As Dusk Falls - Test, Adventure, PC, XboxOne, XboxSeriesX

As Dusk Falls
19.07.2022, Eike Cramer

Test: As Dusk Falls

Großer Ärger in Two Rocks, Arizona

Ein Spiel wie ein Comicbuch? As Dusk Falls setzt auf einen eigenwilligen Graphic-Novel-Look, viele Entscheidungen und eine packende Gangster-Story im tiefsten Arizona. Kann dieses sehr speziell anmutende, Microsoft-exklusive Erzähl-Adventure vom Indie-Studio INTERIOR/NIGHT überzeugen? Unser Test gibt die Antwort!

Drei ungleiche Brüder, ein missglückter Einbruch beim Sheriff, ein einsames Motel an der Route 66 - und nichts zu verlieren. Das Setting von As Dusk Falls mit seinen Hillbilly-Gangstern wider Willen, korrupten Bullen und einer Familie, die zufällig in die Schusslinie gerät, hat zunächst alle Zutaten eines modernen Westerns. Ähnlich zu Filmen wie Bad Times at the El Royale oder Gangster-Roadmovies wie Kalifornia wird der Alltag von Menschen durch ein Verbrechen plötzlich zum Albtraum – und ein einfacher Umzug zum Kampf ums Überleben. In seinen besten Momenten erinnert der rund sechs Stunden lange Gangster-Thriller außerdem an hochklassige Crime-Serien wie Fargo oder Breaking Bad. Dazu aber später mehr.

Bad Times at the Desert Dream Motel

Der Look mag zunächst gewöhnungsbedürftig wirken, funktioniert aber fabelhaft.
As Dusk Falls ist eine interaktive Visual Novel und in ihrer Erzählweise nah dran an Quantic-Dream-Klassikern wie Heavy Rain. Das ist auch kein Wunder, denn das verantwortliche Studio INTERIOR/NIGHT wird von Caroline Marchal angeführt, ihres Zeichens Lead-Game-Designerin bei Heavy Rain und Beyond: Two Souls. Anders als bei Quantic Dream legen die Entwickler ihren Fokus allerdings konsequent auf die Erzählung und reduzieren die Spielmechanik aufs Wesentliche. Anstatt also langsam durch Spielumgebungen zu latschen, Dinge und Leute anzuklicken und bei den einfachsten Handgriffen mit Fingerverrenkungs-Quicktime-Events konfrontiert zu sein, gibt es hier nur Dialoge, Entscheidungen und kurze, simple Geschicklichkeitstests.

Wo ist der Safe? Manchmal muss die Umgebung unter Zeitdruck untersucht werden.
Und ich muss zugeben: Diese Ausrichtung ist der Geschwindigkeit der Handlung ungemein zuträglich. Anstatt im Schneckentempo von Gespräch zu Gespräch zu schleichen, löst eine unter Zeitdruck getroffene Dialogentscheidung nämlich direkt die nächste Szene aus. Ich habe hier keine Zeit, nach einem Gespräch großartig zu reflektieren oder mir das große Bücherregal doch nochmal Pixel für Pixel anzuschauen. Stattdessen erlebe ich direkt die nächste Situation. Handlung und Entscheidungen rücken so stärker in den Vordergrund - und das ist super, denn sind wir mal ganz ehrlich: Niemand spielt Heavy Rain, Until Dawn oder Telltale’s The Walking Dead wegen der tollen Laufanimationen. Hoffe ich zumindest.

Wenig Mechanik, mehr Story

Natürlich hat dieser spielerische Minimalismus aber nicht nur Vorteile – bei Quicktime-Events gibt es nur eine Taste und die meisten Tests sind für erfahrene Spieler viel zu einfach. Auch fehlt es an der einen oder anderen Stelle an Interaktion mit der Umgebung. Nebensächliche Informationen auf Notizzetteln oder persönliche Gegenstände, die einzelnen Szenen mehr Tiefe verleihen könnten, gibt es hier nicht. Auch in den Suchbildern gibt es fast immer nur Aktionen, die auch ein Ziel verfolgen. Das hilft zwar der Geschichte, schränkt das Spiel aber mechanisch deutlich ein.

Ein weiterer spannender Kniff ist die Verwendung von Standbildern im Visual-Novel-Stil: Anstatt auf klassische, animierte Figuren und Gesichter zu setzen, werden alle Charaktere als Illustrationen durch die Szenen bewegt. Was sich vielleicht ein wenig halbgar anhört, in Trailern wie eine Sparmaßnahme wirkt und ein paar Minuten Eingewöhnung benötigt, ist ein überaus gelungener Kompromiss. Anstatt nämlich die begrenzten Ressourcen des Indie-Studios in Animationen, Motion-Capturing und Gesichtsmodellierung zu stecken, die dann am Ende doch nicht mit denen der Großstudios mithalten könnten, schafft man stattdessen ein stilistisches Alleinstellungsmerkmal.

