Harmony: The Fall of Reverie - Test, Adventure, XboxSeriesX, Switch, PC, PlayStation5

Harmony: The Fall of Reverie
25.06.2023, Sören Wetterau

Test: Harmony: The Fall of Reverie

Der nächste Story-Hit der Life is Strange-Macher?

"Diese Entscheidung hat Auswirkung" oder "Clementine wird sich das merken": Seit Telltale Games' The Walking Dead hat es zahlreiche Spiele gegeben, die eine Entscheidungsfreiheit des Spielers als wichtigstes Gut in den Mittelpunkt stellten. Frei ist jedoch immer relativ, denn am Ende müssen die Fäden zusammenlaufen und man wird nie die narrativen Grenzen sprengen können, die vom Entwickler selbst gesetzt werden. Das weiß Don't Nod, das Studio hinter Life is Strange und Tell me Why, sehr genau, weshalb man sich in Harmony: The Fall of Reverie eine andere Herangehensweise traut: Warum nicht von Beginn an die Möglichkeiten einer entscheidungsbasierten Geschichte offenlegen? Wieso etwas verschleiern, wenn man hinter diesen Vorhang irgendwann sowieso schaut? Wir haben uns für euch durch die ungewöhnliche Visual Novel geklickt und verraten im Test, ob Harmony: The Fall of Reverie ein Geheimtipp ist, oder ob es manchmal besser ist, Dinge geheim zu halten.

Aller Anfang ist Polly

Harmony: The Fall of Reverie beginnt erst einmal ganz gewöhnlich: Als Polly kehre ich viele Jahre später in die Heimat zurück: Atina. Eine Insel im Mittelmeer, die mittlerweile quasi im Besitz eines von im Kapitalismus getränkten Megakonzerns ist – Polizei, Krankenhäuser, Versicherungen, Schulen und so weiter stehen unter der Kontrolle von MK. Überall schwirren Drohnen in der Luft, die Gesichter scannen und verdächtige Gespräche  
Fast schon eine Cyberpunk-mäßige Atmosphäre: Atina wird durch einen Mega-Konzern geleitet.
aufnehmen; es soll ja schließlich niemand aus der Reihe tanzen – Orwell lässt grüßen, wenn auch längst nicht so ausgereift. Viel hat Polly davon nicht mitbekommen, denn sie verbrachte die letzten Jahre im Ausland, nachdem sie in ihrer Jugend immer wieder Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter Ursula hatte.

Ursula ist jedoch der Grund, warum Polly doch noch einmal zurückkehrt, denn ihre Mutter ist plötzlich verschwunden. Alles was sie zu Hause noch findet ist eine auffällige Kette, die sie beim Anlegen auf einmal in eine Parallelwelt saugt: Reverie, die Heimat von götterähnlichen Bestrebungen, wie Seligkeit, Macht oder Bindung. In Reverie leben diese sonst für die Menschheit eher abstrakten und vielmals philosophischen Konzepte und greifen hier und da mal in der echten Welt ein, je nachdem wie es ihnen selbst beliebt.

Die Bestrebungen sind dabei optisch und charakterlich ziemlich genau so dargestellt, wie man es vermutet: Macht ist ein groß gewachsener, kräftiger Mann, der seine Emotionen nicht immer unter Kontrolle hat. Bindung wiederum ist eher ruhig und setzt stark auf die Beziehungen untereinander, während Seligkeit durchgängig eine absolute Frohnatur ist, die nichts mehr hasst, als Streit und Zwist. Und mittendrin sind wir als Polly, die aber in Reverie nicht sie selbst ist.

Der Kodex hilft, falls ich mal Dinge vergessen habe, und liefert Hintergrundinformationen.
Stattdessen wird sie dort zu Harmonie, einer eigenen Bestrebung, die über die Macht verfügt, in die Zukunft zu schauen und dafür zu sorgen, dass das Gleichgewicht beider Welten bestehen bleibt. All das wirft Harmony: The Fall of Reverie mir in den ersten 20 bis 25 Minuten entgegen und liefert damit eine geballte Ladung an Hintergrundwissen, welches man erst einmal verarbeiten muss. Hinzu kommen zusätzliche Informationen zu Atina und Reverie selbst, die in einem Kodex Platz finden, den ich jederzeit aufrufen kann, falls ich doch einmal wieder vergessen habe, was Egregore eigentlich ist. Zur Info: Es ist eine bläulich wirkende Flüssigkeit, die als "Textur der Träume" bekannt ist und frei zwischen den Welten fließt.

