Viewfinder - Test, Logik & Kreativität, PlayStation5, PC

Viewfinder
18.07.2023, Jonas Höger

Test: Viewfinder

Ich habe heute ein Foto für dich

First-Person-Puzzle-Spiele mit abgeschliffener Polygon-Optik sind in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen: The Witness, Superliminal und The Sojourn sind nur drei prominente Beispiele für einen Trend, der versucht, an den einstigen Erfolg von Publikums- und Presse-Liebling Portal anzuschließen. Auch Viewfinder schlägt in diese Kerbe und will mit eigenen Ideen und Perspektivspielchen aus der erwähnten Genre-Masse hervorzustechen: Mit Fotos die Realität verändern, Brücken bauen und Hindernisse aus dem Weg räumen, ist zumindest in der Theorie ein Ansatz, mit dem dies gelingen könnte. Wir haben uns die digitale Kamera geschnappt, sind durch die formbare Welt von Viewfinder geschlendert und schildern im Test, ob das Spiel einen Platz in eurem Fotoalbum verdient hat.

Viewfinder: Prickelnde Polaroid-Perspektiven

Learning by Doing: Damit ich zu der verlockenden Leinwand komme, muss ich eine der Holzbrücken überqueren und lerne dabei eines der wichtigsten Features des Spiels kennen.
Keine Tutorials, keine langatmige Intro-Sequenz: Der Einstieg von Viewfinder ist angenehm unmittelbar. Ich wache auf dem Balkon eines vollständig weiß gestrichenen Hauses auf, bei dessen Anblick ich zusammen mit dem strahlend blauen Himmel direkt an Fotos von Griechenland aus einem handelsüblichen Reiseführer denken muss. Weil ich mich aber nicht in einem Urlaub auf Santorin, sondern in der fiktiven Welt von Viewfinder befinde, habe ich nach wenigen Schritten eine Frauenstimme im Ohr, die mich an dem mir unbekannten Ort willkommen heißt.

Das erste Werkzeug, dass mir auf meiner rund siebenstündigen Reise durch die Rätselwelt von Viewfinder viel Ärger ersparen wird und dessen Anwendung ich genau wie alle anderen Mechaniken durch reines Ausprobieren lerne, ist das Zurückspulen. Auf meiner Erkundungstour durch die kleine Parkanlage des Ferienhauses will ich eine Brücke überqueren, die unter meinen Füßen in ihre Einzelteile zerbricht. Per Knopfdruck spule ich wie bei einer Videokamera vor den Zeitpunkt des Sturzes zurück und nehme einen anderen Weg, der mich zu einem Schwarz-Weiß-Foto führt.

Die Macht der Fotografie: Mit den Bildern kann ich in Viewfinder die Umgebung beeinflussen und so Schluchten überwinden oder Höhenunterschiede ausgleichen.
Von der Leinwand gepflückt, in der Landschaft platziert und die Spielwelt verändert: In Sekundenschnelle hat der Inhalt des Fotos die engen Papiergrenzen hinter sich gelassen und sich in der Realität materialisiert, um einen neuen Weg zu schaffen, an dessen Ende mich der erste von vielen Teleportern erwartet. Nicht immer ist die Lösung derart unkompliziert: Manchmal muss ich das Foto einer Hochhauswand als Treppe verwenden, um einen höhergelegenen Teleporter zu erreichen oder ein Bild des Himmels nutzen, um eine Wand vor mir verschwinden zu lassen, da das Positionieren eines Abzugs Objekte in der Spielwelt wie ein gigantischer Radiergummi einfach auslöscht.