Interaktive Visual Novel, grandios vertont

Es gibt viele Gespräche und Entscheidungen. Nicht im Bild: Die erstklassige Vertonung.
Durch geschickte Überblendungen und Bewegungen erzeugen die hochwertigen Illustrationen so mehr Dynamik in Gesprächssituationen als es die statischen Telltale-Dialoge je könnten. Dazu kommt, dass die 2D-Illustrationen in klassischen 3D-Hintergründen bewegt werden – es also eine Verschmelzung des klassischen Videospiel-Looks mit dem gezeichneten Comic-Stil gibt. Das ist sicher ein Wagnis, das bei As Dusk Falls meiner Meinung nach aber komplett aufgeht. Nach den ersten Minuten war ich voll drin und kein bisschen weniger investiert als in visuell klassischeren Spielen. Das mag auch an den erstklassigen Sprechern liegen, die im brillanten englischen Original auf allerhöchstem Niveau abliefern. Die Dialoge sind unheimlich natürlich und überzeugend vertont, sie tragen so extrem zur Immersion bei. Auch auf Deutsch machen die Sprecher einen guten Job, insgesamt bevorzuge ich aber das englische Original. Hervorragend ist außerdem auch der Soundtrack von Forest Swords, der die Szenen mit stimmigen Klängen unterstreicht.

Cops, Gangster, Arizona - das Setting ist für mich ein Volltreffer.
Außerdem funktionieren für mich Story und Setting – und damit steht und fällt bei Erzähl-Adventures natürlich fast alles. Wer nicht auf den Western-Charme von Arizona, Geisel-Thriller und Familiendrama steht, der dürfte hier nicht glücklich werden. Mich hingegen haben die Geschichte um die drei Holt-Brüder, Vince und Zoe Walker sowie die Geschehnisse im Desert Dream Motel komplett mitgerissen. Und dabei beginnt eigentlich alles recht harmlos: Der Familienvater Vince Walker ist im Jahr 1998 mit seiner Familie auf der Route 66 von Kalifornien nach Missouri unterwegs, um dort nach einem schweren Arbeitsunfall einen Neustart zu wagen.

Ein Gangster- und Familien-Drama

Was anfangs nur kleine Familien-Streitigkeiten zwischen Vince und seiner Frau sind, wird schnell zu einer dramatischen Geiselnahme: Nachdem sie ein Pick-up von der Straße drängt und das SUV der Familie durch den folgenden Crash fahruntüchtig wird, suchen sie Zuflucht im nahegelegenen Desert Dream Motel in Nirgendwo von Arizona. Zum Überlebenskampf wird dieser unfreiwillige Zwischenstopp, als die drei Holt-Brüder nach ihrem Einbruch beim Sheriff des Örtchens Two Rocks dort ebenfalls Schutz suchen.

Ohne zu viel zur Geschichte zu verraten: Die Situation eskaliert schnell. Und während die drei Brüder nicht wirklich zu wissen scheinen, was sie tun, verfolgt der Sheriff offenbar eine ganz eigene Agenda. Die Handlung des in sechs Kapitel und zwei „Bücher“ aufgeteilten Thrillers wird zudem auch mit Rückblenden angereichert, die mehr Infos zur Hintergrundstory der Charaktere liefern. 

Starke Story bis zum Schluss

Auch zwischen Vince und Michelle ist nicht alles perfekt.
Die Beziehung zwischen Vince und seiner Frau aber auch die zerrüttete Familie der Holts schaffen mehr Nuancen und zum Teil verwischen Schwarz und Weiß deutlich – erst recht, wenn Geheimnisse aufgedeckt und Motivationen der Figuren plötzlich klar werden. Das Skript bleibt dabei bis zum Ende stark, überrascht mit Wendungen, Enthüllungen und neuen Perspektiven. Damit ist INTERIOR/NIGHT meiner Meinung nach der Quantic-Dream-Inspiration einen ordentlichen Schritt voraus und As Dusk Falls durchaus auf dem Niveau von US-Krimi-Serien wie Fargo, die sich vor allem durch ihre vielschichtigen Charaktere auszeichnen.


