Harmony: The Fall of Reverie - Test, Adventure, XboxSeriesX, Switch, PC, PlayStation5
Aller Anfang ist Polly
Harmony: The Fall of Reverie beginnt erst einmal ganz gewöhnlich: Als Polly kehre ich viele Jahre später in die Heimat zurück: Atina. Eine Insel im Mittelmeer, die mittlerweile quasi im Besitz eines von im Kapitalismus getränkten Megakonzerns ist – Polizei, Krankenhäuser, Versicherungen, Schulen und so weiter stehen unter der Kontrolle von MK. Überall schwirren Drohnen in der Luft, die Gesichter scannen und verdächtige Gespräche aufnehmen; es soll ja schließlich niemand aus der Reihe tanzen – Orwell lässt grüßen, wenn auch längst nicht so ausgereift. Viel hat Polly davon nicht mitbekommen, denn sie verbrachte die letzten Jahre im Ausland, nachdem sie in ihrer Jugend immer wieder Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter Ursula hatte.Ursula ist jedoch der Grund, warum Polly doch noch einmal zurückkehrt, denn ihre Mutter ist plötzlich verschwunden. Alles was sie zu Hause noch findet ist eine auffällige Kette, die sie beim Anlegen auf einmal in eine Parallelwelt saugt: Reverie, die Heimat von götterähnlichen Bestrebungen, wie Seligkeit, Macht oder Bindung. In Reverie leben diese sonst für die Menschheit eher abstrakten und vielmals philosophischen Konzepte und greifen hier und da mal in der echten Welt ein, je nachdem wie es ihnen selbst beliebt.
Die Bestrebungen sind dabei optisch und charakterlich ziemlich genau so dargestellt, wie man es vermutet: Macht ist ein groß gewachsener, kräftiger Mann, der seine Emotionen nicht immer unter Kontrolle hat. Bindung wiederum ist eher ruhig und setzt stark auf die Beziehungen untereinander, während Seligkeit durchgängig eine absolute Frohnatur ist, die nichts mehr hasst, als Streit und Zwist. Und mittendrin sind wir als Polly, die aber in Reverie nicht sie selbst ist.
Story mit Plan
Wie und weshalb Reverie mit Atina zusammenhängt, was das Verschwinden von Pollys Mutter mit alldem zu tun hat und warum MK ein noch viel durchtriebeneres Spiel im Hintergrund treibt, klärt sich anschließend in der etwa sieben bis acht Stunden langen Geschichte. Eine Geschichte, deren Ausgang ich mit der Mantik selbst bestimme, zumindest ein Stück weit.Die Mantik ist das Netz hinter der Story von Harmony: The Fall of Reverie und symbolisiert das "in die Zukunft schauen" meiner Protagonistin. Mithilfe von Knotenpunkten und Verknüpfungen zeigen mir die Entwickler auf,
welche Auswirkungen meine jeweiligen Entscheidungen haben. Nie im Detail, oft nur vage und manchmal auch gänzlich versteckt, soll ich mir so nach und nach einen Plan schmieden, wie ich die Geschichte auf meine Art und Weise beeinflusse. Dabei sind die Entwickler sogar so offen, dass sie mir schon vorab verraten, welcher Knotenpunkt zu welchen Abzweigungen führt und welche Wege ich mir dadurch versperre, zumindest für das jeweilige Kapitel.Dieses Story-Skelett steht im Zentrum der ansonsten kaum vorhandenen Spielmechaniken von Harmony: The Fall of Reverie. Während ich in Life is Strange oder vergleichbaren erzählerischen Adventures oftmals spontan zwischen Entscheidungen wählen muss, ohne die Konsequenzen vorab zu erfahren, kann ich mir in Harmony fast schon einen Plan vorab zurechtlegen. Zumindest in der Theorie, denn ganz so simpel ist es dann doch nicht.
Knoten-Knabberei
Während manche Knotenpunkte, meistens nur zu Beginn eines Kapitels, frei auswählbar sind, benötigt man später oft eine bestimmte Anzahl von Kristallen der jeweiligen Bestrebungen. Die erhält man ebenfalls durch das Spielen von bestimmten Knotenpunkten, wodurch man schon nicht mehr ganz so frei in seiner Entscheidung wird. Denn will ich eine bestimmte Route in der Mantik einschlagen, muss ich mir vorher den einzelnen Weg ganz genau anschauen, um zu sehen, wie ich diesen Punkt überhaupt erreiche.Hier kommt dann die Tüftelei ins Spiel oder eher gesagt: Die moralischen Überlegungen. Es kann schließlich vorkommen, dass ich für einen bestimmten Punkt zuvor eine Entscheidung wählen muss, die ich sonst eher
nicht getroffen hätte, wenn mir der Ausgang unbekannt geblieben wäre. Treffe ich sie dann trotzdem, weil sie zu dem führt, wovon ich ausgehe, dass es das Richtige ist? Oder bleibe ich meinen eigenen Prinzipien treu und schlage trotz der sich mir offenbarten Zukunft einen anderen Weg ein, bei dem der Ausgang ein ganz anderer ist? Und was in späteren Akten passiert, kann man selbst mit der besten Hellseher-Fähigkeit nicht erfassen.Ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: Entscheide ich mich für den Weg einer bestimmten Bestrebung, damit ein befreundeter Charakter etwas unternimmt, von dem ich weiß, dass mich dies zwar meinem Ziel, das Verschwinden von Ursula aufzuklären, näher bringt, aber gleichzeitig dafür sorgt, dass sich dieser Freund im Anschluss betrogen, verletzt und benutzt fühlt?
