Die Story & das Spiel - Special, Sonstiges, PC, Spielkultur

Die Story & das Spiel
27.03.2006, Jörg Luibl

Special: Die Story & das Spiel

Über diese fundamentalen Fragen wird seit Jahren gestritten. Narrativität ist das zentrale Element der Weiterentwicklung unseres interaktiven Mediums - der Schlüssel zur kulturellen Relevanz, der Türöffner für Feuilleton-Redaktionsflure! Sagen die einen.

Story vs. Spiel - 1:1

Strukturen und Probleme interaktiven Storytellings



Ein Gastbeitrag von Martin Ganteföhr, House of Tales Entertainment



Brauchen Videospiele Stories?

Können Videospiele überhaupt Stories haben - und trotzdem Spiele bleiben?

Martin Ganteföhr ist Autor und Spieldesigner. Derzeit arbeitet er am Adventure Overclocked, das sich dem Thema Gewalt widmen wird.
Quatsch, sagen die anderen: Videospiele sind erstmal Spiele - und Spiele sind, mathematisch betrachtet, ein System aus Kombinationsmöglichkeiten, Zuständen und Regeln, mit dem Ziel des Gewinnens. Das Korsett einer Story zerstört die Freiheit des Spielers, und mit ihr den Wesensgehalt des Begriffs Spiel!

Das, liebe Freunde, muß auch weiterhin in anstrengenden Kneipendiskussionen erörtert werden. Für diesen Aufsatz reicht ein etwas simpleres Statement. Videospiele, oder bitte sehr: was man landläufig unter ihnen versteht - haben Stories. Inzwischen fast sämtlich. Man muß sich damit abfinden. Und versuchen, zu verstehen, wie sie funktionieren.

Tja. Wer hat hier recht?

Es stimmt natürlich: einen Roman kann man nicht gewinnen. Bekanntlich besiegt man auch keinen Film. Narrativität und Spiel scheinen in einem beinahe natürlichen antagonistischen Verhältnis zu stehen: Spiel impliziert Gewinnen und Verlieren. Narrative Erlebnisse dagegen lassen sich schlecht auf Skalen abbilden. Dem Erleben eines Konflikts zwischen zwei Charakteren (z.B. einem Streit zwischen mir und meiner Freundin) kommt man mit Gesundheitsbalken nicht recht bei. Ein dramatisches Erlebnis ist ein eigener, überaus komplexer Wert, der mit Gewinn und Verlust im Sinne eines Punktekontos nichts zu tun hat.

Wer eine Story im Spiel haben will, handelt sich also einen Haufen Probleme ein. Denn Narrativität braucht ein lineares, im weitesten Sinne kausales Rückgrat. Dieses Rahmenwerk beschränkt notwendigerweise die Freiheit des Spielers. Verkürzt könnte man sagen: Je mehr narrative Struktur, desto weniger Spiel - und umgekehrt.

Die offensichtliche Schnittstelle zwischen Story und Spiel ist das Gameplay. Ein Spiel braucht Gameplay, um ein Spiel zu sein. Story braucht es, um dem Gameplay Sinn zu stiften; um den inzwischen möglichen Fernseh-Realismus der Bilder mit Bedeutung, Relevanz und Ausdruck zu füllen. Und nicht zuletzt, um Alleinstellungsmerkmale zu schaffen, die sich nicht ohne weiteres von Ingenieuren nachbauen lassen.

Daß heutige Videospiele komplexer sind als der simple Antagonismus Story vs. Spiel es andeutet, liegt auf der Hand. Spiele beinahe aller Genres, vom Adventure bis zum Shooter, versuchen beides zu vereinen, oder zumindest in einen stetigen Rhythmus der Abwechslung zu bringen, der die beiden gegensätzlichen Prinzipien miteinander verträglich macht.

Aber wie soll das alles zusammengehen?

