Judgment - Test, Action-Adventure, XboxSeriesX, PlayStation5, PlayStation4, Stadia, PlayStation4Pro
Wer Yakuza kennt, der kennt Judgment. Wer nicht: Seit bereits knapp 16 Jahren entführt Segas Gangster-Epos in die japanische Unterwelt und das penibel genau nachgestellte Vergnügungsviertel Kabukicho - in den Spielen Kamurocho genannt. Man bereist also nicht ganz Tokio, sondern stets nur diese eine (und gelegentlich weitere) Viertel, wo belebte Straßen und Gassen mit zahlreichen Läden, Restaurants, Bars und Casinos zum Verweilen einladen. Im Gegensatz zu fast allen anderen offenen Welten kann man die Faszination Kamurocho nicht in Quadratkilometern oder der Anzahl von Markierungen auf einer Karte messen. Man muss über Details pro Quadratmeter sprechen.
Die etwas andere Open World
Und so vertreibt man sich die Zeit beim Baseball-Schlagen, Darts-Werfen oder Flirten und tut etlichen Mitmenschen einen Gefallen, indem man ein paar Halunken kurz und klein schlägt. Immerhin waren alle Yakuza stets Prügelspiele und brutale noch dazu; wuchsen die verschiedenen Protagonisten, allen voran der inzwischen abgelöste Frontmann Kazuma Kiryu, doch in den Reihen der japanischen Mafia, der Yakuza auf. Kein Wunder also, dass sie es stets mit Ihresgleichen zu tun bekamen, wenn ihr Clan mal wieder in kriminelle Komplotte verstrickt wurde.
Doch um Kazuma und Konsorten geht es in Judgment nicht. Die Hauptrolle spielt vielmehr Takayuki Yagami: Privatdetektiv, single, Mitte 30. Ein ehemaliger Anwalt, der vor drei Jahren einen schwierigen Fall gewann – mit dem unglücklichen Haken, dass der dadurch Freigesprochene kurz darauf seine eigene Freundin ermordete. Eine tragische Vergangenheit prägt also auch den besonnenen Takayuki und genau wie im allerersten Yakuza wird das im Verlauf der Geschichte eine wichtige Rolle spielen.
Introducing: Takayuki Yagami
Es braucht dabei eine ganze Weile, um in Gang zu kommen. Denn wer nicht durch die Story hetzt, ist schon mal 20 Stunden oder länger mit dem „Vorspiel“ beschäftigt, bevor sich Kamurocho wirklich öffnet. Logisch: Zum einen führt das nach der japanischen Hauptserie benannte Ryu Ga Gotoku Studio mit großer Sorgfalt (und gewohnt ausführlichen Filmszenen) einen neuen Protagonisten ein, zum anderen kommen mit ihm spielerische Besonderheiten hinzu, von denen die wenigsten wirklich neu sind, die in ihrer Gesamtheit aber einen durchaus frischen Eindruck hinterlassen.
Erst fragen, dann schlagen!
Immerhin stürmt Detektiv Takayuki nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern holt zunächst mal Informationen ein. Er befragt Informanten, beobachtet über seine ferngesteuerte Drohne, knipst Beweisaufnahmen, befragt Verdächtige, verkleidet sich und knackt Schlösser, um heimlich in fremde Gebäude einzudringen. Er teilt auch nicht ganz so hart aus wie Kazuma, weshalb er Prügeleien ganz gerne aus dem Weg geht.
Nun klingt das auf dem Papier ganz hervorragend und tatsächlich hatte ich mich im Vorfeld riesig darauf gefreut, Kamurocho mal auf ganz andere Weise kennenzulernen – um in den ersten Stunden gewaltig enttäuscht zu werden. In Wirklichkeit ist es nämlich so: All diese Aufgaben und Herausforderungen, die Takayuki als neuen Helden definieren, sind nichts weiter als profane Mini-, nein: Mikrospiele. Von echter Detektivarbeit, wie sie die Erzählung nahelegt, kann überhaupt keine Rede sein! Von spielerischer Herausforderung während des Schnüffelns schon gar nicht.