Weil dabei viel schief gehen kann, etwa dann, wenn ich mit einem ungünstig platzierten Foto den einzigen Teleporter zerstöre und mir meinen Ausweg verbaue, kommt die leicht zu bedienende Rückspulfunktion wie gerufen. Die Mechanik des Fotos, mit dem ich die Realität von Viewfinder verändere und mich so Level für Level zur Lösung rätsle, ist simpel, aber unglaublich kreativ und sorgt schon in den ersten Minuten immer wieder für Überraschungsmomente. Nach und nach wird dieses Konzept mit frischen Elementen unterfüttert und verlangt neue Einsatzmöglichkeiten, wodurch sie sich im gesamten Spielverlauf nie abnutzt.

Ihre Kreativität stellen die Entwickler von Sad Owl Studios dabei auch mit verschiedenen Stilrichtungen zur Schau: Projiziere ich in den ersten Minuten noch ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotografien in die Landschaft, kommen schon bald Comicbilder mit dicken Linien, krisselige Skizzen oder handgemalte Gemälde zum Einsatz, die Viewfinder in ein künstlerisches Tohuwabohu verwandeln. Die Abweichung von den farblosen Fotos taucht auch später noch ab und an auf, aber gerade, weil mich die erste Begegnung mit den unterschiedlichen Kunstarten so geflasht hat, hätte ich mir noch ein bisschen mehr Spielereien damit gewünscht.

Mit Stil, ohne Stillstand

Warum auf einen Stil beschränken, wenn man mehrere nutzen kann? Auch optisch erfindet sich Viewfinder immer wieder neu und begeistert mit kuriosen Einfällen.
Genauso abwechslungsreich geht es auch bei den Rätselmechaniken zu. Ich kann die Fotos drehen oder in bestimmten Leveln mit einem Kopierer duplizieren und so miteinander zu architektonischem Wildwuchs kombinieren, um den begehrten Teleporter zu erreichen. Die vielen Anwendungsarten der Lichtbilder machen ungefähr die Hälfte der Rätsel aus und werden immer mal wieder temporär von neuen Ideen abgelöst, etwa wenn ich vor einer Ansammlung von Bildfragmenten die richtige Position einnehmen muss, um ein zusammenhängendes Werk entstehen zu lassen, das mir anschließend den Weg ebnet.

Für mehr spielerische Freiheit sorgt dann im weiteren Spielverlauf die Kamera, die mich eigene Fotos schießen lässt, wodurch ich nicht mehr an die herumliegenden Schnappschüsse gebunden bin. Mit dem Finger auf dem Auslöser verwandle ich Gehwege in Brücken, drehe auf dem Kopf stehende Schalter oder vervielfache Batterien, um Teleporter mit Strom zu versorgen. Damit ich nicht unbegrenzt knipse, haben die Filmrollen begrenzte Kapazitäten – oft reicht es nur für ein einziges Lichtbild, wodurch das Motiv gut überlegt sein will, oder ich die Rückspulfunktion bemühen muss.

Luftig-lockere Lernkurve und atemberaubende Attraktionen

Chaotisch wird Viewfinder oft, kompliziert eher selten: Die Rätsel wollen durch Kreativität begeistern, nicht durch Anspruch fesseln.
Während viele der Puzzle mich mit ihren brillanten Ideen begeistern konnten, hat das Knacken der Kopfnüsse nur selten eine wirkliche Herausforderung dargestellt. Die Bezeichnung „Style over Substance“ wäre Viewfinder gegenüber ungerecht, aber dass kreative Überraschungen und erfrischende Blickwinkel den Entwicklern wichtiger waren als wirklich anspruchsvolle Puzzle-Passagen, lässt sich nicht leugnen. Kaum eines der Rätsel hat mir wirklich Kopfzerbrechen bereitet oder mich mehr als wenige Minuten beschäftigt. Die Lösung liegt häufig auf der Hand, lässt sich dann aber glücklicherweise auch schnell in die Tat umsetzen – nichts ist schlimmer als Puzzle-Games, in denen ich in Sekundenschnelle weiß, was zu tun ist, und dann ewig an der Realisierung sitze.

