The Path - Special, Adventure, PC

The Path
20.04.2010, Benjamin Schmädig

Special: The Path

»Bei uns gibt es keine Space Marines, keine Ninjas und keine Zombies«, sagen Auriea Harvey und Michaël Samyn über ihre Spiele. Auriea und Michaël sind die Gründer von Tale of Tales - einer Entwicklerschmiede, die über den Tellerrand von Doom und God of War und Halo hinausblickt. Vor Kurzem feierten die Belgier das elfjährige Bestehen ihres Studios: Grund genug, den beiden Kreativköpfen auf den Zahn zu fühlen.

        Gemächlich humpelt die alte Dame über den grauen Schotter. Die Steine knirschen unter ihren Füßen, Vögel flattern an ihr vorbei, hohe Wolken ziehen langsam vorbei. Grabsteine weisen als stumme Zeitzeugen den Weg, eine kleine Kapelle versteckt sich zwischen schmalen Bäumen. Die Dame kommt an der Kapelle an, setzt sich auf eine Bank und dann kommen die Erinnerungen. Wehmütig singt eine Stimme - von ihrer eigenen Vergangenheit? Will ich in Erinnerungen schwelgen oder soll ich die Vergangenheit hinter mir lassen? Spielszenen aus »The Graveyard«

Direkt aus der Hölle

»Wir haben uns in der Hölle getroffen«, sagen Auriea und Michaël, wenn man sie zu den Anfängen von Tale of Tales fragt, »genauer gesagt in einem Künstlerkollektiv, das sich um die Webseite hell.com geschart hatte.« Denn eigentlich hatten die beiden nie vor, Videospiele zu entwickeln; ursprünglich nutzten sie den Computer zum Erstellen eigener Designs, erst später wollten sie Webseiten gestalten und sich ganz der digitalen Kunst widmen. Was sie inspiriert? »Maler, Bildhauer und Architekten.« Typische Anleihen an Bücher, Filme oder Musik spielten nur eine untergeordnete Rolle. Es ist die Offenheit, die Harvey und Samyn fasziniert - die Idee, dass Inhalte

Trafen sich in der "Hölle" und haben dann geheiratet: Die Belgier Michaël Samyn und Auriea Harvey suchen seit einigen Jahren nach neuen Ideen für interessantere Spiele.
keine geradlinige Handlung brauchen, sondern einzig vom Betrachter erschlossen werden.

        Ein Kerker? Was mache ich hier? Durch einen Gulli fällt Licht in mein modriges Verließ, am Boden sammeln sich riesige Pfützen. Wie Echos aus der Vergangenheit erzählen die Worte von Oscar Wildes »Salome« von meiner Tat. Wie ein Richterspruch stehen sie buchstäblich im Raum. Dann betritt ein verhüllter Mann den Raum - und schlägt mir mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Als ich wie ein Geist zu neuem Leben erwache, liegt mein Kopf vor den entblößten Brüsten einer geheimnisvollen Schönheit... Spielszenen aus »Fatale«

Über Quadratkilometer und Minispiele

Der Betrachter, das ist in den Spielen aus dem Hause Tale of Tales natürlich der Spieler. Er soll selbst entscheiden, welche Geschichte er erlebt; »Handlungsfreiheit« ist das zentrale Element, dem sich das Paar verschrieben hat. Dabei ist das Schlagwort beileibe keine Unbekannte - offene Welten gehören längst zum Alltag. Aber wenn Auriea und Michaël von Entscheidungsfreiheit reden, sprechen sie nicht von Quadratkilometern oder Minispielen. Unter Handlungsfreiheit verstehen sie nicht die Freiheit der Gliedmaßen, sondern die Freiheit der Gedanken. Denkende Menschen stehen bei ihnen im Vordergrund: »Während andere Entwickler Spiele zum Austoben und Spaß haben erschaffen, wollen wir Themen und Inhalte erforschen, die man in einem nicht-linearen Medium nur schlecht ansprechen kann. Uns geht es um Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt, um Situationen, in denen Gut und Böse nur schwer auseinander zu halten sind, um Geschichten ohne Enden, Rätsel ohne Lösungen.«

Dass ihre Welten auf den ersten Blick sperrig wirken, weil sie ohne Schauwerte auskommen und man sich ohne Missions-Doktrin auf die Suche nach Inhalten begibt, macht sie zu Nischentiteln. Es ist kein Zufall, dass »Avatar« als der bislang erfolgreichste Film in die Geschichte eingeht, obwohl der unbekannte »Hurt Locker« mit einem Oscar gewürdigt wird. Aber erst wenn sich Videospiele auch Themen abseits der Fingerfertigkeit widmen, werden sie sich als echtes Medium etablieren. So sehen es jedenfalls Michaël Samyn und Auriea Harvey.