Knopfdruck-Schnüffeln
Das Absuchen von Tatorten? Man fährt mit dem Cursor so lange umher, bis man einen Beweis anklicken kann. Das Erkunden per Drohne? Man fliegt so lange umher, bis man eine gesuchte Person anklicken kann. Das Aufnehmen von Fotos? Man drückt auf den Auslöser, sobald alle gesuchten Elemente im Bild sind. Die werden in einer Liste am Rand gut sichtbar abgehakt. Das Befragen von Informanten oder Verdächtigen? Man klickt so lange Dialogoptionen an, bis es weitergeht. Anschließend klickt man die restlichen Dialogoptionen durch. Ach, und Verkleidungen? Darf man ausschließlich an dafür vorgesehenen Stellen anlegen – gerne einen halben Meter vor den Personen, von denen man nicht erkannt werden darf.
Macht euch keine Illusionen: Dass Jugdment nicht mit dem Entwicklungsaufwand gestemmt wurde, der einem Assassin's Creed oder Grand Theft Auto entspricht, merkt man ihm genauso an wie allen anderen Yakuza-Episoden. Das werfe ich ihm auch gar nicht vor. Aber es wirkt sich nun mal aufs Spielgefühl aus; diese altmodische Starrheit, die auf dynamisch ineinandergreifende Systeme weitgehend verzichtet und stattdessen ein Hingehen-und-Anklicken fordert – oft innerhalb eines eng abgesperrten Areals.
Und hatte ich geschrieben, dass Takayuki Schlägereien aus dem Weg geht? Er betont das häufig, ist genervt, wenn es nicht klappt oder froh darüber, dass ihm sein Partner Masaharu Kaito oder andere Begleiter häufig zur Seite stehen. Nur ist das lediglich eine Fassade, die in zahlreichen Filmszenen aufgebaut wird. Tatsächlich prügelt sich der Detektiv genau wie Mr. Kiryu durch praktisch jeden Konflikt. Extrem selten kann er durch die Auswahl der richtigen Dialogoption mal einen Kampf verhindern. Schon beim gemütlichen Flanieren wollen ihm dermaßen viele Ganoven an den Kragen, dass ich Judgment seine bemühte Eigenständigkeit nie abgenommen habe.
Mit der Schultertaste durch die Stadt
O-Ton-Fans müssen aber nicht verzichten, denn die japanische Sprachausgabe ist enthalten.Denkt euch ein paar technische Schwächen hinzu, darunter plötzlich verschwindende Personen oder Sammelgegenstände, wenn das Programm vom freien Spiel in eine Dialogszene bzw. zurück wechselt – und stellt euch vor, dass nicht alle Dialoge vertont wurden, Passanten Sprechblasen über den Köpfen tragen, die Verabschiedung beim Verlassen eines Lokals oder Geschäfts als Dialog bestätigt werden muss sowie andere sperrige Reliquien, die Yakuza 6 eigentlich längst ad acta gelegt und u.a. deshalb eine so vereinnahmende Welt erschaffen hatte. Beim gemütlichen Erleben stört nicht zuletzt, dass man durchgehend L2 gedrückt halten muss, damit die Kamera nicht extrem schnell in Takayukis Blickrichtung zurück schwenkt. Warum gibt es dafür in den zwei Jahre später veröffentlichten Umsetzungen noch immer keine Einstellungsmöglichkeit? Wenn mich eine Kulisse so fasziniert wie Kamurocho, schaue ich fast nie strikt geradeaus!
Multiple-Choice ohne Konsequenz?
In manchen Unterhaltungen sollte man zudem für den jeweiligen Fall relevante Namen oder Ereignisse parat haben, um wichtige Fragen zu stellen oder richtige Antworten zu geben. Überhaupt spielen Multiple-Choice-Gespräche eine relativ große Rolle, weil es nicht nur in Ermittlungen, sondern auch beim Flirten mit potentiellen Freundinnen sowie in anderen Situationen auf das Gesagte ankommt. Nun ist Judgment kein erzähllastiges Rollenspiel; meist gelangt man über das sture Anklicken aller Optionen schon zum Ziel. Manchmal führt genau das aber zum Game Over und fast immer gibt es für das frühe Anwählen relevanter Aussagen zusätzliche Erfahrungspunkte.
