Descent - Die Reise ins Dunkel - Special, Brettspiel, Spielkultur

Descent - Die Reise ins Dunkel
24.09.2010, Jörg Luibl

Special: Descent - Die Reise ins Dunkel

Wer erinnert sich nicht gerne an Hero Quest? Der Klassiker aus dem Jahr 1989 zauberte Fantasyfreunden ein Lächeln ins Gesicht: Man konnte als tapfere Heldengruppe zig Verliese plündern und dabei Monstern den Garaus machen. Sechzehn Jahr später erschien mit Descent - Die Reise ins Dunkel eine ähnliche, aber wesentlich umfangreichere und vor allem ungemütlichere Variante des Dungeon-Crawlers von Kevin Wilson, die bis heute rege erweitert wird.

Descent ist ein Dungeon-Crawler für zwei bis fünf Spieler ab zwölf Jahren. Erschien erstmals 2005 beim Heidelberger Spielverlag für knapp 45 Euro und wird bis heute erweitert.
Barbar, Zwerg, Alb oder Zauberer? Nein, das war anno dazumal in Hero Quest - und das ist doch keine Auswahl! In Descent geht es schon vor dem Abenteuer in die Vollen, denn in der Taverne "Zum Salzigen Hund" warten satte zwanzig Helden inkl. Charakterkarte und Plastikminiatur auf ihren Einsatz: Soll es "Ker der Graue" sein, der aus der Distanz ein Meister ist und als besondere Fähigkeit jederzeit seine Aktion anpassen darf? Oder "Runenhexe Astarra", die tödliche Zauber wirkt und Glyphen schon aus der Ferne aktiviert? Oder lieber ein Kraftprotz mit Axt wie der Ork "Mordrog", der nach jeder Wunde noch ausdauernder wird? Man sollte sich hier gut als Gruppe abstimmen, denn in den Verliesen warten 24 Monstertypen vom einfachen Skelett über Höllenhunde und Oger bis hin zu Hexenmeistern, Dämonen und Drachen.

Die Qual der Wahl

Je nach Vorlieben hat man genug Auswahl zwischen mehreren Arten von Kriegern, Magiern, Schützen oder Mischklassen, die sich in der ersten Mission dem Riesen Narthak und seiner Brut stellen sollen. Alle Helden und Monster unterscheiden sich hinsichtlich Lebenspunkte, Ausdauer, Bewegung, Rüstung und Fähigkeiten - und je mehr Würfel sie in den Bereichen Zauber, Fernkampf oder Nahkampf werfen dürfen, desto mächtiger sind sie. Gesellige Fantasyfreunde können auch Charaktere mit Begleittier wählen wie "Vyrah den Falkner" oder "Ronan", der einen Waschbären auf der Schulter trägt. Diese Gefährten können mal Gegenstände tragen, mal zusätzliche Würfel aktivieren, das Vorfeld erkunden oder wie Boggs die Ratte sogar verhindern, dass in ihrer Sichtlinie neue Monster entstehen - was sehr praktisch ist.

Welcher Held darfs sein? Zwanzig Recken stehen inkl. Plastikminiatur und Charakterbogen zur Auswahl.
Bis zu vier Helden können sich in neun Quests dem Overlord stellen, der als gemeiner Spielleiter Monster, Fallen und natürlich fiese Magie entstehen lässt. Ziel der tapferen Abenteurer ist es, mit mindestens einem Questmarker das Dungeon zu verlassen - denn die Helden sind beim Tod im Dungeon nicht permanent erledigt, sondern kehren mit ihrer kompletten Ausrüstung in die Stadt zurück, verlieren die Hälfte ihres Geldes sowie die Anzahl an Questmarkern, die sie wert sind: "Runenhexe Astarra" ist quasi nur zwei, "Trenloe der Starke" wiederum vier Punkte wert, weil er wesentlich mehr austeilt und einsteckt. Helden verlieren aber auch dann die wichtigen Marker, wenn der Kartenstapel des Overlord einmal durch ist.

Kollektive Lebenspunkte

Die Gruppe hat also je nach Zusammensetzung mehrere Versuche die Mission zu meistern und muss den Vorrat an Questmarkern, die man sich wie kollektive Lebenspunkte vorstellen kann, im Auge behalten. Erhöhen kann man diesen immer dann, wenn man im Dungeon die für Teleports nützlichen Glyphen aktiviert oder sie in Schatztruhen findet. Aber das ist kein Freifahrtschein für Harakiri oder lebensmüde Selbstmordattentäter: Zu Beginn eines Abenteuers haben die Helden meist nur fünf Questmarker - wenn da zwei Helden mit dem Wert von drei sterben, bevor man tief genug ins Dungeon vorgedrungen ist, um Glyphen oder Schätze zu finden, ist es endgültig aus. Erkundung ist also Pflicht!