Story mit Plan

Wie und weshalb Reverie mit Atina zusammenhängt, was das Verschwinden von Pollys Mutter mit alldem zu tun hat und warum MK ein noch viel durchtriebeneres Spiel im Hintergrund treibt, klärt sich anschließend in der etwa sieben bis acht Stunden langen Geschichte. Eine Geschichte, deren Ausgang ich mit der Mantik selbst bestimme, zumindest ein Stück weit.

Die Mantik ist das Netz hinter der Story von Harmony: The Fall of Reverie und symbolisiert das "in die Zukunft schauen" meiner Protagonistin. Mithilfe von Knotenpunkten und Verknüpfungen zeigen mir die Entwickler auf,

Gibt es zu Beginn nur wenige Abzweigungen, nimmt das Ausmaß der Mantik später deutlich zu. Je nachdem wie man sich entscheidet, wird man aber nur einen Bruchteil tatsächlich spielen können.
welche Auswirkungen meine jeweiligen Entscheidungen haben. Nie im Detail, oft nur vage und manchmal auch gänzlich versteckt, soll ich mir so nach und nach einen Plan schmieden, wie ich die Geschichte auf meine Art und Weise beeinflusse. Dabei sind die Entwickler sogar so offen, dass sie mir schon vorab verraten, welcher Knotenpunkt zu welchen Abzweigungen führt und welche Wege ich mir dadurch versperre, zumindest für das jeweilige Kapitel.

Dieses Story-Skelett steht im Zentrum der ansonsten kaum vorhandenen Spielmechaniken von Harmony: The Fall of Reverie. Während ich in Life is Strange oder vergleichbaren erzählerischen Adventures oftmals spontan zwischen Entscheidungen wählen muss, ohne die Konsequenzen vorab zu erfahren, kann ich mir in Harmony fast schon einen Plan vorab zurechtlegen. Zumindest in der Theorie, denn ganz so simpel ist es dann doch nicht.

Knoten-Knabberei

Während manche Knotenpunkte, meistens nur zu Beginn eines Kapitels, frei auswählbar sind, benötigt man später oft eine bestimmte Anzahl von Kristallen der jeweiligen Bestrebungen. Die erhält man ebenfalls durch das Spielen von bestimmten Knotenpunkten, wodurch man schon nicht mehr ganz so frei in seiner Entscheidung wird. Denn will ich eine bestimmte Route in der Mantik einschlagen, muss ich mir vorher den einzelnen Weg ganz genau anschauen, um zu sehen, wie ich diesen Punkt überhaupt erreiche.

Hier kommt dann die Tüftelei ins Spiel oder eher gesagt: Die moralischen Überlegungen. Es kann schließlich vorkommen, dass ich für einen bestimmten Punkt zuvor eine Entscheidung wählen muss, die ich sonst eher

Nicht wundern: Harmony nutzt für verschiedene nicht-binäre Charaktere das Neo-Personalpronom "xier".
 nicht getroffen hätte, wenn mir der Ausgang unbekannt geblieben wäre. Treffe ich sie dann trotzdem, weil sie zu dem führt, wovon ich ausgehe, dass es das Richtige ist? Oder bleibe ich meinen eigenen Prinzipien treu und schlage trotz der sich mir offenbarten Zukunft einen anderen Weg ein, bei dem der Ausgang ein ganz anderer ist? Und was in späteren Akten passiert, kann man selbst mit der besten Hellseher-Fähigkeit nicht erfassen.

Ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: Entscheide ich mich für den Weg einer bestimmten Bestrebung, damit ein befreundeter Charakter etwas unternimmt, von dem ich weiß, dass mich dies zwar meinem Ziel, das Verschwinden von Ursula aufzuklären, näher bringt, aber gleichzeitig dafür sorgt, dass sich dieser Freund im Anschluss betrogen, verletzt und benutzt fühlt?

Gefühlvolles Auf und Ab

Natürlich funktionieren diese Überlegungen nur, weil es Don't Nod mal wieder schafft, facettenreiche Charaktere zu zeichnen. Da wäre zum Beispiel Nora, die früher von Pollys Familie aufgenommen wurde und somit wie eine Art Schwester für Polly ist. Mittlerweile zur jungen Erwachsenen herangereift, ringt sie 
Jade, hier rechts im Bild, stellt sich auf Atina dem Großkonzern entgegen – nicht ganz ohne Gefahr.
mit sich selbst, ob sie einen Job beim unsäglichen Konzern MK annehmen soll, um Geld zu verdienen und irgendwann studieren zu können, während sich ihre Gedanken zugleich sehr um das Verschwinden Ursulas drehen. Oder Jade, die ebenfalls noch junge Rebellin, die sich in Atina dem kapitalistischen Großkonzern entgegenstellt, von dem sie überzeugt ist, dass er die Menschheit vor Ort ausbeutet.