Trotz der vergleichbaren Optik hat Viewfinder mit dem Anspruch von Jonathan Blows The Witness also wenig gemein und lässt sich eher bei Superliminal verorten, wo ebenfalls verblüffende Perspektivspielchen im Vordergrund stehen. Wer nicht gerne lange an vorliegenden Problemen knabbert, sondern lieber wie auf einer Kirmes von immer neuen Attraktionen überrascht wird, ist hier daher genau richtig: Viewfinder lädt zum Staunen und Entspannen ein, und überzeugt dabei auf ganzer Linie. Während des insgesamt ruhigen Spielflusses wird es nur dann etwas hektischer, wenn die Stromversorgung eines Teleporters durch eine Druckplatte ausgelöst wird, und dann nur wenige Sekunden für das Hindurchschlüpfen bleiben – und bei einem ganz bestimmten Level mit Zeitdruck, zu dem ich aus Spoiler-Gründen an dieser Stelle keine Details verraten möchte, das sich im restlichen Kontext aber zumindest spielerisch sehr deplatziert angefühlt hat.

Dass ich nach fast zehn Absätzen erst auf die Story zu sprechen komme, liegt daran, dass die in Viewfinder definitiv die zweite Geige spielt. Zwar gibt es ein narratives Framing, in das die Rätsel eingebunden worden sind, und das funktioniert vor allem zu Beginn erstaunlich gut: Schnell weiß ich, warum ich durch die ansehnliche, aber etwas künstlich wirkende Spielwelt wandere, und welchem Ziel ich mich Stück für Stück entgegen puzzle. Welches das ist, behalte ich an dieser Stelle für mich und lasse mich nur zu der Beschreibung „stimmig und unerwartet“ hinreißen. Im späteren Spielverlauf plätschert die Geschichte dann aber eher dahin, verstrickt sich oder verliert schlicht an Gewicht im Verhältnis zum Gameplay und reißt so letztendlich keine Bäume aus.

Story-Snack statt Schwergewicht

Wer mehr über die via Funkstimme vermittelte Rahmenhandlung erfahren möchte, sollte sich genau in der Spielwelt umschauen, wo zahlreiche Klebezettel, Notizen und Tonaufnahmen darauf warten, euch weitere Hintergrundinformationen zu kredenzen. Gedanken und Gespräche verraten mehr über die Charaktere und ihre Beteiligung an den Ereignissen der Geschichte. Einige sind interessant, andere belanglos, aber sie vermitteln zumindest glaubwürdig die Existenz der fiktiven Figuren und verankern sie innerhalb von Viewfinder, obwohl ihr keine von ihnen je zu Gesicht bekommt. Wer noch eine weitere Motivation für die Erkundung gebraucht hat: In jedem Kapitel gibt es ein paar gut versteckte Sammelgegenstände zu finden.

Obwohl die grundsätzliche Optik von Viewfinder stark an andere First-Person-Puzzle-Titel erinnert und auf Vergleichsbildern wohl nicht hervorstechen würde, ändert das nichts daran, dass ich bis zum Schluss mit Genuss durch die weißen Betongebilde, gespickt mit Topfpflanzen, Teppichen und Teetassen, geschlendert bin. Jedes Kapitel hat einen eigenen kleinen Bereich, in dem es zu den verschiedenen Leveln geht, und von dem jeder, trotz einiger Feinheiten, wie aus einem Guss wirkt. Darüber hinaus ist die Umgebung mit viel Liebe zum Detail gestaltet und lädt zum Verweilen ein, was angesichts der vielen Sitzmöglichkeiten jederzeit auf Knopfdruck möglich ist, angesichts der spaßigen Rätsel aber sinnlos erscheint.