Spielbare Strukturen

Grundgedanke und Ziel allen interaktiven Storytellings ist es, die Story selbst "spielbar" zu machen; sie so in das Gameplay zu integrieren, dass sie ihm nicht nur nicht im Wege steht oder parallel dazu stattfindet, sondern es ergänzt, fördert, sich notwendig daraus ergibt. Das ist zumindest die Idealvorstellung.

Um narrative Inhalte aber überhaupt interaktiv gestalten zu können, ist es unerläßlich, sie als Strukturen zu betrachten. Ob die Strukturen von einer KI befüllt werden, oder von einem menschlichen Autor, kann dabei außen vor bleiben. Das Anlegen der Strukturen wird in jedem Fall von fundamentalen strukturellen Notwendigkeiten bestimmt. Und diese Strukturen zu schaffen, ist Aufgabe jedes Autors (oder KI-Programmierers), der im Bereich narrativer Spieles arbeitet.

Wer mit der Materie zu tun hat, sieht sich früher oder später zurückgeworfen auf die ganz grundlegenden Einsichten der Dramentheorie. Aristoteles. Drei-Akt-Drama. Alt, aber gültig. Man braucht's, und deswegen hat Aristoteles bis heute mehr Street Credibility, als mancher denkt.

Aristoteles (und andere)

Ausgehend von Aristoteles Dramenbegriff haben sich aber gerade im letzten Jahrhundert Theorien entwickelt, die mehr zum strukturellen Verständnis von Stories beigetragen haben als alles davor und vieles danach. Vladimir Propp untersuchte russische Volksmärchen und fand dabei grundlegende erzählerische Funktionen. Claude Levi-Strauss analysierte Indianermythen und arbeitete deren Aufbau heraus. Die Arbeiten der beiden gelten als wegweisend für die Analyse von Literatur und Film und als Grundlage der modernen Erzählgrammatik. 

                

Besonders interessant für narrative Videospiele ist der Ansatz von Levi-Strauss, denn ihn ihm manifestierte sich ein Element, das in gewisser Weise Interaktivität berücksichtigte: die Invariante. Denn Mythen, also mündlich überlieferte Geschichten, werden von Erzähler zu Erzähler "interaktiv" verändert. Etwas wird hinzufabuliert, etwas weggelassen, ein Detail verändert, ein Ereignis verschoben - Abweichungen, die den Kern der Story nicht berühren, aber dennoch sehr unterschiedliche Eindrücke bei ihren Zuhörern hinterlassen können.

 Mythos + Interaktivität = Narratives Spiel

Dieser Gastbeitrag ist Teil des Themas "Die Story & das Spiel". Weitere Essays findet ihr hier !
Levi-Strauss zerlegte jede Variante seiner Untersuchungsgegenstände in kleine, einzelne Bedeutungseinheiten, und faßte diese Teile in Kategorien und Überkategorien zusammen. Auf diese Weise konnte er nicht nur - erzählerübergreifend - die Struktur eines kompletten Mythos darstellen, sondern auch aufdecken, welche Muster, Funktionen und Beziehungen in den mündlichen Überliefungen bei jedem Erzähler immer wiederkehren, welche Bestandteile einer Geschichte also den "Kern" des Mythos ausmachen.

Stories in Videospielen bestehen aus interaktiv spielbaren Varianten einer Geschichte. Der Grad der Verzweigung, die Art der Konsequenzen, die Zahl und Natur der Einflussmöglichkeiten, und letztlich der Umfang der Gesamtstory, sind abhängig von den Strukturen, die das Spiel vorsieht. Stories in Videospielen sind also im weitesten Sinne der Levi-Strausschen Lesart genau das: Mythen.

Okay. Was das nun mit Videospielen zu tun hat?