»Weil wir Spiele lieben. Und weil wir Spiele hassen« - zum kompletten Interview mit Auriea und Michaël.

        Den Lärm der Großstadt lasse ich hinter mir. Motoren, Straßenbahnen, Flugzeuge klingen in weiter Ferne aus - hier zwitschern Vögel, während verträumte Sonnenstrahlen durch hohe Wipfel brechen. Der Weg zur Großmutter ist nicht weit und ungefährlich. Und trotzdem schweife ich ab, verliere mich in verwunschenen Nebeln, entdecke einen umgekippten Kinderwagen, einen verlassenen Spielplatz, folge einem geheimnisvollen Mädchen und entdecke plötzlich eine Bühne. Ein Freilichttheater auf einer hellen Lichtung. 

Fatale ist der aktuelle PC-Titel von Tale of Tales - ein tragisches Drama um verbotene Lust.
Und überall wo ich mich umsehe, blitzt eine Erinnerung  auf. Ich erschrecke mich, als mich die Person vor der Bühne plötzlich wie ein Wolf anfährt. Ich verstehe nicht, woher das Weinen kommt. Ich weiß nicht mehr, wo ich hin soll, wo ich herkomme... Spielszenen aus »The Path«

Der Weg als Ziel

Man sieht Geister, man hört Stimmen, man lauscht einer Melodie, man wird verängstigt, man liest, man forscht neugierig und: Man denkt nach. Die Rotkäppchen-Adaption The Path (zum 4Players-Test), ein mysteriöses Horrormärchen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Belgier Geschichten erzählen: Je nachdem, in welcher Reihenfolge er wohin geht und wann er was tut, öffnen sich jedem Spieler andere Nuancen. Der Name ist wörtlich zu verstehen, denn der Weg ist das Ziel. Wie beim Besuch einer Vernissage entstehen individuelle Bilder dessen, wovon das Spiel erzählen könnte. Könnte - denn noch heute grübele ich über die Bedeutung dieser Bilder, Worte und Musik. The Path spielt mit ähnlichen Motiven wie Shadow of the Colossus: Hat man die gigantischen Monster besiegt, schwebt eine traurige Melodie über das verlassene Tal. Hat man etwa etwas Böses getan? Ähnlich wie die Team Ico-Titel hinterlässt The Path einen jener Fußabdrücke, die große Produktionen unter millionenschweren Kulissen zerquetschen.

Sind die Belgier herkömmlichen Videospielen also gänzlich abgeneigt? Mitnichten! Sie haben ihr Geld in Spielautomaten versenkt, haben Doom, Tomb Raider und Myst gespielt. Aber irgendwann flaute die Faszination ab. »Gelegentlich haben wir ein Spiel gespielt, aber es war nicht unser Hobby. Und das ist es auch heute nicht. Es liegt nicht daran, dass wir keine Lust darauf haben. Es liegt nur daran, dass uns die Industrie nichts bietet, das uns interessiert.« Das Duo verweigert sich nicht den herkömmlichen Konzepten - immerhin waren Silent Hill, Shadow of Memories, Black and White sowie auch Ico Vorbilder dafür, wie man in einer dreidimensionalen Welt Geschichten erzählen und Charaktere erschaffen kann! Tale of Tales will aber einen Schritt weiter gehen: weg von der allgegenwärtigen kämpferischen Herausforderung, hin zum Ausnutzen der Videospiele als vielseitige Plattform. Weil es noch so viel mehr an den virtuellen Schauplätzen zu erleben gibt.

Eine von vielen Antworten

»Weil wir Spiele lieben. Und weil wir Spiele hassen«, antworten zwei belgische Entwickler auf die Frage, warum sie Videospiele machen. Zwei Entwickler, die im Kleinen beweisen, dass es in den Spielewelten mehr geben kann als Waffen und Endgegner. BioWare denkt laut darüber nach, wie ein Abenteuer ohne Gegner aussehen könnte - Tale of Tales hat eine von vielen Antworten parat.