Erinnerungen an Hero Quest werden wach: Mit über 60 Spielpanteilen kann man auch eigene Dungeons entwerfen.
Aber nicht nur die Helden müssen haushalten, auch der scheinbar übermächtige Spielleiter, der den Overlord übernimmt - und genau das macht das Spiel auch für ihn so interessant, was Taktik und Bosheiten angeht: Er bekommt so genannte "Drohmarker", mit denen er zusätzlich zu den für das Dungeon vorgesehenen Monstern weitere einsetzen oder Machtkarten für Ereignisse, Fallen und Zauber nutzen kann. Man kann also nicht beliebig Drachen beschwören oder Feuerwände durch den Kerker jagen, denn jede Aktion kostet etwas und will wohl überlegt sein. Will man für eine explodierende Tür neun Drohmarker ausgeben? Oder lieber eine andere der bis zu acht auf der Hand befindlichen Bosheiten?

Die Macht des Overlord

Wer einen Trupp Tiermenschen beschwören will, muss vier Drohmarker ausgeben. Wer Felsentrümmer auf ein Feld regnen lassen will, ist mit sieben dabei. Wer einen Helden in einen Affen verwandeln will, muss elf bezahlen - ohne Garantie auf Erfolg, denn es gibt einen Rettungswurf. Und eine kleine Armee aus zwei Tiermenschen, zwei Skeletten und zwei Mörderspinnen kostet z.B. achtzehn Drohmarker. Wie bekommt der Overlord neue? Er zieht immer zwei Machtkarten zu Beginn seines Zuges, kann vorhandene gegen ihren Drohwert eintauschen oder über Flüche in Schatztruhen an sie kommen. Und die Helden haben immer Blick, ob der Herr der Kerker gerade flüssig ist, denn die Marker liegen offen aus und er darf beschworene Monster nie in der direkten Sichtlinie platzieren - da kann man sich also taktisch klug postieren.

      

Die farbige Anleitung erklärt mit anschaulichen Beispielen das Kampfsystem.
Wie läuft der Kampf im Dungeon ab? Auf den ersten Blick fast genauso wie in Doom - Das Brettspiel, denn Autor Kevin Wilson zeichnet auch diesmal verantwortlich. Die Helden können in ihrem Zug entweder rennen (doppelt so weit gehen), kämpfen (stehen bleiben und zweimal attackieren), vorrücken (gehen und einmal attackieren) oder die Alarmbereitschaft aktivieren, die wiederum vier taktische Befehle nach sich zieht, die man als Plättchen neben seinen Helden legt: Man kann zielen (beliebig viele eigene Würfel nochmal werfen), ausweichen (Overlord muss beliebige Würfel neu werfen), ausruhen (Ausdauer auf Maximum) oder absichern (während des Zuges des Overlords darf der Held das Monster angreifen noch bevor es zuschlägt - sehr hilfreich!).

Die richtige Taktik

Bevor man ein Monster attackieren oder gar auf einen Schlag ins Jenseits schicken kann, muss man allerdings eine direkte Sichtlinie nachweisen und die Reichweite bestimmen, wenn man nicht gerade direkt neben einem Feind steht. Zauberer und Schützen zählen die Felder bis zum Ziel und müssen mit ihren Würfeln entsprechend viele Ziffernsymbole werfen. Haben sie das erreicht, wird der Schaden in Form der gewürfelten Herzen oder zusätzlichen Machtsymbole gezählt - hier kommt auch die Ausdauer ins Spiel: Jeder Held darf zusätzlich zu seinen Angriffswürfeln so viele Machtwürfel werfen wie er Ausdauerpunkte ausgeben will. Er kann sie auch für zusätzliche Aktionen ausgeben, denn auch das Übergeben von Waffen, Einnehmen von Tränken, Einkaufen, Öffnen oder Ausrüsten kostet in Descent wertvolle Bewegungspunkte.

Monster für alle Fälle: Weiß die normalen, rot die elitären Feinde mit höheren Werten.
Zurück zur Angriffsermittlung: Der resultierende Wert wird von der Rüstung des Feindes abgezogen - alles was übrig bleibt, tut weh und macht Schaden. Hat ein Monster keine Lebenspunkte mehr, wird es vom Feld genommen und bei roten Elite-Kreaturen erhält der Held sogar direkt ein Kopfgeld. Hört sich einfach an? Ist es auch, aber hier kommen je nach Monster und Held mehr Feinheiten und Regeln ins Spiel als etwa in Doom: Es gibt Boni für Zweihandwaffen, Direktschaden bei Auren, Betäubungen und Vergiftungen, Stöße und Durchbohrungen, Explosionen und Feueratem, Rundumschläge und Furchteinflößungen, Netze und Verbrennungen.

