Agricola - Special, Brettspiel, iPad, iPhone, Mac, PC, Spielkultur, Linux

Agricola
30.04.2010, Jörg Luibl

Special: Agricola

Zeitlos geniale Hofstrategie

Wenn sich ein Brettspiel vor Awards kaum retten kann und in internationalen Bestenlisten ganz weit oben steht, wird man natürlich neugierig: Was steckt hinter der Euphorie über ein Spiel, das auf den ersten Blick fast schon langweilig anmutet? Man ist doch bloß ein Bauer, der auf seinem armseligen Acker etwas anpflanzt und Tiere züchtet - und das auch noch im 17. Jahrhundert! Das kann doch nicht wirklich spannend sein! Oder gar besser als Die Siedler von Catan? Oh doch.

Agricola ist Aufbaustrategie für ein bis fünf Spieler ab zwölf Jahren. Es kostet zwischen 30 und 35 Euro und ist auch schon für zwei Spieler sehr empfehlenswert - selbst die Solitaire-Variante macht Laune.
Da steht man mit seiner Frau auf dem Acker und schaut auf eine karge Landschaft mit zwei armseligen Holzhütten. My home is my castle? Nicht im Jahr 1670 irgendwo in Mitteleuropa. Nachdem über Generationen Pest und Kriege wüteten, müssen viele Menschen von vorne anfangen - symbolisiert durch einen fast leeren Hofplan und zwei spartanische Rundhölzer.

Aller Anfang ist arm

Die Ausstattung von Agricola ist auf den ersten Blick ansehnlich, aber nicht gerade spektakulär: Einfach bedruckte Farbpläne, viele charmante Zeichnungen, hunderte bunte Karten und einfache Steine, außerdem hat man die Tiere figürlich dargestellt. Aber es versprüht zunächst eher pädagogischen Holzcharme als ein Wow-was-ist-da-alles-drin? wie etwa StarCraft - Das Brettspiel oder den Humor des Space-Artdesign à la Galaxy Trucker. Aber dafür ist die Liebe auf den zweiten Blick umso größer, obwohl alles klein und armselig anfängt.

Als Spieler startet man mit einem jungen Ehepaar und hat nicht mal genug zu essen für die erste Runde. Wie will man da eine Familie gründen? Der einzige potenzielle Reichtum: Das unbestellte Land in Form von fünfzehn Parzellen. 14 Jahre hat man Zeit, um eine ertragreiche Hofwirtschaft aufzubauen - danach wird abgerechnet, was zu zweit knapp eine Stunde dauert. Hört sich nach wenig Zeit an? Richtig: Das Leben rast in vierzehn Runden an einem vorbei und in jeder muss man lebenswichtige Entscheidungen treffen.

Es ist viel drin, aber ein normaler Tisch reicht: Zwar fehlen modellierte Figuren (lediglich die Tiere sind als solche zu erkennen), aber es gibt über dreihundert Karten und zig Spielsteine aus Holz. Die Anleitung ist verständlich und enthält eine Anfängerversion zum schnellen Reinschnuppern.
Das Problem sind zum einen die Nachbarn: Bis zu fünf Bauern können in diesem Spiel ab zwölf Jahren gegeneinander antreten, um am Ende die meisten Punkte zu ergattern. Und viele Wege führen zum Sieg, denn ein florierender Hof kann aus zig Elementen bestehen: Wie groß ist die eigene Familie? Wie viele Schafe, Kühe oder Rinder hat man am Ende? Wie viel Weizen und Gemüse hat man geerntet? Welche Qualität haben die Häuser - Holz, Lehm oder gar Stein? Wie viel Land hat man mit Zäunen oder Ställen bebaut? Hat man gar fortschrittliche Öfen, eine Schlachterei oder einen Brunnen angeschafft? Die Endabrechnung sorgt aufgrund der vielen relevanten Punkte für Spannung pur.

Aufbaustrategie der hundert Wege

Schon hier erkennt man, wie vielfältig die strategischen Möglichkeiten sind. Aber das Spiel ist trotzdem nicht so kompliziert, dass man sich erst Stunden einarbeiten müsste - es erklärt sich nach dem ersten Aufbau fast von selbst, denn es hat eine sehr klare Struktur: Rundenkarte legen, Rohstoffe bzw. Lebewesen auffüllen, Menschen zur Arbeit schicken und evtl. ernten. Agricola hat zwar im Jahr 2008 den Sonderpreis "Komplexes Spiel" bekommen, aber es ist wesentlich einfacher zu verstehen und logischer aufgebaut als ein Im Wandel der Zeit oder StarCraft - Das Brettspiel. Und trotzdem fasziniert seine offene Spieltaktik, die immer wieder für neue Spannung sorgt.

