Lost Judgment - Test, Action-Adventure, XboxOne, PlayStation4, PlayStation5, XboxSeriesX
Takayuki Yagami schnüffelt wieder. Nachdem der Privatdetektiv und gelernte Anwalt bereits in Teil eins das übernahm, was Kazuma Kiryu kurz zuvor aufgegeben hatte (Bösewichte in martialischer Manier verprügeln, um guten Menschen tausend Gefallen zu tun), beginnt auch sein zweites Abenteuer in Tokios Vergnügungsviertel Kamurocho, bevor er nach Yokohama kommt, genauer gesagt den Stadtteil Isezaki Ijincho. Kommt euch bekannt vor? Sollte es. Denn das ist der Ort, an dem Yakuza: Like a Dragon spielt. Sega nutzt seine virtuellen Sets also weiterhin als beständige Kulissen, anstatt komplett neue zu entwickeln – auch wenn in Lost Judgment jetzt eine Schule dort steht, wo sich Like a Dragon noch ein sehr unscheinbares Gebäude befand. Yakuza-Rollenspieler dürften in Lost Judgment daher vom Start weg alle Wege kennen.
Zurück auf die Schulbank
Doch warum ausgerechnet eine Schule? Für gewöhnlich ist das ja nicht gerade das Milieu, in dem die unter Gangstern aufgewachsenen Charaktere zugange sind. Ganz einfach: Takayuki will befreundeten Ermittlern einen Gefallen tun und greift ihnen deshalb bei einem Fall unter die Arme, in dem es um Mobbing zu gehen scheint. Schon bald stellt er deshalb Untersuchungen in besagter Schule an, wofür er als eine Art Erzieher einspringt. Um die gewünschten Informationen zu erhalten, leitet er also verschiedene Clubs und macht die Bekanntschaft mit Schülern, denen er je nach Ausgangslage unter die Arme greift oder eine Lektion erteilt.
Dass Lost Judgment dabei nicht nur den großen Fall Ernst nimmt, sondern sich auch lange und eindringlich mit Ursachen und Auswirkungen von Mobbing beschäftigt, rechne ich ihm hoch an. Das Thema zieht sich als roter Faden durch einen längeren Teil der Geschichte und serientypisch erklärt die Erzählung viele der damit verbundenen Probleme, was der Geschichte nicht nur mehr Substanz verleiht; es erdet sie auch auf eine Art, wie es einem Plot im Gangstermilieu sonst schwer fällt.
Richtige Idee, falsches Spiel
Ersteres wird gleich bei seinen ersten Schritten in der Schule deutlich, wenn er und seine Kollegen eine Mobbing-Situation durch einen blödsinnigen Trick lösen, der weder besonders unterhaltsam noch in irgendeiner Form glaubwürdig ist – auf gar keinen Fall aber der Realität gerecht wird, mit der sich Mobbingopfer und Beobachter konfrontiert sehen. Das Ansinnen ist ein lobenswertes, die Ausführung aber dennoch hirnrissig.
Hinzu kommt die Tatsache, dass die zentrale Problemlösung das Verprügeln derjenigen ist, die Böses tun, und damit in diesem Fall leider Schüler gemeint sind. Natürlich sind die Flegel stets die Angreifer. Trotzdem halte ich es für bedenklich, wenn man ihnen am laufenden Band – verzeiht – die Fresse poliert, anstatt wenigstens im Ansatz echte Lösungen zu suchen.
Erziehung 2.0
Zweiteres, also die Tatsache, dass Takayuki hier fehl am Platz wirkt, wiegt weniger schwer, macht sich aber dort erkennbar, wo er nicht nur als Erzieher der Schülerinnen und Schüler auftritt, sondern sich auch mit ihnen anfreundet, als wären sie erwachsene Nebencharaktere jedes anderen Yakuza-Abenteuers. Das wirkt einfach befremdlich, so gut das Einbinden oberflächlicher sozialer Elemente, wie man sie u.a. aus Persona 5 kennt, auch gedacht ist. Ein Erwachsener sollte in diesem Rahmen als Erzieher tätig sein, anstatt sich wie ein Mitglied verschiedener Cliquen verhalten. Gut, dass die Handlung recht früh auch die klassischen Yakuza-Motive aufnimmt, obwohl das für sich genommen freilich nicht gerade einem kreativen Geniestreich gleichkommt.