Die Mathematik des Schadens

Wer in Descent regelfest sein will, muss die 23-seitige Anleitung sehr sorgsam studieren, denn sonst blättert man während eines Abenteuers immer wieder darin sowie im eigentlichen Abenteuerheft herum - ärgerlich, dass es keinen Spielleiterschirm mit den wesentlichen Tabellen und Werten gibt! Hat man aber die ersten zwei, drei Quests mit Freunden gespielt, stellt sich endlich eine Routine ein. Jede Quest wird in einem separaten Heft ausführlich vorgestellt: Dort bekommt man neben der Grundaufstellung des Dungeons samt aller Monster, Schatztruhen und Fallen auch die Texte, die man an bestimmten Stellen vorlesen muss. Und die können Erinnerungen an nostalgische Kerkertage wecken:

Die Charakterkarte zeigt nur die Anfangswerte der Helden - man kann sie schon während der Missionen entwickeln.
Man sollte die neun Quests des Basispiels wie in einer Kampagne möglichst nacheinander spielen. Das hört sich vielleicht nicht umfangreich an, aber jedes dieser Abenteuer hat es in sich, was Anspruch und Zeit angeht - erstens werden unvorsichtige Gruppen nicht auf Anhieb lebend aus den Dungeons kommen, zweitens können selbst gescheiterte Versuche zwei bis drei Stunden dauern. Dabei halten sich die Rätseleinlagen in den vorgefertigten Abenteuern in Grenzen: Mal muss man einen Schlüssel finden, mal einen Hebel bedienen. Aber es geht in erster Linie um Kampf, Kampf und nochmal Kampf. Man hat also viel zu tun, aber kann seine lieb gewonnen Helden schon während und auch nach der Schlacht weiter entwickeln.

"Eine alte Steinsäule ist hier in ein Wasserbecken gestürzt und Spinnenweben überziehen den Boden. Die Decke in großer Höhe ist kaum zu erkennen. Leise Flatter- und Kratzgeräusche dringen aus der Dunkelheit."

Eine lange Kampagne

Zum einen findet man in den Schatztruhen vielleicht Fertigkeitskarten oder eines der vier seltenen Relikte wie das Lichtschwert, die den Helden auf Anhieb viel stärker machen - da braucht man natürlich Glück. Oder man reist über die Glyphen schnell in die Stadt, um sich beim Schmied mit einem Kettenhemd, einer besseren Axt oder den wichtigen Tränken einzudecken. Das Schöne ist, dass man schon innerhalb einer Quest trotz des nahezu reinen Hack&Slays eine Entwicklung wie in einem guten Rollenspiel spürt, die man danach weiterführen kann: Für bestandene Quests gibt es Geld, das man in Trainingsmarker investieren kann, um den Helden gezielt in einem Bereich zu stärken. Ausführlicher und konsequenter wird das Thema Entwicklung in der ersten Erweiterung "Wege zum Ruhm" angegangen. Aber man kann die reichliche Ausstattung von Descent natürlich für eigene Rollenspielzwecke oder auch Pen&Paper-Szenarien nutzen: Die Labyrinthe sind ja modular aufgebaut und die Bodenplatten erlauben riesige Dungeonstrukturen - hinzu kommen Gruben, Pfützen, Trümmer, Treppen, Türen und zig Effekt- sowie Schatzmarker. Nicht zu vergessen all die gut modellierten Plastikfiguren, die man auch bemalen kann. Man bekommt also sehr viel Material für den Preis, wobei die Würfel leider unter Abnutzungserscheinungen leiden: Bei manchen werden die eingestanzten Herzen schnell farblos.

 Ihr wollt etwas spielen wie Hero Quest? Nur umfangreicher, spannender und tödlicher? Dann kann ich Descent wärmstens empfehlen. Es ist quasi das für Fantasyfans, was Doom - Das Brettspiel für Science-Fiction-Fans ist: Ein Dungeon-Crawler alter Schule mit taktischem Kampfsystem! Aber genau so üppig wie die Ausstattung, die mit 20 Helden- und 60 Monsterfiguren sowie hunderten Karten und Plättchen protzt, ist auch die Anleitung. Hier kann man nicht mal schnell einsteigen und loslegen, man muss vor allem als Spielleiter regelfest sein, damit die Erkundungen der Verliese flüssig laufen. Hat man erstmal die Routine, ist dieses Abenteuer eine spannende Herausforderung für tapfere Helden, die sich auf der Suche nach Schätzen und Artefakten einen kollektiven Lebenspunktepool teilen, den der fiese Overlord mit seinen Monstern, Fallen und Zaubern trocken legen muss - es entbrennen hitzige Kämpfe um jeden Meter! Wer mehr Rollenspielflair sucht als in den neun vorgefertigten Abenteuern, entwickelt einfach eigene Quests sowie Rätsel und lässt die Helden an einer langfristigen Karriere feilen. Ach ja: Ihr braucht einen großen, einen verdammt großen Tisch...

Fazit

Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir haben keine Zeit für Verrisse. Das ist zunächst ein Angebot, das wir euch zusätzlich bieten. Deshalb konzentrieren wir uns auf die empfehlenswerten Vertreter und die kreativen Geheimtipps, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet.

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