstiegspunkten wie in Detroit: Become Human existiert. Als ich mich zum Schluss für eines der alternativen Enden entschieden hatte, bleib mir lediglich die Option, das komplette Abenteuer noch einmal zu starten. Nein, danke!

Grafische Abstriche

Fazit

Paradise Lost zeigt anschaulich, warum ein interessantes Thema und eine ansehnliche Kulisse keine gute Charakterzeichnung oder echte Spielmechaniken ersetzen können. Die detailreich erdachte Sechzigerjahre-Stadt der Nazis voller Nuklearwaffen und wahnwitziger Technologie besitzt zwar durchaus ihren Reiz – und sehr hübsche Panoramen. Die Hauptfiguren Ewa und Szymon bleiben aber bis zum Ende hin praktisch unbeschriebene Blätter ohne nennenswerte Persönlichkeitszüge. Daher interessierte mich auch ihre Verbindung zu den wendungsreichen Geschehnissen im Widerstandskampf wenig, zumal die Entwickler sich für einen schrecklich trägen Erzählstil entschieden haben. In etablierten Medien wie Film oder Computerspiel sind fähige Regisseure mittlerweile ziemlich geübt darin, spannende oder bewegende Momente in den Vordergrund zu stellen. Dieses begehbare Erzähl-Abenteuer jedoch verliert sich oft in schrecklich langsamen Spaziergängen und der sinnlosen Imitation von Spielmechaniken mit hakligem Knöpfchendrücken.

Pro

  • detailverliebte Kulissen
  • stimmungsvoll ruhiger, schön abgemischter Soundtrack
  • geheimnisvolle Nazi-Technologie weckt die Neugier...
  • interessante ethische Fragestellungen werden angerissen...

Kontra

  • platte Charakterzeichnung baut keinerlei Bindung auf
  • schrecklich fades Knöpfchendrücken imitiert Spiel-Interaktionen
  • ...Nazi-Technik wirkt zum Teil aber übertrieben fortschrittlich
  • ...ethische Fragen werden aber nicht tiefgehend genug erforscht
  • träge Laufgeschwindigkeit
  • haklige Steuerung
  • keine alternativen Speicherstände oder Entscheidungs-Diagramme

Wertung

PlayStation4

In der hübschen Kulisse einer geheimnisvollen unterirdischen Welt wartet leider nur erzählerische Langeweile und träges Knöpfchendrücken - auf der PS4 Pro technisch deutlich unsauberer.

PC

In der hübschen Kulisse einer geheimnisvollen unterirdischen Welt wartet leider nur erzählerische Langeweile und träges Knöpfchendrücken.

XboxOne

In der hübschen Kulisse einer geheimnisvollen unterirdischen Welt wartet leider nur erzählerische Langeweile und träges Knöpfchendrücken - auf der Xbox One X technisch etwas unsauberer.

Echtgeldtransaktionen

Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?

Gar Nicht
Leicht
Mittel
Stark
Extrem
  • Es gibt keine Käufe.
  • Dieses Spiel ist komplett echtgeldtransaktionsfrei.
Kommentare
Todesglubsch

Ich erinnere mich, dass es vor kurzem ein Spiel hab, wo auf jeden Fall eine Ausnahme gemacht wurde, und alles unverändert blieb.
Selbst Wolfenstein darf mittlerweile seine Kreuze zeigen. Ich würde sagen dieses Thema ist erstmal vom Tisch

vor 3 Jahren
Solon25

Ich hab in Videos Hakenkreuze gesehen - sind die in der deutschen Version enthalten, bzw. ist diese Thematik inzwischen zulässig?
Enthalten, ja. Über die Zulässigkeit gab es vor einiger Zeit hier einen Artikel, deshalb haben sie die wohl benutzt.

vor 3 Jahren
LouisLoiselle

Ich hab in Videos Hakenkreuze gesehen - sind die in der deutschen Version enthalten, bzw. ist diese Thematik inzwischen zulässig? Ich erinnere mich, dass es vor kurzem ein Spiel hab, wo auf jeden Fall eine Ausnahme gemacht wurde, und alles unverändert blieb.

vor 3 Jahren
Solon25

Doch arg wenig. Ich fand es gut, gab ja auch genug Schriftstücke mit Story zu finden. War gut aufgebaut, man wusste nie ob Awa eine KI oder ein Mensch ist.

vor 3 Jahren
Mc K.

Ein informativer und hervorragend formulierter Test, finde ich.
Vielen Dank!

vor 3 Jahren