Takayuki leitet jedenfalls verschiedene Clubs, in denen er diverse Minispiele ausübt, darunter Boxen, Tanzen und Motorradfahren, sprich einen Teil der üblichen Nebentätigkeiten, und wie im Vorgänger gefällt es mir sehr, dass viele Aktivitäten an den erzählerischen Kern gebunden sind. Zusätzlich erledigt er schließlich kleine Aufträge als Privatdetektiv, anstatt wahllos Menschen auf der Straße anzusprechen. Wobei es weiterhin auch den Zeitvertreib bei Drohnenrennen, in der Baseball-Halle, das im Vorgänger eingeführte Paradise VR u.v.m. gibt. In den Spielhallen der Sega Arcade stehen außerdem Automaten mehr oder weniger bekannter Sega-Klassiker – bedauerlich finde ich dort nur, dass die Analogstick-Steuerung der Spielhallenversion von Super Hang-On viel zu empfindlich reagiert, sodass man das Motorrad nicht präzise lenken kann. Das fällt u.a. im Vergleich zur PS3-Version sehr deutlich auf.
The real Kidd
Erweitert wurden aber nicht nur die Nebentätigkeiten, mit denen man Dutzende Stunden verbringen kann, sondern auch das Prügeln mit den zahlreichen Ganoven. Immerhin beherrscht Takayuki jetzt gleich drei Kampfstile, zwischen denen er jederzeit wechseln kann: Tiger zum Austeilen starker Tritte und Schläge, Kranich zum schnellen Ausweichen und Beherrschen größerer Gruppen sowie Schlange zum Kontern ankommender Attacken. Mit Letzterem lässt er Angriffe dabei nicht nur ins Leere laufen, sondern führt Finisher auch so aus, dass Gegner ohnmächtig werden, ohne getroffen zu sein. Ob Sega damit das Verprügeln von Schülern rechtfertigt? „Man muss sie ja nicht Ausknocken!“ Falls ja, bleibt es leider bei der guten Idee, denn tatsächlich spielt es praktisch keine Rolle, ob man sich für die sanftere Gangart entscheidet oder nicht.
Tierisch gut
Dabei finde ich das Kampfsystem grundsätzlich klasse, da Takayuki sehr akrobatisch zwischen seinen Gegnern umherspringt und einige seiner neuen Bewegungen ausgesprochen cool sind. Eine absurd mächtige Attacke des Vorgängers wurde zum Glück abgeschwächt, sodass man jetzt mit etwas mehr Köpfchen zur Sache gehen muss. Für meinen Geschmack ist der zu Beginn wählbare höchste Schwierigkeitsgrad nur immer noch viel zu leicht. Wenn ich mich für eine Herausforderung entscheide, sollte das Spiel diese auch bieten, doch die meisten Ganoven stellen gar keine echte Gefahr dar.
Ausgeglichen wird der fehlende Anspruch wie eh und je durch eine Kamera, die in engen Räumen gerne irgendwas, aber nicht Takayuki samt Gegner zeigt. Und auch die Tatsache, dass alle Feinde bis auf die an einem Finisher beteiligten ausgeblendet werden, sowie das Verschieben solcher Aktionen an einen etwas anderen Ort, sorgt dafür, dass man gelegentlich die Übersicht verliert und unvermittelt Treffer einsteckt. Schade, dass das noch immer nicht besser in den Spielverlauf eingebettet wird.
Denkt an die EX!
Als gelungen empfinde ich dafür die noch relativ lange nach einem Kampf aufrufbare Aufschlüsselung der erhaltenen Erfahrungspunkte, die man zum Freischalten weiterer Fähigkeiten benötigt. So ist nämlich leicht erkennbar, welche Aktionen besonders profitabel sind, was wiederum zum Ausprobieren evtl. vernachlässigter Techniken motiviert. Abgesehen davon sollte man darauf achten, die EX-Energie zum Ausführen starker Angriffe und Finisher zu füllen, was den Prügeleien eine zusätzliche Dimension verleiht.