Natürlich zählt auch Polly selbst dazu: Nach und nach erfahren wir, warum sie zu ihrer Mutter Ursula schon immer ein schwieriges Verhältnis hatte und warum sie vor vielen Jahren Atina hinter sich ließ, um Medizin zu studieren. Das wird auch zum Problem mit Yana, einer Person, zu der Polly einst romantische Gefühle hegte, die selbst Jahre später auf beiden Seiten noch nicht gänzlich verschwunden sind. Mitterweile arbeitet Yana für MK, was für brisante Momente sorgt, in denen man die Erinnerungen an die einstige Liebe nutzen kann, um an Informationen zu gelangen, aber eventuell damit die Hoffnung auf eine zweite Chance gänzlich in den Sand setzt.

Die Bestrebungen mischen sich immer wieder in unsere Angelegenheiten ein und versuchen uns, von ihren Ansichten zu überzeugen.
Wer nur kalt und emotional berechnend vorgeht, damit in der Mantik die präferierte Route zur Geltung kommt, muss damit rechnen, dass es auf emotionaler Ebene zu Fehleinschätzungen kommt, die einem in den Dialogen zuweilen direkt oder indirekt vorgehalten werden. Das kann, je nachdem wie sehr man sich den Charakteren verbunden fühlt, sehr schmerzhaft sein, da man anhand der Knotenpunkte erahnen kann, dass vieles hätte anders laufen können, wäre man nicht so blind gewesen – oder hätte man sich ausnahmsweise gegen die Mantik gestellt. In diesem Moment fühlt sich Harmony: The Fall of Reverie an, als würde es das Motto leben: Die Zukunft zu wissen kann mächtig, aber auch eine enorme Belastung sein.

In späteren Akten verliert Harmony jedoch ein gutes Stück von seiner Magie. Vor allem im letzten Akt bringen die Entwickler die zuvor von ihren starken Charakteren lebende Geschichte zu einem Finale, bei dem auf einmal Esoterik und übermächtige Kräfte eine viel wichtigere Rolle spielen und eine Botschaft vermitteln, die nicht so richtig zum Rest passen mag.

Hübsche Visual Novel mit Tempo-Fehler

Wo die Mantik als erzählerisches Konstrukt durchaus spannend ist, ergibt sich an anderer Stelle durch die Implementation ein schwieriger Erzählfluss, denn jeder Knotenpunkt besteht in der Regel nur aus kurzen Sequenzen. Selbst die längsten Abschnitte überschreiten kaum die Fünf-Minuten-Marke, ehe man direkt wieder im narrativen Übersichtsskelett landet. Besonders bei spannenden Stellen kann das ganz schön stören, wenn
Schick anzuschauen ist Harmony auf jeden Fall, auch wenn sich einige Szenen wie für eine Visual Novel üblich oft wiederholen.
man nach nur wenigen Dialogen wieder rausgezogen wird, um eine Entscheidung zu treffen oder die nächste Szene zu wählen. Dadurch hemmt sich das Tempo selbst, was besonders auffällig ist, wenn man sowieso nur einen weiteren Knotenpunkt zur Auswahl hat: Hier wäre es angenehmer gewesen, wenn das Spiel diesen einfach automatisch wählen würde, anstatt eine manuelle Eingabe zu verlangen.

Bei einem Punkt gibt sich Don't Nod derweil kaum eine Blöße: Die Präsentation ist dem Entwickler sehr gelungen, sowohl in Sachen Optik als auch Sound. Die schick, aber nur bedingt animierten Schauplätze, die von einem stillgelegten Schwimmbad, welches als Zuhause von Pollys Familie dient, bis hin zu einer dystopischen Mittelmeer-Stadt und den visuell faszinierenden Orten der einzelnen Bestrebungen, sind ein echter Hingucker. Natürlich leidet Harmony ein wenig unter dem üblichen Punkt einer Visual Novel, dass sich viele Hintergründe oft wiederholen, aber langweilig wurde es nie. Das mag auch an den guten englischen Sprechern liegen, die den jeweiligen Charakteren weiteres Leben einhauchen. Eine deutsche Sprachausgabe gibt es allerdings nicht, lediglich die Texte wurden vollständig übersetzt.