Verzweigte Handlungsfäden spinnt Jugdment nicht. Es gibt nur Einbahnstraßen mit Belohnungen und Straßensperren. Im Kleinen tut es aber tatsächlich gut, wenn man sich im entscheidenden Moment an einen ausschlaggebenden Hinweis erinnert, ohne dass das Spiel dabei hilft, oder in Befragungen noch einmal die Fakten durchgeht, um gleich beim ersten Mal eine gesuchte Antwort zu finden.
Sehr angetan bin ich weiterhin von der Art und Weise, mit der Nagoshi „sein“ Kamurocho (einen zweiten Schauplatz gibt es diesmal nicht) stärker zu einem glaubwürdigen Stadtviertel macht, als es das zuletzt gewesen ist. Auch dazu tragen verschiedene Ideen bei, von denen die vielleicht profanste ein Schlüsselbund ist, mit dem Takayuki seine Büro- und andere Türen öffnet. Denn das geschieht nicht automatisch; man muss den richtigen Schlüssel selbst anwählen. Obwohl das nicht bei jedem Betreten der entsprechenden Areale notwendig ist und obwohl es eine Fähigkeit gibt, die nach dem erstmaligen Benutzen den richtigen Schlüssel stets anzeigt, ist das ein ebenso feines wie wirkungsvolles Detail.
Freunde und Schlüssel
Eine weitere Kleinigkeit sind Freundschaften, die der Privatschnüffler durch das Erfüllen kleiner Gefallen schließt. Die entsprechenden Bekannten grüßen ihn anschließend nämlich auf der Straße, was seine Energie für besonders mächtige Angriffe steigert, oder zeigen sich anderweitig erkenntlich. Seine Vermieterin stellt ihm etwa Essen in den Kühlschrank, das seine Gesundheit wiederherstellt.
Überhaupt spielt das Essen in Judgment neuerdings eine große Rolle, denn aus der Vergangenheit bekannte Heilmittel sind diesmal rar und teuer. Sandwiches und Sushi-Pakete nehmen jetzt deren Platz ein. Abgesehen davon drehen sich erstaunlich viele Gefallen und Aufträge in irgendeiner Form um die Nahrungsaufnahme, was bisweilen seltsam anmutet, das Abenteuer aber auch ein Stück weit in der realen Welt erdet.
Guten Appetit!
Und dann sind da noch vertraute Sammelpunkte wie Children‘s Park im Nordwesten sowie Raucherinseln, an denen Takayuki die dort stehenden oder sitzenden Menschen nach Informationen befragt oder sich selbst eine Zigarette anzündet, um Gespräche der „Mitraucher“ zu belauschen. Wie gesagt: Es ist nach wie vor das altbekannte Kamurocho. Keine einzige Person läuft in der offenen Welt an einen solchen Treffpunkt, um sich dort zu unterhalten und anschließend einkaufen zu gehen. Es gibt vielmehr strikt voneinander getrennte Zufallspassanten, die immer nur unterwegs sind, sowie Kettenraucher, die ihr gesamtes Spieleleben nichts anderes tun.
Woher nehmen und nicht prügeln?
Umso besser gefällt mir dafür das Geldverdienen – oder vielmehr das Nicht-Geldverdienen, da in den Schlägereien kaum noch ein Groschen abfällt. Stattdessen muss Takayuki arbeiten gehen, sprich Aufträge annehmen und erledigen. Das sind keinen anderen als die bisherigen, jetzt aber plausibel in Welt und Erzählung eingebettete Nebenmissionen. Der Detektiv wird auch kaum noch auf der Straße angesprochen, sondern nimmt an bestimmten Anlaufstellen Fälle an, trifft sich anschließend mit den Klienten und erledigt dann die erhaltenen Aufgaben.
Auch das trägt entscheidend dazu bei, dass Kamurocho ein kleines Stück mehr glaubhafte Welt ist als zuvor. Im Rahmen der vertrauten Beschränkungen erschafft Nagoshi eine überzeugende Umgebung. Auch wenn es die meisten Bausteine in der Yakuza-Serie schon gegeben hat, ist das aktuelle Vergnügungsviertel in seiner Gesamtheit damit stärker Takayukis „Hood“ als es je Kazumas Zuhause war.
