Beginnen wir mit einer steilen Hypothese: FMV-Games stellen die Krönung des Telespiels dar!
Ihr habt jetzt zwei Möglichkeiten:
FM-what? Was meint der ältere Herr?
>> Setzt euch zu mir im nächsten Abschnitt und lasst euch erzählen, von einer lange vergessenen Zeit, genannt: die 90er…
Ahahaha! Sowas wie Phantasmagoria? Ja, das war echt die Krönung… des Trashes!
>> Ja, sorry. Ich wollte nur eure Aufmerksamkeit. Gebt mir noch eine Chance im übernächsten Absatz.
Die Blütezeit der Interactive-Movies oder Full-Motion-Video-Games (FMV) liegt mit der Mitte der Neunziger schon ein bisschen zurück. Und war auch schnell wieder vorbei. Kein Wunder: Miese Darsteller und dilettantische Produktionen verdarben oft den cineastischen Genuss. Und simple A-B-Entscheidungsfragen, die zu entsprechenden Videoschnipseln führten, sind spielmechanisch – wie Ihr eingangs selbst lesen konntet – auch nicht mehr abendfüllend. Dass die wenigen, heute noch bekannten Genre-Vertreter oft mehr waren als reine FMV-Games, bestätigt die Regel: Die Teile 3-5 von Chris Roberts Wing Commander-Reihe überzeugten nicht nur als aufwändige Space Operas mit Stars wie Mark Hamill, Malcolm McDowell oder äh… Smudo, sondern auch dank stabiler 3D-Weltraumgefechte. Und mit Gabriel Knight 2: The Beast Within enthüllte Designerin Jane Jensen nicht nur die geheime Identität des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II als zünftiges Werwolferl, sondern präsentierte ihre absurde Moritat als spielerisch durchaus brauchbares Krimi-Adventure.
Der Fluch des Trash-Jahrzehnts
Den in den Neunzigern erworbenen trashigen Stallgeruch konnten interaktive Spiel-Filme bis heute nicht abschütteln. Und so ist es extrem selten geworden, dass Spieldesigner auf abgefilmte Sequenzen setzen. Auch Sam Barlows preisgekrönter Video-Krimi Her Story löste 2015 keine Trendwende aus. Und so erscheint The Centennial Case: A Shijima Story im Jahre 2022 als absoluter FMV-Exot, der gleich mal mit einem alten Vorurteil des Genres aufräumt: Das Mystery-Abenteuer um die ehrwürdige Shijima-Familie und eine hundert Jahre währende Mordserie sieht überraschend gut aus! Die traditionelle japanische Architektur des Familienanwesens und sein kunstvoll angelegter Garten inklusive spektakulär blühendem Kirschbaum liefern ein lichtdurchflutetes, atmosphärisches Kontrastprogramm zu dunklen Geheimnissen. Verantwortlich zeichnet ein erfahrenes Kreativ-Team: Regisseur Koichiro Ito (Metal Gear Solid 5), Kameramann Yasuhito Tachibana (The Naked Director, Netflix) und Produzent Junichi Ehara (NieR:Automata). Das Trio schickt euch in Gestalt von Krimi-Autorin und Hobby-Detektivin Haruka Kagami auf die Spur des Verbrechens.
Ein Exot als Fluchbrecher
Nur durch genaues Beobachten, geschickte Fragestellungen und logische Schlussfolgerungen hat die Schriftstellerin eine Chance, aus einem anfangs wirr erscheinenden Geflecht von Legenden, unaufgeklärten Morden und verdächtigen Familienmitgliedern das Geheimnis des Shijima-Clans zu enträtseln. Um möglichst wenig zu spoilern, hier nur die Eckdaten: Eiji Shijima, mittlerer Sproß der aktuellen Familien-Generation, heuert seine Kumpeline Haruka an, um ihn nach langen Jahren der Abwesenheit in sein Elternhaus zu begleiten. Eiji hat sich vom Rest der traditionell lebenden Shijimas entfremdet und wittert Übles beim anstehenden Kirschblüten-Ritual. Zu Recht, denn schon bald erschüttern Gewalttaten den Haussegen, buchstäbliche wie metaphorische Kellerleichen werden ausgebuddelt und alte Geschichten um die angeblich Unsterblichkeit verleihende Toki-Frucht gewinnen neue Aktualität.