Aller Anfang ist arm: Man beginnt mit einem Ehepaar (zwei rote Spielsteine) in Holzhütten und hat auf dem Hof weder Pflanzen noch Tiere. Dafür hat man je sieben Ausbildungs- und Anschaffungskarten.
Was in der ersten Runde mit zwei Hütten beginnt, entwickelt sich mit der Zeit zu einem ansehnlichen Gehöft mit Weiden und fruchtbaren Äckern. Aber man kann nicht einfach so drauflos zeugen und bauen, denn das zweite Problem neben den Mitspielern sind die begrenzten Rohstoffe: Zum einen muss man zu jeder Erntezeit dafür Sorge tragen, dass man seine Familie auch ernähren kann - satte zwei Nährwerte braucht man pro Person! Und wer das nicht schafft, der muss eine Bettelkarte mit drei Minuspunkten ziehen, die in der Endabrechnung richtig weh tut. Gute Spieler knacken da zu Beginn höchstens die 30er-Marke.

Die Evolution des Bauernhofs

Zum anderen kann man nur dann Material wie Holz, Lehm, Schilf oder Stein sowie Tiere nach Hause holen, wenn es der Nachbar nicht schon stibitzt hat. Also achtet man mit Argusaugen auf das Angebot auf dem Markt in der Mitte des Spielfeldes und lässt seinen Bauer oder seine Frau dort arbeiten, wo man sich für die Zukunft auch Erträge erhofft.

Und dieser Markt der Möglichkeiten wird jede Runde um eine Karte erweitert, die quasi ein Jahr symbolisiert: Es kann sein, dass man plötzlich die Möglichkeit bekommt, Nachwuchs zu zeugen, seine Hütte zu renovieren oder einen Acker zu pflügen und gleichzeitig auszusäen - das sind quasi zwei wertvolle Arbeiten in einem. Eine wichtige Rolle spielt da natürlich die Reihenfolge: Es kann entscheidend sein, dass man als erster Bauer aktiv werden darf! Deshalb profitiert die Spieldynamik davon, dass man über eine Aktion auch den Startspielerstein an sich reißen kann; das ist die einzige fiese Handlungsmöglichkeit.

Aber schon bald wächst die Hofwirtschaft: Es kommen Schafe und Äcker für Getreide hinzu. Aber Vorsicht, denn zu jeder Erntephase muss man seine Familie ernähren - sonst gibt es Bettelabzug!
Für die Aufbaustrategie bedeutet das: Man muss manchmal kurzfristig umdenken. Der dümmste Bauer erntet die dicksten Kartoffeln? Nicht in Agricola, denn der Zufall spielt hier quasi keine Rolle. Man muss taktisch flexibel sein: Hat ein anderer Spieler das Holz abgeerntet, sollte man anstatt Zäune für die Schafe zu bauen vielleicht erstmal Korn zum Aussähen besorgen. Und während das Spiel läuft, wächst das Angebot: Neue Rohstoffe wie Steine oder wertvolle Tiere wie Rinder kommen erst in späteren Runden, danach werden sie aufgefüllt. Wenn sich also niemand für die Steine interessiert, stapeln sie sich und irgendwann kann ein schlauer Bauer fünf auf einmal abstauben!

Taktische Flexibilität

Das Geniale an Agricola ist auch die Simulation des Wachsens und Erntens: Wer Korn auf einem Feld aussät, legt drei gelbe Steine darauf. Danach darf man sich zu jeder Ernte einen Weizenstein nehmen - aber danach liegt das Feld brach. Pflanzt man Weizen also gleich auf einem anderen Feld an oder isst man es gleich auf? Oder investiert man in die Ausbildung seines Bauern zum Brauer, so dass man aus einem Weizen gleich drei Nährwerte für Bier schöpfen kann? Auch die Tiere pflanzen sich fort: Wer zwei Schafe auf einer Weide hält, bekommt irgendwann ein drittes. Und natürlich muss man sich fragen, ob und wie man es schlachtet. Schließlich kann man einfache Kochtöpfe anschaffen oder eine Schlachterei betreiben. Natürlich bringt ein Rind mehr Fleisch als ein Schaf&

Das sieht schon besser aus: Drei Familienmitglieder (jedes gibt am Ende drei Punkte), zwei Tierarten und sogar Getreide und Gemüse. 
Agricola wird je nach Spielerzahl (eins bis fünf; auch eine gelungene Solo-Variante ist möglich) immer gleich aufgebaut, es werden immer die gleichen vierzehn Rundenkarten und doch spielt es sich immer anders. Das liegt nicht nur daran, dass man seine Taktik an das Marktplatzverhalten der anderen Bauern anpassen muss - und natürlich wird es kniffliger und spannender, je mehr Bauern um die Rüben kämpfen. Es liegt aber vor allem daran, dass man vor jedem Spiel immer zufällig sieben von 169 (!) Ausbildungs- und 139 (!) kleinen Anschafffungskarten zieht. Und in der Fülle der Zusatzaktionen auf diesen Karten liegt eine weitere große Stärke des Spiels, die es langfristig weitaus motiverender und anspruchsvoller macht als etwa ein Die Siedler von Catan. Wie durchdacht diese Karten sind, zeigt sich auch daran, dass die Stapelzusammensetzung bei zwei, drei, vier oder fünf Teilnehmern angepasst wird - es gibt also spezielle 3-Spieler-Anschaffungen.