Großen Anteil hat daran nicht zuletzt eine Erzählung, in der Takayukis Kollegen sowie später hinzukommende Kameraden eine Art Familie bilden. Nach zehn Jahren Einzelkämpfer-Mentalität fühle ich mich in diesem wärmeren Umfeld jedenfalls verdammt wohl. Die Autoren und Filmemacher bringen sogar einen sympathisch spitzfindigen Humor ins Spiel, der vor allem Takayuki und seinen Partner Masaharu als sympathisches Duo etabliert, und von einer erstaunlich wohldosierten Prise Slapstick flankiert wird.
Familie statt Clan
Viele Klischees sind aber immer noch zu beobachten: gelegentliches Schreien etwa oder das idiotische Verprügeln des besten Freundes. Im Gegenzug erzählt Judgment dafür einen Krimi, der einmal mehr etliche Umwege über Verschwörungen in Verschwörungen nimmt, insgesamt aber direkter zum Punkt kommt und sich auch unmittelbarer um den zentralen Charakter dreht. Er ist sogar auf eine Weise emotional, die an Yakuza 2 erinnert und das ist das größte Lob, was ich einer Yakuza-Geschichte aussprechen kann!
Einen ganz bestimmten Aspekt der Erzählung finde ich allerdings fragwürdig und das ist nach wie vor die Repräsentation von Frauen bzw. der Geschlechterrollen. Nun bin ich beileibe kein Experte der japanischen Kultur und will Ryu Ga Gotoku Studio außerdem zugestehen, dass sie vor dem Hintergrund einer traditionell stärker sexualisierten Frauendarstellung eine durchaus fortschrittliche Botschaft vermitteln. Gleichzeitig fällt aber auf, dass in der hier erschaffenen Welt ausschließlich Männern Handelnde sind, während Frauen praktisch nur als Opfer oder Unterstützung dienen und natürlich beschützt, ja sogar von einem Mann eingekleidet und geschminkt werden müssen.
Andere Länder, andere Sitten?
Mal abgesehen davon, dass der 35-Jährige Takayuki im Rahmen eines Handlungsstrangs mehrmals mit einer 19-Jährigen ausgeht – was ich deshalb als extrem unangenehm empfand, weil man diese Geschichte selbst in den zahlreichen Multiple-Choice-Gesprächen nicht anders entwickeln darf außer sie als eine Art Minispiel gewinnen zu müssen, indem man sie mit Geschenken und “romantischen” Antworten umgarnt. Alternative Handlungsverläufe gibt es nicht; man könnte die Nebenmission lediglich unerledigt lassen.
Der ungenierte Blick
Nichts gegen ein bisschen altmodisches Rittertum, doch im Großen und Ganzen untermauert Judgment sehr wohl die Einstellung, dass Frauen zunächst mal Spielzeuge sind und unterstellt seinen Spielern gleichzeitig, sie würden Freude daran empfinden – das ist es, worauf ich gerne verzichten kann.
Und weil es gerade um Testosteron geht, will ich abschließend noch ein paar Worte den Schlägereien sowie den Minispielen widmen, bei denen alte Bekannte (Baseball, Poker, Shogi, Dart, Virtua Fighter Showdown u.m.) um ein paar neue ergänzt wurden. Am interessantesten sind hier die Drohnen-Wettrennen, bei denen man durch die Straßen Kamurochos rauscht, Beschleunigungsfelder durchfliegt, in immer schnelleren Turnieren irgendwann Champion wird und als nette Dreingabe mit den hochgeladenen Rekorden von Freunden oder fremden Spielern um die Wette rast. Den Umfang der taktischen Clan-Gefechte aus Yakuza 6 erreicht das nicht, aber eine unterhaltsame Abwechslung ist es allemal.
Ausgerechnet der Flipper...
An dieser Stelle übrigens der Hinweis, dass es bis zum Zeitpunkt dieses Tests weder auf PS5 noch auf Xbox Series jene Mikrotransaktionen gibt, wegen denen wir das Spiel auf PlayStation 4 nachträglich von 77 auf 74 Prozent abgewertet haben. Genauer gesagt sind sowohl die Zugänge zu einem größeren Minispiel als auch Verbesserungen der Drohne ausschließlich im Spiel selbst erhältlich, aber nicht im PlayStation oder Xbox Store. Stattdessen enthält die Umsetzung auch alle einst kostenpflichtigen kosmetischen Downloadinhalte, was sie gegenüber der PS4-Fassung natürlich ebenfalls aufwertet.