Echt gespielte Emotionen
Das Ensemble, allen voran die sympathische Hauptdarstellerin Nanami Sakuraba, trägt die für ein FMV-Spiel überraschend umfangreiche Handlung mit solidem Schauspiel. Mimik und Gestik wirken stets klar lesbar, dadurch aber wenig subtil, an der Grenze zur Übertreibung. Das hat einen einfachen Grund: In den Filmszenen der Shijima Story müsst ihr vor allem genau beobachten. Oft verbirgt sich die Lösung eines Falles in einem unscheinbaren Nebensatz und die Emotionen der Beteiligten liefern darauf wichtige Hinweise. Der prüfende Blick in deren real gefilmte Gesichter funktioniert deutlich besser als z.B. das uncanny Minenspiel der 3D-Charaktere aus Rockstar Games‘ modernem Detektiv-Klassiker L.A. Noire. Dass die Schauspieler immer wieder unnatürlich lange Pausen machen müssen, damit das User-Interface mögliche Entscheidungen einblenden kann, verstärkt allerdings den Eindruck des virtuellen Krimidinners. Aber wer sich darauf einlässt und kein hyperrealistisches Dokumentartheater erwartet, bekommt sechs unterhaltsame Kapitel mit japanischer oder (mäßiger) englischer Tonspur.
Die erwähnten Entscheidungen, die ihr für Haruka während der ersten Hälfte eines Spielkapitels treffen könnt, sind im Rahmen der Handlung kaum der Rede wert. Oft legt ihr lediglich fest, mit welchem Satz die Autorin auf eine Situation reagiert oder was sie im Stillen darüber denkt. Ab und zu sammelt ihr noch per Tastendruck eingeblendete Indizien für die spätere Ermittlung, ansonsten bleibt das Joypad ungenutzt. Ein bisschen spielmechanische Abwechslung gibt es zu diesem Konzept zwar im letzten Drittel, im Großen und Ganzen läuft The Centennial Case aber als ein linearer FMV-Krimi durch, an dessen Ablauf ihr wenig ändern könnt.
Logikrätsel: Überholspur oder Sackgasse?
Erst nachdem ein Mord passiert ist, kommt Haruka als Ermittlerin ins Spiel: Dargestellt als Puzzle in zweckmäßiger 3D-Optik seht ihr jetzt die relevanten Rätsel des jeweiligen Falles als rote, sechseckige Frage-Tafeln: Womit wurde das Opfer getötet? Wer war zur Tatzeit anwesend? Was sagt uns der Tatort über den Hergang? Für jedes Rätsel gibt es mehrere Indizien, die ihr in Form weiterer Sechsecke um die roten Rätseltafeln herum anordnet. Passen die aufgedruckten Symbole, "schnappt" das Puzzlestück ein und eine Hypothese in Form von Stichpunkten und zweckmäßigen Animationen liefert einen Lösungsansatz. So knüpft ihr eine Beweiskette aus Teilantworten, die letztlich zur Lösung des Falles am Ende eines Spielkapitels führen soll. An sich ein robustes Puzzle-Prinzip, das Detektivin Haruka liebevoll ihren "Pfad der Logik" nennt. Leider kann die an sich clevere Indizien-Sause auch schnell in eine Sackgasse rauschen, denn…In den ersten beiden Spieldritteln führt der "Pfad der Logik" zu einigen der besten Sequenzen, die das FMV-Genre zu bieten hat. Alle Verdächtigen werden nach Agatha-Christie-Manier in einem Raum versammelt und Haruka präsentiert in einer dramatischen Argumentation den Täter. Die Entwickler haben sich hier offenbar Inspiration von den Schlussplädoyers der Phoenix Wright-Visual-Novels geholt. Und das ist gut so, denn jetzt bekommen eure Entscheidungen kurzzeitig richtig Gewicht: Untermalt von einem zunehmend intensiven Soundtrack müsst ihr zwischen richtigen und falschen Schlussfolgerungen wählen und klug auf die Ausflüchte in die Enge getriebener Verdächtiger antworten, bis ihr den Mördern den Beweis ihrer Untat triumphierend entgegenschleudert. Wählt ihr eine falsche Option, fällt Harukas coole Detektivshow in sich zusammen, sie wird zu Kirmes-Musik ausgeschimpft und muss zurück zum "Pfad der Logik". Ein echtes Game Over gibt es nicht, aber der Bruch der Immersion und die zeitfressende Ehrenrunde sind Strafe genug.
Die Attacke des Spielspaß-Killers
Apropos Strafe: Im letzten Spieldrittel verüben die Logik-Puzzlesequenzen einen feigen Anschlag auf euren Spielspaß, der den Gesamteindruck der Shijima Story eintrübt. Nach einer überraschenden, aber langwierigen Escape-Room-Einlage muss Haruka den hundertjährigen Kriminalfall final lösen und in einer epischen Deduktionsschlacht die Indizien aus mehreren Jahrzehnten und Erzählebenen zusammentragen. Leider geht der Puzzlemechanik genau an diesem narrativen Höhepunkt die Puste aus, weil sie sich nicht an die zunehmende Komplexität der Ermittlung anpasst. Egal, ob logischer Fehlschluss oder wichtiger Beweis: Die Puzzlestücke klicken, wenn ihre Symbole zusammenpassen. Das hilft euch kein Stück, die auf den Sechsecken angebrachten Hinweise sinnvoll zu strukturieren. Die optionale "Geistesblitz"-Mechanik, mit der ihr relevante Puzzlestücke aufleuchten lassen könnt, bringt nur bedingt Erleichterung. Irgendwann nutzt sich das immergleiche Puzzlespiel schlicht ab, so dass vor dem erzählerisch durchaus befriedigenden Finale eine spielmechanisch ermüdende Tour de Force liegt.