Segas Automatik-Detektiv
Meist finden diese Aktionen zudem in ausgesprochen kleinen Arealen statt, was sie spielerisch noch belangloser macht. Spätestens, wenn man dann ein kleines Rätsel längst gelöst hat, aber noch drei irgendwo versteckte Markierungen finden muss um, damit einem endlich die Lösung erklärt wird, verkommt die „Detektivarbeit“ endgültig zur enervierenden Zeitverschwendung. Abgesehen davon finde ich es ohnehin höchst befremdlich, dass man mehrmals direkt vor einer anderen Person stehen und mit der Lupe auf sie glotzen muss. Geht das denn nicht wenigstens eine Idee glaubwürdiger?
Dieses ebenso seltsame wie anspruchslose Wimmelbilden zieht sich durchs gesamte Abenteuer. Nehmt z.B. das neue Klettern an Häuserwänden, mit dem sich Takayuki einen Weg etwa in ein geöffnetes Fenster bahnt – nur dass man dafür nicht jederzeit auf Kisten oder Lüftungsschächte steigen darf, sondern solche Gelegenheiten zunächst über das beschriebene Beobachten markieren muss, bevor man anschließend den einzig möglichen Kletterweg in Richtung Ziel abklappern soll. Im besten Fall fühlt sich das viel mehr nach Visual Novel als nach Action-Adventure an. Im schlechtesten nach interaktiver Gängelei ohne spielerischen Nutzen.
Visual Novel statt Action-Adventure
Beim Klettern und Beobachten ist ja längst nicht Schluss, denn selbst das Schleichen mit Anleihen an klassischer Stealth-Action funktioniert meist so: Man läuft an eine leuchtende Markierung, wirft von dieser aus entweder eine Münze oder einen Rauchball an den jeweils einzigen Interaktionspunkt und schleicht anschließend an der Wache vorbei oder knockt sie aus. Geht das schief, muss man es noch mal probieren. Das dynamische Katz-und-Maus-Spiel echter Stealth-Action? Braucht kein Mensch!
Dabei macht es durchaus Spaß mit Takayuki unterwegs zu sein, die verschiedenen Aspekte der Detektivarbeit zu erleben und diesmal sogar Spürhunden zu folgen, um z.B. Nebenmissionen zu entdecken. Ich mag auch die gelegentlich durchschimmernde, etwas subtilere Form des vertrauten Yakuza-Humors mit wunderbar albernen Anspielungen u.a. auf die Stealth-Action eines Metal Gear Solid oder Momenten, in denen sich zwei Charaktere sprachlos anschauen. Die filmische Inszenierung ist zwar schon längst nicht mehr die Stärke der Yakuza-Serie bzw. ihres Ablegers, aber hin und wieder gelingen auch hier noch kleine Höhepunkte.
Virtuelle Urlaubsreise
Und natürlich ist die Kulisse nach wie vor klasse, wenn vor allem die engen Gassen Kamurochos überzeugend das Gefühl vermitteln durch eine Stadt zu schlendern, anstatt an leblosen Mauern vorbeizurauschen. Wie schon in Like a Dragon ist das in Ijincho leider weniger der Fall, da es den Entwicklern nicht gelingt, den großen
Straßen des Viertels das gleiche Leben einzuhauchen wie denen des Vergnügungsviertels. Yokohama fehlt es zudem an Gebäuden, in denen man das geschäftige Treiben aus höheren Stockwerke beobachten kann, sodass die Häuser mehr als in Tokio nur als Fassade dienen.Spielerisch überschaubar, aber inhaltlich gelungen sind dafür zwei kleine Neuerungen, von denen eine das Belauschen mancher Gespräche ist, um Informationen zu erhalten. Weil sich Takayuki dafür neben zwei sich unterhaltende Personen stellt, verleiht das den sonst nur der Zierde dienenden Dialogfenstern nämlich einen inhaltlichen Sinn. Die andere Neuerung ist das Fahren auf einem Skateboard, um schneller voranzukommen. Auch dabei wirkt der längst nicht mehr jugendliche Protagonist dezent aus der Zeit gefallen, gleichzeitig erleichtert das schnellere Vorankommen besonders in Ijincho aber die Fortbewegung und ist damit eine gelungene Ergänzung.