Pittoreske Polygone

Bequeme Bänke, schattige Bäume: In den Ruheoasen von Viewfinder würde ich liebend gerne Urlaub machen. Rein optisch sind die erwähnten Stilbrüche aber nochmal interessanter.
Ansonsten kann die Präsentation vor allem durch die erwähnten Spielereien mit verschiedenen Stilrichtungen punkten, bei denen die sonst harmonische Identität von Viewfinder für einen kurzen Moment aus den Angeln gehoben wird, um mit Kinderkritzeleien, einer Pixelburg oder einem Cartoon-Canyon optisch beeindruckendes Chaos zu stiften. Musikalisch setzt man hingegen wieder ganz auf die Zen-Atmosphäre: Vogelgezwitscher, ab und zu ein sanftes Saxophon und pointierte Pianoeinlagen sorgen für auditive Entspannung. Für 24,99 Euro ist der kostengünstige Kurzurlaub ab sofort auf dem PC via Steam und der PlayStation 5 erhältlich.

Fazit

Sieben Stunden voller Überraschungen, so würde ich Viewfinder in einem Satz beschreiben. Nach dem unmittelbaren Einstieg, bei dem Gameplay und Entdeckerfreuden klar an erster Stelle stehen, erfindet sich das First-Person-Puzzle-Spiel immer wieder neu, verblüfft mit neuen Perspektiven, Ideen und Stilrichtungen. Obwohl es insgesamt an Herausforderung mangelt, ist das Lösen eines jeden Rätsels erfüllend, weil hinter der nächsten Ecke schon die nächste Puzzle-Freude mit neuem Konzept auf mich wartet und das bisher Erlebte mitunter wortwörtlich auf den Kopf stellt. Letztendlich sind es vor allem Kleinigkeiten, die Viewfinder hätte besser machen können: Ein bisschen mehr Stilspielereien, ein bisschen mehr Herausforderung, ein bisschen mehr Substanz bei der Story. Lasst euch von der zwar gelungenen, aber nichtdestotrotz generischen Optik deshalb nicht täuschen: Spielerisch ist Viewfinder ein besonderes Erlebnis.

Pro

  • Immer wieder erfrischende Mechaniken
  • Wirklich kreative Rätsel
  • Verblüffende Perspektivspielereien
  • Beeindruckende Vermischung von Stilrichtungen
  • Ansprechende Präsentation
  • Optionaler Sammelkram lädt zum Erkunden ein

Kontra

  • Story plätschert vor sich hin
  • Hintergrundinfos wirken häufig belanglos
  • Rätsel insgesamt eher zu leicht
  • Puzzle mit Zeitdruck passt spielerisch nicht zum Rest

Wertung

PlayStation5

Mit verblüffenden Perspektivspielchen und überraschenden Puzzlekonzepten erfindet sich Viewfinder immer wieder neu und sticht trotz schwacher Story und fehlendem Anspruch aus dem Genre hervor.

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Kommentare
Khorneblume

Schöner Test. Hat mir beim Anspielen auch viel Freude bereitet. Wird definitiv mal mitgenommen, wenn auch nicht sofort.

vor 10 Monaten
nawarI

Auf der PS5 gibt es eine Demo.
Über die Dauer der Demo hat mich das Platzieren der Fotos und der damit verbundene Wow-Effekt noch unterhalten. Im letzen Demo-Level bekommt man die Kamera, mit der man selber Fotos erstellen und platzieren kann. Da kann einem von den Möglichkeiten, die man plötzlich hat, schon schwindelig werden.
Einmal hab ich halt ein Foto einer Batterie gemacht, das Foto auf den Kopf gedreht, dass die Batterie so direkt auf der Schaltfläche gelandet ist. Das erinnert da an das Gefühl, wenn man bei Portal an Portal direkt über einem Schalter und ein Portal direkt unter einem Würfel setzt.
Spielfortschritt ist aber, dass man von einer Teleporter-Platform zur nächsten geworfen wird. Das ist dann eher wie wenn man von einer Testkammer zu nächsten gescheucht wird.
Ich mag solche Puzzel-Spiele und werde mir Viewfinder sicher mal holen, aber es zeichnet sich schon ab, dass Portal 2 die Königin unter den Puzzlern bleit

vor 10 Monaten