Fazit

Harmony: The Fall of Reverie ist klassisch Don't Nod, und dann auch wieder nicht. Das französische Studio setzt typischerweise auf Entscheidungen und Konsequenzen, aber lässt mich diese viel stärker und viel offener einsehen. Dadurch ergeben sich ganz neue Überlegungen und während des Spielens stellte ich mir schon die Frage: Ist dieser Ansatz lohnenswert? Oder spielt es sich manchmal besser, wenn die Illusion einer Entscheidungsfreiheit gewährt wird und ich nicht schon vorher weiß, welche Konsequenzen die Entscheidung schlussendlich trägt? Fragen, auf die ich auch nach dem Durchspielen noch keine Antwort habe, denn noch steht Harmony für sich: Ein einzelnes, wenn auch faszinierendes Projekt. Mit überwiegend spannenden Charakteren, mit denen ich oft mitfühlen kann, und einer schön anzusehenden Optik – obwohl mich Visual Novels sonst eher selten abholen können. Schade nur, dass man sich gegen Ende hin ein wenig übernommen hat und offenbar unbedingt noch ein fulminantes Finale liefern wollte, obwohl es das meiner Meinung nach nicht zwingend gebraucht hätte.

Pro

  • spannende und vielschichtige Charaktere
  • wunderhübsche Präsentation
  • gute englische Synchronsprecher
  • Mantik als erzählerisches Narrativ ist spannend und ungewöhnlich
  • Zwang zu moralischen Überlegungen oder eiskalten Berechnungen
  • gute Quality of Life-Features, wie vergangene Dialoge erneut lesen zu können

Kontra

  • Erzähltempo wird ständig gehemmt durch das Zurückkehren zur Mantik
  • Story wird im finalen Akt viel schwächer
  • keine sonstigen Gameplay-Elemente
  • zu Beginn etwas erschlagend hinsichtlich von Informationen

Wertung

PC

Hübsche Visual Novel mit spannenden Charakteren und interessanten Story-Konzept, die aber ihr hohes Niveau nicht bis zum Finale halten kann.

Echtgeldtransaktionen

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  • Dieses Spiel ist komplett echtgeldtransaktionsfrei.
Kommentare
Resistanc3

Nachdem ich inzwischen Act 3 abgeschlossen habe, muss ich sagen, dass ich die relativ hohe Wertung nicht nachvollziehen kann. Das Spiel ist langweilig und damit maximal eine 5/10.
Diese Augural Funktion ist nicht nur erzählerisch wertlos, sondern oft eher sinnlose Beschäftigung. Man klickt auf einen Node "gehe schlafen" und dann kommt kurz ein Bild und da steht "ich schlafe schnell ein" und man ist wieder in der Übersicht und muss zum nächsten Node navigieren, und das sehr oft ohne, dass es irgendwelche Abzweigungen gibt. Das ist einfach nur schlecht... Dazu die lahme Präsentation. Da stehen sich zwei Figuren gegenüber und man ließt, dass die sich umarmen. Das hätte man ja durchaus visualisieren können, stattdessen immer die selben Standbilder und die immer gleiche Musik. Und die Story? Berührt mich überhaupt nicht. Uninspiriert und nicht im Ansatz emotional.
Gut, dass Don´t Nod etwas neues probiert haben, aber auch 10€ sind dafür noch zu viel. Kauft euch lieber ein gutes Buch...Harmony ist jedenfalls sehr weit weg von der Qualität eines Pentiment oder der Emotionalität anderer Don´t Nod Produktionen. Schade.

vor einem Jahr
Khorneblume

Für diesen Novel Fokus feier ich euch.

Das Spiel steht trotz der lediglich "guten" Wertung weiter auf meiner Wunschliste.

vor einem Jahr
Resistanc3

Gestern hatte ich mich gefreut...mal wieder ein Spiel, das unter dem Radar lag.
Don´t Nod haben mich bisher immer zumindest solide unterhalten, und da es das Teil für unter 10€ gab, hab ich direkt zugegriffen.
Nachdem ich gestern noch Act 1 Chapter 2 abgeschlossen habe, muss ich allerdings sagen, dass die Erzählweise für mich einfach nicht funktioniert. Das die Story noch komplett belanglos ist, liegt sicherlich an dem frühen Zeitpunkt, aber wie kommen die auf die Idee, dass es gut ist, in die Zukunft schauen zu können? Anstatt den Weg auszuwählen, den ich richtig finde, muss ich das machen, was mich zum Ziel führt, das ich erreichen will. Damit sind die Entscheidungen bereits vorher festgelegt. Was für eine blödsinnige Erzählstruktur...

vor einem Jahr