Gefühlvolles Auf und Ab
Natürlich funktionieren diese Überlegungen nur, weil es Don't Nod mal wieder schafft, facettenreiche Charaktere zu zeichnen. Da wäre zum Beispiel Nora, die früher von Pollys Familie aufgenommen wurde und somit wie eine Art Schwester für Polly ist. Mittlerweile zur jungen Erwachsenen herangereift, ringt sie mit sich selbst, ob sie einen Job beim unsäglichen Konzern MK annehmen soll, um Geld zu verdienen und irgendwann studieren zu können, während sich ihre Gedanken zugleich sehr um das Verschwinden Ursulas drehen. Oder Jade, die ebenfalls noch junge Rebellin, die sich in Atina dem kapitalistischen Großkonzern entgegenstellt, von dem sie überzeugt ist, dass er die Menschheit vor Ort ausbeutet.Natürlich zählt auch Polly selbst dazu: Nach und nach erfahren wir, warum sie zu ihrer Mutter Ursula schon immer ein schwieriges Verhältnis hatte und warum sie vor vielen Jahren Atina hinter sich ließ, um Medizin zu studieren. Das wird auch zum Problem mit Yana, einer Person, zu der Polly einst romantische Gefühle hegte, die selbst Jahre später auf beiden Seiten noch nicht gänzlich verschwunden sind. Mitterweile arbeitet Yana für MK, was für brisante Momente sorgt, in denen man die Erinnerungen an die einstige Liebe nutzen kann, um an Informationen zu gelangen, aber eventuell damit die Hoffnung auf eine zweite Chance gänzlich in den Sand setzt.
In späteren Akten verliert Harmony jedoch ein gutes Stück von seiner Magie. Vor allem im letzten Akt bringen die Entwickler die zuvor von ihren starken Charakteren lebende Geschichte zu einem Finale, bei dem auf einmal Esoterik und übermächtige Kräfte eine viel wichtigere Rolle spielen und eine Botschaft vermitteln, die nicht so richtig zum Rest passen mag.
Hübsche Visual Novel mit Tempo-Fehler
Wo die Mantik als erzählerisches Konstrukt durchaus spannend ist, ergibt sich an anderer Stelle durch die Implementation ein schwieriger Erzählfluss, denn jeder Knotenpunkt besteht in der Regel nur aus kurzen Sequenzen. Selbst die längsten Abschnitte überschreiten kaum die Fünf-Minuten-Marke, ehe man direkt wieder im narrativen Übersichtsskelett landet. Besonders bei spannenden Stellen kann das ganz schön stören, wennman nach nur wenigen Dialogen wieder rausgezogen wird, um eine Entscheidung zu treffen oder die nächste Szene zu wählen. Dadurch hemmt sich das Tempo selbst, was besonders auffällig ist, wenn man sowieso nur einen weiteren Knotenpunkt zur Auswahl hat: Hier wäre es angenehmer gewesen, wenn das Spiel diesen einfach automatisch wählen würde, anstatt eine manuelle Eingabe zu verlangen.Bei einem Punkt gibt sich Don't Nod derweil kaum eine Blöße: Die Präsentation ist dem Entwickler sehr gelungen, sowohl in Sachen Optik als auch Sound. Die schick, aber nur bedingt animierten Schauplätze, die von einem stillgelegten Schwimmbad, welches als Zuhause von Pollys Familie dient, bis hin zu einer dystopischen Mittelmeer-Stadt und den visuell faszinierenden Orten der einzelnen Bestrebungen, sind ein echter Hingucker. Natürlich leidet Harmony ein wenig unter dem üblichen Punkt einer Visual Novel, dass sich viele Hintergründe oft wiederholen, aber langweilig wurde es nie. Das mag auch an den guten englischen Sprechern liegen, die den jeweiligen Charakteren weiteres Leben einhauchen. Eine deutsche Sprachausgabe gibt es allerdings nicht, lediglich die Texte wurden vollständig übersetzt.
Fazit
Harmony: The Fall of Reverie ist klassisch Don't Nod, und dann auch wieder nicht. Das französische Studio setzt typischerweise auf Entscheidungen und Konsequenzen, aber lässt mich diese viel stärker und viel offener einsehen. Dadurch ergeben sich ganz neue Überlegungen und während des Spielens stellte ich mir schon die Frage: Ist dieser Ansatz lohnenswert? Oder spielt es sich manchmal besser, wenn die Illusion einer Entscheidungsfreiheit gewährt wird und ich nicht schon vorher weiß, welche Konsequenzen die Entscheidung schlussendlich trägt? Fragen, auf die ich auch nach dem Durchspielen noch keine Antwort habe, denn noch steht Harmony für sich: Ein einzelnes, wenn auch faszinierendes Projekt. Mit überwiegend spannenden Charakteren, mit denen ich oft mitfühlen kann, und einer schön anzusehenden Optik – obwohl mich Visual Novels sonst eher selten abholen können. Schade nur, dass man sich gegen Ende hin ein wenig übernommen hat und offenbar unbedingt noch ein fulminantes Finale liefern wollte, obwohl es das meiner Meinung nach nicht zwingend gebraucht hätte.
Pro
- spannende und vielschichtige Charaktere
- wunderhübsche Präsentation
- gute englische Synchronsprecher
- Mantik als erzählerisches Narrativ ist spannend und ungewöhnlich
- Zwang zu moralischen Überlegungen oder eiskalten Berechnungen
- gute Quality of Life-Features, wie vergangene Dialoge erneut lesen zu können
Kontra
- Erzähltempo wird ständig gehemmt durch das Zurückkehren zur Mantik
- Story wird im finalen Akt viel schwächer
- keine sonstigen Gameplay-Elemente
- zu Beginn etwas erschlagend hinsichtlich von Informationen
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