Minispiele schön und gut; der bittere Ernst erwartet Takayuki selbstverständlich auf den Straßen, wo er sich ständig gegen angriffslustige Ganoven zur Wehr setzen muss. Wie gesagt: Der ganz große Kämpfer ist er nicht. Er bewegt sich anfangs recht langsam und richtet wenig Schaden an – er soll schwächer sein als Kazuma, was dadurch unterstrichen wird, dass ihm beim Kämpfen im Rahmen der Handlung häufig Begleiter zur Seite stehen. Anders als sein Vorgänger trägt er außerdem "tödliche" Wunden davon, wenn er von einer Kugel oder von Messern getroffen wird. Diese Wunden verkürzen seinen Lebensbalken dauerhaft, was nur ein Besuch beim Arzt oder der Einsatz eines teuren Erste-Hilfe-Pakets rückgängig machen kann, und dort knifflig wird, wo man während einer längeren Mission plötzlich kein Paket mehr parat hat.
Nimm die Beine in die Hand!
Eine witzige Form des Freischaltens ist das sogenannte Quickstarter, bei dem Takayuki Geld in Projekte investiert, die ihm sinnvoll erscheinen. Das fertige "Produkt" erhält er umso schneller, je mehr er dafür ausgibt.Für zusätzlichen Druck sorgt nicht zuletzt die Polizei, denn lässt man sich in den Zufallskämpfen auf Kamurochos Straßen zu viel Zeit, kommt jetzt eine Patrouille angefahren. Ist der Staatsgewalt nach zehn Jahren Yakuza-Schlägereien also endlich aufgefallen, dass es in Kamurocho ein Problem gibt... Will man nicht im Gefängnis landen, sollte man dann jedenfalls die Beine in die Hand nehmen und weglaufen. Das ist ebenfalls eine gelungene kleine Ergänzung.
Allerdings: So richtig schwach ist Takayuki unterm Strich eben doch nicht. Hat man erst mal einige seiner Fähigkeiten entwickelt, hat er ja vor allem akrobatisch eine Menge auf dem Kasten. Er springt dann von Wänden ab oder über Feinde hinweg, führt noch im Sprung mächtige Finisher aus u.v.m. Weil die Kämpfe eine so große Rolle spielen, mag das spielerisch notwendig sein. Es wird über Takayukis Yakuza-Vergangenheit auch gerade noch plausibel erklärt. So richtig passen seine übermäßig artistischen Manöver aber nie zur Figur.
Alte Stärke, neue Schwäche
Alte Schwächen übernimmt Judgment aber ebenfalls, denn relativ träge Bewegungen sorgen erneut dafür, dass man manche Aktionen nicht genau genug ausführen kann. Gerade das coole Wandlaufen funktioniert nicht zuverlässig. Finisher werden zudem wie separate Filme nicht unbedingt dort inszeniert, wo sie tatsächlich stattfinden, weshalb man sich im Anschluss oft neu orientieren muss, was im Zusammenspiel mit einer ohnehin mangelhaften Übersicht frustrierend sein kann. Spätestens wenn Takayuki Begleiter zur Seite stehen, geht der Überblick gern flöten, in Innenräumen sowieso. Umso seltsamer scheint mir die Entscheidung, eine Vielzahl der wichtigen Prügeleien in ausgesprochen engen Bereichen zu platzieren.
Ein zweischneidiges Schwert sind schließlich die starken Tränke, welche man herstellen und jederzeit einnehmen darf. In dem Zusammenhang ist es natürlich praktisch, dass man bis zu drei Inventargegenstände auf das Steuerkreuz legt, um sie schnell zu aktivieren. Weniger durchdacht ist allerdings, dass Takayuki sowohl durch die Tränke als auch das Einnehmen von Alkohol ausgesprochen mächtig wird. Selbst auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad sind manche Kämpfe dann geradezu banal – wer sich auch nur halbwegs Zeit zum Erledigen optionaler Aufträge nimmt, hat ja weder Geld- noch Ressourcen-Sorgen. Hinzu kommen Bosskämpfe, die man durch das Aneinanderreihen ganz bestimmter Aktionen spielend leicht gewinnt. Die Balance stimmt hier einfach nicht.