Fazit
Lost Judgment bleibt Judgment bleibt Yakuza: Auch wenn die letzte Episode fast drei Jahre alt ist, fühlt sich ihre Fortsetzung wie ein jährliches Update mit vielen bekannten Stärken und Schwächen an. Letztere betreffen vor allem eine schrecklich belanglose Detektivarbeit, die mehr Fleißklicken als echtes Handeln in einer interaktiven Umgebung ist. Denn so gut es auch gedacht ist, dass man als Privatermittler verschiedene Aspekte des Schnüffelns nachahmt, so oberflächlich ist jedes einzelne davon in spielerischer Hinsicht. Und auch die über weite Strecken fehlende Herausforderung in den zahlreichen Prügeleien ist bedauerlich – obwohl die Kämpfe selbst ganz klar das Highlight sind. Die akrobatische Action geht flüssiger von der Hand als je zuvor, spornt mit unterschiedlichen Kampfstilen zum Experimentieren an und verlangt einen kühlen Kopf, um stets genug Energie für besonders starke Angriffe aufzubauen. Eine andere Stärken sind nach wie vor die vielen Aktivitäten abseits der Geschichte, mit denen man gut und gerne ein paar Dutzend Stunden verbringen kann, obwohl man abseits der Emulation eines Sega Master Systems auch hier wenig Neues findet. Der unterhaltsame Zeitvertreib gefällt mir jedenfalls besser als der zentrale Mordfall, für den einerseits bekannte Serien-Klischees aufwärmt werden und andererseits ein zu alter Haudegen zum Mittelpunkt diverser Cliquen wird, der zu allem Überfluss Schüler verprügelt, während die zentrale Handlung von Mobbing erzählt – will die Geschichte tatsächlich ernst genommen werden, ist das konzeptionell geradezu idiotisch absurd. Und so ist Lost Judgment alles in allem also die zu erwartende Weiterführung mit inzwischen doch mächtig starken Ermüdungserscheinungen.
Pro
- schnelle, akrobatische Kämpfe mit coolen Moves...
- gelungenes Balancieren von normalen und Aufladen der EX-Angriffe
- motivierendes und übersichtlich aufgeschlüsseltes Punktesystem für den Erhalt von Erfahungspunkten
- umfangreiches Ermitteln über Verhöre, Aufspüren von Beweisen, Schleichen, Schlösser knacken u.m...
- zahlreiche kleine Aufträge abseits des zentralen Falls
- viele optionale Aktivitäten bzw. Minispiele
- wahlweise sehr leichter Storymodus
- häufige Tutorial-Einblendungen erleichtern Verständnis für alle Systeme...
- teils unterhaltsamer Humor
- separate Herausforderungen vom Hauptmenü aus sowie Zwei-Spieler-Modi einiger Minispiele
- Spielstände von PS4-Version können auf PS5 übernommen werden
Kontra
- ... die selbst auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad nicht stark genug fordern
- mangelnde Übersicht in engen Räumen und nach EX-Aktionen
- erzählerisch banale Lösungen passen schlecht zu teils ernstem schulischen Hintergrund
- ... das fast ausschließlich aus Abarbeiten vorgegebener Lösungen besteht
- Benutzen von Gadgets und andere Handlungen sind keine in sich schlüssigen Aktivitäten, sondern auf Schienen verlaufende interaktive Filme
- teils sehr spät auftauchende Details, einige seltsam leere Straßen und wenige begehbare höhere Stockwerke in Yokohama
- übermäßig viel Sammelkram, der teils direkt nach Verlassen eines Raums dort wieder auftaucht
- ... können allerdings partout nicht ausgeblendet werden
Echtgeldtransaktionen
Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?
- Es gibt ein DLC-Paket mit zusätzlichen Inhalten, darunter vier Spiele für den Master-System-Emulator, sowie im Kampf nutzbaren Verstärkern, die das Spiel insgesamt aber nicht auf nennenswerte Art beeinflussen.
- Käufe können minimale Auswirkungen auf das Spieldesign haben.