Jede Entscheidung hat eine Auswirkung. Wie groß diese ist, stellt sich meist erst später heraus. Die "Crossroad"-Markierung gibt immerhin einen kleinen Hinweis auf die Relevanz der Szene.
Alle in As Dusk Falls getroffenen Entscheidungen können relevante Konsequenzen haben – oder eben auch keine. Zum Teil bauen die Antworten in Dialogen und meine Aktionen auch aufeinander auf oder lösen erst später ihr Ergebnis aus. Aber schon kleine Entscheidungen führen zu sehr unterschiedlichen Resultaten im Laufe der Szene – wie etwa die Begegnung mit dem Wachhund des Sheriffs. Schaffe ich es, das Tier zu besänftigen oder werfe ich einen Stock und werde angegriffen? Habe ich außerdem wenig später den Code parat, um den Safe des Sheriffs leise zu öffnen, bin ich vergesslich und muss Zeit und Kraft aufwenden, um die Tür aufzuhebeln - oder vielleicht sogar ganz ohne das Geld verschwinden? Und ja: Anders als der wütende Wachhund, kann die Sache mit dem Safe Auswirkungen bis zum Ende der Story mit sich bringen.

Entscheidungen mit Auswirkung

Die Konsequenz vieler Entscheidungen ist dabei erstaunlich und bietet viele Möglichkeiten, den Verlauf der Story zu beeinflussen. Klar, so ganz frei entwickelt sich Handlung trotz des weit verzweigten Entscheidungsbaumes nicht, denn einige Dinge müssen passieren, damit das Gerüst der Geschichte funktioniert. Aber die wählbaren Varianten ermöglichen dennoch teils zwei, manchmal sogar drei, vier Ausgänge einer einzelnen Szene. Erwischt mich der Sheriff in seinem Haus? Wie sehr eskaliert die Situation im Motel - und wie kann das Schlimmste vielleicht doch verhindert werden?

Anders als bei The Walking Dead habe ich hier nie das Gefühl, dass meine Entscheidung ohnehin keinen Einfluss auf den Verlauf der Geschehnisse hat. Stattdessen wird mir sehr überzeugend das Gefühl vermittelt, jederzeit Einfluss auf das Schicksal der Figuren zu haben. In jedem Kapitel gibt es außerdem zwei Zeitlinien und jede Wahl, die ich in der Vergangenheit treffe, kann deutliche Auswirkungen auf die Gegenwart haben.

Werkzeuge der Wiederspielbarkeit

Der umfangreiche Story-Baum ermöglicht es, in einzelne Szenen zu springen. Nur zum Gucken - oder mit dauerhaften Änderungen.
In nur einem Durchlauf scheint es also unmöglich, wirklich alle Geheimnisse und Geschichten der Protagonisten zu entdecken. Aber hier hat INTERIOR/NIGHT vorgesorgt: Im verzweigten Entscheidungsbaum kann ich, ähnlich wie bei Detroit: Become Human, in bestimmte Szenen springen. Ich habe sogar die Wahl, nur mal kurz zu schauen, was sich bei einer anderen Auswahl ändert, meinen Pfad im Speicherstand grundlegend zu ändern – oder aus der Szene heraus als neues Savegame eine zweite Zeitline zu beginnen. Das motiviert, nach dem ersten Durchlauf weiter mit den Entscheidungen herumzuprobieren und so immer neue Wege durch das Story-Geflecht zu entdecken.

Aber As Dusk Falls ist nicht nur für Solisten interessant: Ähnlich wie im PlayLink-Spiel Hidden Agenda kann ich die Story von Vince Walker und den Holt-Brüdern mit bis zu sieben weiteren Spielern vor der Xbox im Offline- und Online-Koop erleben. Da die Konsole gar nicht mit so vielen Controllern gleichzeitig umgehen kann, gibt es genau wie bei dem Supermassive-Titel die Möglichkeit, per Smartphone-App an den Spielsitzungen teilzunehmen. Und das funktionierte im Test reibungslos – ist das Telefon per Code mit dem Spiel verbunden, können alle Aktionen wie das Absuchen von Zimmern, Reaktionstests und die Entscheidungen komfortabel auf dem Telefon-Bildschirm vorgenommen werden.

Ein Abenteuer für bis zu acht Spieler

Erwischt! Das kann längerfristige Auswirkungen haben.
Im Koop gilt dann eine Mehrheits-Entscheidung. Die Antwort oder die Entscheidung, die von den meisten Spielern ausgewählt wird, wird eingeloggt. Gibt es ein Patt zwischen mehreren Möglichkeiten, entscheidet der Zufall. Außerdem können Spieler eine vorher festgelegte Anzahl von Overrides benutzen, um die Auswahl ihrer Mitstreiter zu überschreiben. So entsteht eine sehr spontane Form von Demokratie vor dem TV, die am Ende sogar ausgewertet wird.