Fülle an Ausbildung und Anschaffungen

Da diese Karten ganz unterschiedliche Boni oder gar Siegpunkte bringen, muss man seine Baustrategie daran anpassen. Ein Beispiel: Man hat zu Beginn die Ausbildung "Emporkömmling", die dem ersten Spieler, der sein Haus renoviert pro Raum drei Steine bringt. Also sollte man so schnell wie möglich aus seiner Holz- eine Lehmhütte machen, indem man seinen Bauern auf dem Markt genau diesen Rohstoff holen lässt - da man seine Ausbildung offen auslegt, kann ein anderer Spieler das theoretisch boykottieren. Natürlich kann dieser einzige Zufallsaspekt von Agricola dafür sorgen, dass man denkbar ungünstige Startbedingungen hat und andere in einem Bereich im Vorteil sind. Aber das lässt sich meist über eine andere Strategie ausgleichen, zumal jeder unter seinen vierzehn Karten etwas Nützliches finden sollte.

Zwar hat dieser zeugungswillige Bauer nur Lehm- und keine Steinhäuser, aber dafür fast den gesamten Hof erblühen lassen - das gibt reichlich Punkte.
Andere Beispiele: Wer "Metzger" ist, kann jederzeit Tiere in Nährwerte umwandeln - eigentlich muss man dafür erst in eine Kochstelle investieren. Und wer "Liebhaber" ist, bekommt sofort Familienzuwachs, selbst wenn er keinen Platz hat. Es gibt sogar Karten, mit denen man auf andere reagieren kann: Wer "Häuptlingstochter" besitzt, kann diese ausspielen, sobald ein anderer Bauer "Häuptling" auslegt, um am Spielende drei Sonderpunkte für Steinhäuser zu bekommen. Interessant sind auch die Karten mit Perspektive: Wer "Holzlieferant" ist, darf auf kommende Rundenfelder Holz legen und dieses dann abernten.

Spachtel, Metzger, Häuptling

Das waren alles Ausbildungen, aber es gibt auch Anschaffungen: Die großen liegen für alle sichtbar und kaufbar zu Beginn des Spiels aus - da darf jeder zuschlagen, um Steinöfen oder Brunnen zu errichten. Zusätzlich erhält man sieben zufällige kleine Nützlichkeiten wie eine "Kornschaufel", die einem ein Getreide zusätzlich einbringt oder einen "Spachtel", mit dem man ohne Aktion renovieren kann. Schön und für die Spielbalance wichtig ist, dass die effektiven Anschaffungen erst dann ausgespielt werden können, wenn man eine bestimmte Anzahl an Ausbildungen vorzuweisen hat: Erst wer drei davon hat, kann sich z.B. den mächtigen "Furchenflug" anschaffen, um zwei mal drei Äcker auf einmal zu pflügen - dafür braucht man ansonsten drei Jahre bzw. Runden.

Als ich Agricola noch nicht kannte, schwebte es immer als komplexes Spiel für Experten in der Ferne. Auf meiner Liste der Brettspielwünsche stand es weit unten. Es sah einfach langweilig aus und das Thema Landwirtschaft sorgte im Gegensatz zu den vielen Auszeichnungen nicht gerade für Neugier. Mittlerweile bereue ich, dass ich so lange gewartet habe. Denn dieses Spiel rund um Felder, Wachstum und Ernte serviert ausgezeichnete Aufbaustrategie mit hohem Suchtfaktor - wir kommen kaum noch davon los. Es gibt anspruchsvolle Brettspiele, die irgendwann im Schrank verstauben, weil der Spaß vom Regelwerk aufgefressen wird. Hier frisst der Spaß das Zeitgefühl, denn in einer Stunde kann man aus zwei Hütten eine florierende Hofwirtschaft samt Großfamilie zaubern. Aber reicht das für den Sieg? Die Endabrechnung sorgt aufgrund der vielen relevanten Punkte für Spannung pur! Das Besondere an Agricola ist dieses komprimierte, überaus taktische und dabei angenehm offene Spielgefühl: Man muss innerhalb der relativ kurzen Spieldauer das Beste aus seinem Hof und seinen Karten rausholen, man muss flexibel auf Ereignisse oder Konkurrenten reagieren und als Bauer knallhart kalkulieren. Dabei ist das Spiel unheimlich logisch, fast schon selbsterklärend aufgebaut und dennoch weitaus facettenreicher in seinen Entwicklungsmöglichkeiten als ein Siedler von Catan. Uwe Rosenberg hat damit einen zeitlosen Klassiker geschaffen, der den Begriff German Board Game noch lange adeln wird. Hut ab, vor diesem genialen Spieldesign!    

Fazit

Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir haben keine Zeit für Verrisse. Das ist zunächst ein Angebot, das wir euch zusätzlich bieten. Deshalb konzentrieren wir uns auf die empfehlenswerten Vertreter und die kreativen Geheimtipps, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet.

Weitere Brettspieltests im Archiv: Galaxy Trucker, StarCraft - Das Brettspiel