Wie im Levi-Strausschen Mythos können Strukturen einer Videospielstory variieren, aber sie können nicht beliebig sein: Bestimmte Strukturelemente, die übereinstimmend in allen Varianten vorkommen, sind wichtig für die grundlegende Architektur der Geschichte - sie haben tragende Funktion, "gehören" gleichsam an ihren Platz. Das betrifft etwa die Kausalität: Entscheidende Abläufe müssen eine Reihenfolge haben, um dramatischen Aufbau zu ermöglichen: Etwa die Verschärfung des Konflikts zwischen zwei Charakteren. Die Ereignisse, die den Konflikt aufbauen, sind nicht in beliebiger Reihenfolge darstellbar. Wären sie es, verlören sie ihre Funktion. Ursache und Wirkung wären nicht mehr erkennbar. Die Struktur wäre geschwächt, letztlich verschwunden.

Ähnliches gilt für das dramatische Gewicht eines Ereignisses: Wenn an einer Stelle im Spiel zwei (oder mehr) Varianten die Handlung verzweigen, dann müssen die Varianten gleichwertig sein, d.h. dieselbe Funktion in der Gesamtdramaturgie erfüllen können.

Stirbt etwa aufgrund einer interaktiven Entscheidung des Spielers in einer Szene einer von zwei im Konflikt befindlichen Charakteren, so hat dies dramatisches Gewicht. Es ist der Höhepunkt dieses speziellen Konflikts. Folglich muß eine zweite Variante, die die den betreffenden Charakter überleben lässt, eine andere, ähnlich gewichtige Konsequenz haben. Andernfalls sind die Elemente der Struktur auf dieser Entscheidungsebene nicht mehr dramaturgisch gleichwertig, und der Spieler, der die "belanglosere" Entscheidung trifft, wird ein uninteressanteres, weil höhepunktärmeres, Spielerlebnis haben.

Nun ja. Gerade mit vielfach verzweigten Geschichten kann man sich als Autor (und auch als Script-Programmierer) schnell in Teufels Küche bringen. Denn je öfter die Strukturen einer Story verzweigen, desto schwieriger wird es, mit glaubwürdigen, und stets auf allen Ebenen dramaturgisch gleichgewichtigen Varianten aufzuwarten.

In Teufels Küche

Gut. Warum wird also nicht einfach auf Teufel komm raus verzweigt?

Vom Arbeitsaufwand (und Geldbedarf) mehrfach verzweigter Geschichten ganz zu schweigen: Die Zahl der zu erstellenden Varianten steigt exponentiell, je öfter Verzweigungen erfolgen. Fächert man einen Entscheidungsbaum für eine Spielstory sechsmal hintereinander in je zwei Pfade auf, so erhält man 64 Enden. Für jede Verzweigung muß Inhalt vorgesehen werden, und zwar so, dass jede Kombination im gesamten Verlauf des Spiels Sinn ergibt und dramaturgisch befriedigend ist.

Für Projekte mit limitiertem Budget (- und das sind heute leider ausgerechnet die stark narrativ orientierten Adventures -) ist gerade deshalb die oft geforderte "Multilinearität" einer Story außer Reichweite. Oder sie wird (wie in Fahrenheit) geschickt vorgetäuscht, indem scheinbare Entscheidungspunkte letztlich zu identischen Konsequenzen führen und den Spieler wieder auf einen Hauptstrang der Geschichte leiten.

Auch die Implementation von Gameplay in narrative Strukturen wirft große Probleme auf: Aufgrund seiner interaktiven Natur wartet ein Spiel in der Regel auf Eingabe des Spielers, was das Pacing, also das Erzähltempo, sehr stören kann. Eine als ergreifendes dramatisches Stakkato geplante Sequenz kann schnell und unschön in Belang- und Orientierungslosigkeit versaufen, etwa wenn der Spieler die falschen Entscheidungen trifft oder nicht über genügend Fertigkeiten verfügt, die betreffende Sequenz angemessen flüssig zu spielen.