Pro absolviertem Kapitel bekommen die Spieler eine Bewertung für Werte, Charakterzüge und ihre Spielstile – etwa, wenn sie besonders selbstsicher aufgetreten sind, die Familie immer in den Vordergrund ihrer Entscheidungen gestellt haben oder sich fehlerlos durch die Reaktionstests geklickt haben. Außerdem wird errechnet, ob man mit einem Seelenverwandten vor der Konsole sitzt, der sich oft für dieselben Handlungen entscheidet. Der interessante Multiplayer-Modus macht aus As Dusk Falls ein cooles, gemeinsames Erlebnis, das den einen oder anderen Serien-Abend locker ersetzen kann.

Fazit

As Dusk Falls ist für mich die Sommer-Überraschung im Game Pass. Keiner der Trailer konnte mir vorab ein gutes Gefühl für den sehr speziellen Visual-Novel-Stil vermitteln, der diesen Gangster-Thriller auszeichnet. Dafür funktioniert dieser dann im Spiel umso besser. Die aufs wesentliche reduzierte Spielmechanik räumt die Bühne für eine starke, durchweg interessante Story mit Gangster- und Familien-Drama. Deren Setting mit viel Cowboyhut-Flair und Hillbilly-Romantik muss man wie ich aber mögen, um mit dem Entscheidungs-Adventure von INTERIOR/NIGHT wirklich glücklich zu werden. Dann aber wird man mit glaubwürdigen Charakteren, nachvollziehbarer Motivation und vielen Grauschattierungen belohnt, die bis zum Abspann (und darüber hinaus) beschäftigen. Der coole Mehrspieler-Modus, der zu Spontanabstimmungen vor dem Fernseher einlädt, macht As Dusk Falls außerdem zu einem tollen gemeinsamen Erlebnis, dessen Ausgang sich über die komfortable Szenen-Funktion auch im Nachhinein noch beeinflussen lässt. Das Erzähl-Abenteuer an der Route 66 beweist selbst Story-Skeptikern wie mir, wie packend das Medium Videospiel erzählen kann – und wie reife Skripte und großartige Sprecher eine Geschichte zum Leben erwecken.

Pro

  • reife Story mit vielen Entscheidungen ...
  • eigenwillige Kulisse ...
  • richtig gute Sprecher
  • toller Soundtrack
  • interessanter Multiplayer-Ansatz

Kontra

  • ... aber aufs Wesentliche reduziertes Gameplay
  • ... die aber nicht jedem gefallen dürfte
  • kaum Erkundungsreize und optionale Informationen
  • keine Rätsel

Wertung

XboxSeriesX

Ein spannender, interaktiver Gangster-Thriller mit eigenwilliger Optik und großartigen Sprechern.

Echtgeldtransaktionen

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Kommentare
lAmbdA

Hat das Genre Erfolg? Ich kann mir nicht helfen und muss mich jedes mal fragen, warum man da kein Buch oder Film draus macht. Wäre ich Zynisch, würde ich auf fehlende Konkurenz als USP tippen

vor einem Jahr
Flux Capacitor

Habe es nun auch mal versucht, aber dies ist für mich kein Spiel mehr, nicht mal ein Interaktiver Film. Ich möchte da schon mehr zu tun haben als minimal bewegte Standbilder mit Overlay Dialogen zu horchen mit einzelnen Point & Click Abschnitten. Schade, da kann die Story noch so gut sein, für mich ist dies nichts.

vor 2 Jahren
Varothen

Wirklich eine Perle dieses Spiel.

Jeder der den Gamepass hat, sollte es sich zumindest mal anschauen. Es lohnt sich echt.

vor 2 Jahren
Vin Dos

Ja, ne danke..

vor 2 Jahren
Khorneblume

Ich habe auch mal kurz reingeschaut, aber ich kann für mich nicht akzeptieren dass das wirklich als "spielen" durchgeht. Hatte da schon bei anderen Spielen wie Heavy Rain etc. Probleme. Das es noch minimalistischer geht hab ich eigentlich kaum für möglich gehalten.
Dann spiel mal ein richtiges, japanisches Visual Novel. Bei vielen klickst Du wirklich gesamte Spiel nur "Weiter". Daher vielleicht auch der Name Visual Novel.

vor 2 Jahren