Fazit
Judgment war der erste Ableger, der das Ryu Ga Gotoku nicht im Namen trägt, dem Sega aber eine aufwändige Lokalisierung spendiert - die Zeichen standen also ganz klar auf Neuanfang. Nur dass es spielerisch gar keiner ist. Denn so sehr mir nach wie vor die Idee gefällt, einen smarten Detektiv zu spielen, der nicht mit dem Kopf durch die Wand rennt, so sehr ist Takayuki Yagami eben doch ein Abziehbild seines auf Krawall gebürsteten geistigen Vorgängers. Dabei sind das Schlösserknacken, Verkleiden und Suchen nach Beweisen durchaus unterhaltsam - aber auch weitgehend belanglose Mikrospiele, die ausschließlich an dafür vorgesehen Punkten stattfinden. Den eigentlichen Ermittlungen schaut man nur in Filmszenen zu; selbst führt man sie fast nie aus. Gelungen sind immerhin Multiple-Choice-Dialoge, die erzählerisch zwar nicht verzweigen, in denen man für richtige Antworten aber belohnt wird. Gelungen ist auch ein leicht verändertes Kamurocho, das aufgrund technischer Altlasten eine noch immer recht starre Kulisse ist, durch sinnvolle Neuerungen aber ein Stück Glaubwürdigkeit gewinnt und auf PS5 sowie Xbox Series zudem von 60 Bildern pro Sekunde und weggefallenen Mikrotransaktionen profitiert. Ebenfalls gelungen ist nicht zuletzt die Charakterzeichnung des Protagonisten, die über eine emotionale Geschichte und eine Prise wohl dosierten Humors eine neue “Familie” etabliert. Nur eines muss in dem frisch angekündigten Nachfolger unbedingt besser werden: Das grundsätzlich unterhaltsame Kämpfen ist streckenweise absurd einfach, leidet gleichzeitig aber unter mangelhafter Übersicht, einer frustrierend unpräzisen Steuerung und passt noch dazu denkbar schlecht zur Person des frisch etablierten Protagonisten. Neben der fehlenden Eigenständigkeit ist also ausgerechnet das zentrale Spielelement das größte Ärgernis – und damit auch der Grund, aus dem Judgment den Sprung auf eine etwas höhere Wertung verpasst.
Pro
- neue sympathische Charaktere in emotionaler und spannender Geschichte...
- nach wie vor einmalig intime, detailliert ausgearbeitete Kulisse...
- Geldverdienen findet fast ausschließlich über Aufträge statt
- Takayuki schließt über erledigte Aufgaben Freundschaften, die ihm daraufhin ständig aktiv helfen
- Passanten kommentieren aktuelles Geschehen oder geben Hinweise
- relativ viele Unterhaltungen mit mehreren Antwortmöglichkeiten, für die man nachdenken oder sich richtig erinnern muss
- erweitertes Aktionsspektrum wie Verfolgungen, Fliegen einer Drohne und Schlösser knacken
- unterhaltsame neue sowie viele bekannte Minispiele
- unterschiedliche Tätigkeiten sind sinnvoll miteinander verknüpft
- umfangreiche Charakterentwicklung nicht nur über Erfahrungspunkte
- praktisch: sehr leichter Schwierigkeitsgrad für Story-Genießer
Kontra
- ... mit im hiesigen Kontext reaktionärem Geschlechterbild und einigen ermüdenden Yakuza-Klischees
- ... die technisch nicht ganz sauber ist: u.a. verschwinden Gegenstände oder Figuren plötzlich
- Umgebung wirkt durch relativ viele Ladeunterbrechungen, Sprechblasen statt gesprochener Texte, starre Kamerasteuerung u.m. altbacken
- häufiger Verlust an Übersicht in Kämpfen, besonders bei Story-Missionen
- relativ träge Bewegungen sorgen gegen schnelle Feinde für unzureichende Präzision im Kampf
- Beweise und Informationen dienen dafür nur dem Nachlesen, man muss sie nie eingehend studieren
- Detektivarbeit beschränkt sich auf profane Suchaufgaben usw.
- Spielstände von PS4 werden nicht übernommen
Echtgeldtransaktionen
Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?
- Es gibt keine Käufe.