Zudem steht jede Story still, bis der Spieler auf den nächsten Fortschritts-Trigger trifft. Das kann im Shooter zu ewigen Ballersequenzen ohne Sinn und Verstand führen; im Adventure andererseits drückt die nervige Suche nach dem übersehenen Inventory-Gegenstand auf die Storybremse. Um das Problem zumindest im Griff zu haben, zwängen viele Shooter ihre Story in Sequenzen am Level-Ende. Umgekehrt unterbricht ein Spiel wie Fahrenheit sein enorm story-orientiertes "interactive drama" mit weitgehend von der Handlung abstrahierten Mini-Spielen, um Gameplay-Intermezzi im klassischen Sinne zu bieten.

Überhaupt wird an der Schnittstelle Story/Gameplay am deutlichsten, wie problematisch die Quadratur des Kreises in der Praxis sein kann: Bei den oft als "rückständig" bezeichneten klassischen Adventures macht gerade die starke Narrativität die Variation und Innovation von Gameplay äußerst schwierig. Denn anders als in Spielen, die sich beim Gameplay auf eine generative KI verlassen können, erwartet man etwa von den Charakteren eines Adventures einen Grad an Intelligenz und Persönlichkeit, von dem auch das intelligenteste "Gegnerverhalten" der KI eines Actionspiels heute noch weit, weit entfernt ist. Wer je den überaus komplexen Vorgang eines Streits mit der eigenen Freundin erlebt hat, der weiß, dass die Intelligenz von "Gegnern" erst dann richtig zum Tragen kommt, wenn es gerade nicht um physische Angriffe, Mord und Vernichtung geht, sondern um das breite Spektrum subtiler, emotionaler, zwischenmenschlicher Situationen.

Ob aber Shooter oder Adventure: Immer dann, wenn das Dilemma Spiel vs. Story, Struktur vs. Freiheit, zu groß wird, dann sind Scriptsequenzen das dramatische Allheilmittel der Wahl. Wo sichergestellt werden muß, daß alle Spieler zur gleichen Zeit und in gleicher Zeit das gleiche dramatische Erlebnis haben, wird die User-Kontrolle entzogen und das Spiel läuft als Film. RemovePlayer(), PlayCinematic(). Diese Form des "Rückfalls in nicht-interaktive" Medien- und Erzählformen wird nicht zu Unrecht immer wieder stark kritisiert - dabei wird allerdings oft übersehen, daß Spieler gerade an Spiele, die die komplette narrative Kontrolle oft an sich ziehen, die stärksten inhaltlichen Erinnerungen haben.

RemovePlayer(), PlayCinematic()

So weit, so gut. Zur Halbzeit steht es bisher wohl 1:1 zwischen Story und Spiel. Wie es weitergehen wird, kann man nur vorsichtig einschätzen. Neue Wege zur Implementation von Erzählstrukturen werden sicher die nächsten Jahre bestimmen. Natürlich wird der primitive Strukturalismus, den ich hier vertrete, in interessantere Modelle weiterentwickelt werden. Vom "objektorientierten Storytelling" wehen hier und da schon mal einige Fetzen über den großen Teich, und Experimente wie "Façade" scheinen ebenfalls aussichtsreiche Schritte auf dem Weg zu generativeren Storytelling-Ansätzen zu sein.

Halbzeit

Bis dahin ist allerdings noch viel Zeit. Wir werden sie wohl oder übel mit verfeinerten klassischen Ansätzen totschlagen müssen. Und uns abends zu anstrengenden Gesprächen in der Kneipe treffen. Bis dann.

Martin Ganteföhr, House of Tales Entertainment

Literatur:



[1] International Hobo: Foundations of Interactive Storytelling (based upon the presentation 'Interactive Storytelling in Games: What it is, Why we need it, and How you do it' presented by International Hobo at Digital Media World 2001)

[2] Claude Levi- Strauss: Die Struktur der Mythen. In: Strukturalistische Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1981

[3] Daryll Wimberly, Jon Samsel. Interactive Writer's Handbook, Los Angeles1995