Fazit
Der Spielspaß-Killer war niemand anderes als: die schnarchigen Sechsecke! Und das ist bitter, denn genau bei den Puzzlesequenzen in herkömmlicher 3D-Grafik hätten sich die Entwickler über die Einschränkungen des FMV-Genres hinwegsetzen und designtechnisch aus dem Vollen schöpfen können. Wie man Indizien und Hypothesen rätselhaft und trotzdem ermittlerfreundlich in der Spielmechanik unterbringt, zeigte zuletzt Return of the Obra Dinn. Squares The Centennial Case scheint euch gegen Ende hin eher absichtlich zu verwirren und interessante Lösungsansätze bewusst unter platten Banalitäten und logischen Fehlschlüssen zu begraben. Und damit reißt der Schneckenpfad der Logik mit dem Hintern ein, was die Entwickler in den FMV-Sequenzen mühsam aufgebaut haben: Einen liebevoll produzierten interaktiven Krimi, in dessen besten, aber leider seltenen Momenten eure eigenen Erkenntnisse mit denen von Detektivin Haruka zu emotionalen Höhepunkten zusammenfallen.
Pro
liebevoll produzierte Krimi-Szenarien
mitreißend inszenierte Enthüllungs-Sequenzen
sympathische Hauptdarstellerin
originelles Setting
überraschend umfangreich
Kontra
Puzzlemechanik zunehmend dröge
gegen Ende zu viele falsche Fährten und Banalitäten
redundante Entscheidungen Schauspielleistung
überwiegend zweckmäßig englische Synchronsprecher
durchwachsene deutsche Untertitel und englischer Ton passen oft nicht zusammen
Wertung
PC
Originelles Krimi-Epos, das sein Potential als interaktives Detektiv-Abenteuer durch unnötig platte und ausgedehnte Puzzlemarathons verspielt.
Switch
Originelles Krimi-Epos, das sein Potential als interaktives Detektiv-Abenteuer durch unnötig platte und ausgedehnte Puzzlemarathons verspielt.
Echtgeldtransaktionen
Wie negativ wirken sich zusätzliche Käufe auf das Spielerlebnis, die Mechanik oder die Wertung aus?
Und so ist es extrem selten geworden, dass Spieldesigner auf abgefilmte Sequenzen setzen. Auch Sam Barlows preisgekrönter Video-Krimi Her Story löste 2015 keine Trendwende aus.
Das vergleichsweise riesige FMV-Revival - hauptverantwortlich dafür: Publisher Wales Interactive - dürfte an Max komplett vorbeigegangen sein.
Einige der FMV-Games der letzten Jahre:
Bloodshore
Dark Nights with Poe and Munro
Death Come True
Five Dates
Fuuraiki 4
I Saw Black Clouds
Immerse Land
Late Shift
Night Book
She Sees Red
Summer Sweetheart
Telling Lies
The Bunker
The Centennial Case - A Shijima Story
The Complex
The Dark Side of the Moon - An Interactive FMV Thriller
The Infectious Madness of Doctor Dekker
The Shapeshifting Detective
Who Pressed Mute on Uncle Marcus
Late Shift, The Shapeshifting Detective und The Infectious Madness of Doctor Dekker (Fun Fact: Guinness World Record for Most Full Motion Video in a Videogame at 7:11:58) haben mir sehr gut gefallen; The Complex war auch recht spannend.
Außerdem gab es noch Remaster der mehr oder weniger trashigen Titel:
American Hero
Corpse Killer
Double Switch
Dragon's Lair
Night Trap
Und die kontroverse Serie "Super Seducer" gehört eigentlich ja auch zu den FMV-Games.
@Matthias & Max:
Oha, die MAN!AC DVD in den mittleren Nullerjahren! Ich kenne die Rubrik leider nicht mehr namentlich, aber die humorvollen Auftritte der Redaktion habe ich (fast) immer gefeiert.
Das ist mehr als wir je erwarten konnten
anyMAN!AC hießen die Albernheiten
anyMAN!AC, richtig. Danke
Ich hatte gestern noch halbherzig das Netz abgesucht, aber unter MAN!AC nur Rückblicke u.ä. gefunden. Mit anyMAN!AC klappt es besser und sofort eine meiner Lieblingsparodien gefunden "The Twin Sepps", herrlich