Im Wandel der Zeiten - Special, Brettspiel, Spielkultur

Im Wandel der Zeiten
16.11.2010, Jörg Luibl

Special: Im Wandel der Zeiten

Kann der Aufbau einer Hochkultur ohne einen Mausklick Spaß machen? Kann die Vollendung eines Wunders auch ohne das letzte Polygon befriedigend sein? Bei Pegasus ist vor zwei Jahren ein historisches Brettspiel erschienen, das an den Charme von Civilization erinnert, wenn man sein Volk von der Antike bis in die Moderne führt. Der kreative Kopf dahinter gehört einem Tschechen namens Vlaada Chvatil, der uns bereits mit Galaxy Trucker begeistern konnte. Und auch diesmal gelingt ihm ein zeitlos gutes Spieldesign.

Das historische Strategiespiel für zwei bis vier Nationen erscheint bei Pegasus Spiele und kostet zwischen 30 und 40 Euro.
Das hört sich einfach an: Jeder Spieler sucht sich eine von vier Farben aus und startet mit seinem Volk in der Antike. Ziel ist es, spätestens am Ende von vier Zeitaltern die meisten Kulturpunkte zu besitzen, die sich aus verschiedenen Teilen ergeben - z.B. aus dem wissenschaftlichen Fortschritt, dem Glück der Bevölkerung oder der militärischen Stärke. Schon hier deutet sich nicht nur die Komplexität des Spiels an, denn es führen je nach eigener Strategie im Aufbau immer mehrere Wege nach Rom bzw. zum ersten Raumflug in der Moderne. Auch die Verwandtschaft zu Sid Meiers Computerspiel ist unverkennbar, zumal der Designer sogar als Anführer auftaucht. Eine sympathische Hommage des Tschechen, aber es gibt auch klare Unterschiede.

Hommage an Civilization

Im Gegensatz zum virtuellen Civilization kann man sich zu Beginn keine Nation mit speziellen Eigenschaften aussuchen und es gibt auch keine Erkundungsphase, in der Siedler nach einem idealen Platz für die erste Stadt suchen. Dieser territoriale Aspekt fällt hier komplett weg, zumal es keine klassische Weltkarte mit Kontinenten gibt. All das hat mich als Fan von Sid Meiers Strategie zunächst sehr skeptisch gemacht, denn mit einem anonymen Volk ohne eigenes Land muss vieles im Kopf passieren. Zu viel? Wer die Box auspackt, findet ja keine illustrierte Spielwelt oder modellierte Figuren, sondern nur 341 zivile und militärische Karten, hunderte farbige Steine und einige Pläne.

Neben einem großen Spielplan sind enthalten: 341 Karten, 315 Steine, vier Zivilisationsbretter und Übersichtstafeln.
Man breitet zunächst einen großen Spielplan aus, der zum einen den Fortschritt der Zivilisationen in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Militär festhält: Dort verschiebt man kleine Steine in seiner Farbe - wer z.B. ein Theater baut, bekommt zwei Kulturpunkte und rückt vor. Zum anderen dient dieser Plan quasi als historische Sanduhr: Hier rieseln die Ereignisse, Persönlichkeiten, Staatsformen, Wunder und Technologien des jeweiligen Zeitalters in eine für alle sichtbare blaue Leiste. Je nach Spielerzahl hat man so immer eine Auswahl von elf bis dreizehn Karten, die man für seine Zivilisation ergattern kann.

Keine klassische Weltkarte

Und auf ihnen entdeckt man dann je nach Zeitalter historische Illustrationen von Kolumbus bis Robespierre, vom Petersdom bis Hollywood. Trotzdem ist das Grafikdesign eher schlicht und zweckmäßig als üppig, denn Zahlen, Werte und Fakten stehen im Vordergrund eines Spiels, das nicht auf den ersten Blick begeistert - es gibt kein euphorisches "Wow, was ist da alles in der Box!" wie z.B. bei Descent oder StarCraft. Aber dafür entfaltet es auf den zweiten Blick eine Tiefe, in der sich vor allem Strategen mit Lust auf wirtschaftliches, kulturelles und politisches Management verlieren können. Und wer Civilization aufgrund seiner offenen Entwicklung liebt, die geduldige Spieler belohnt, wird sich auch hier pudelwohl fühlen.

Der nackte Spielplan: Es gibt keine klassische Weltkarte mit Kontinenten, sondern eine universelle Übersicht für den Fortschritt sowie die aktuelle Epoche.
Zu Beginn haben alle Spieler identische Voraussetzungen hinsichtlich Gebäude, Produktion, Bevölkerung und Regierungsform - dieser Status quo wird von einem Zivilisationsbrett symbolisiert, das jeder vor sich liegen hat. Und genau da lenkt man seinen Staat: Da ist zu sehen, dass man sich noch ohne Anführer im düsteren Despotismus befindet und gerade mal ein Labor, einen Tempel, eine Farm, eine Mine und einen Krieger erforscht hat. Außerdem hat man eine anfängliche Bevölkerung in Form von 25 gelben sowie Nahrung bzw. Rohstoffe in Form von 18 blauen Steinen. Die spannende Frage ist: Was macht man daraus? Welche Anführer wählt man aus? Wo steht man, wenn das Mittelalter oder die frühe Neuzeit naht?

Bauen, ernten, wachsen

Im Laufe des Spiels kann man aus der Bevölkerung weitere Arbeiter rekrutieren, die dann auf das entsprechende Gebäude, das Feld, die Mine oder zum Militär wandern. Je nachdem wo sie eingesetzt werden, wird natürlich unterschiedlich produziert: Will man sich auf seine Landwirtschaft konzentrieren, damit man mehr Nahrung erntet und das Volk wächst? Oder auf die Minen, damit die Rohstoffe für den Bau neuer Gebäude ausreichen? Und wann sollte man die Minentechnologie auf die nächste Stufe bringen, damit weniger Arbeiter mehr produzieren? Man könnte auch die Armee stärken, aber die spielt zu Beginn noch keine große Rolle - was der Spielbalance sehr gut tut, denn so kann man seine Zivilisation ohne Überfallangst erstmal aufbauen.

       

Die eigene Zivilisation: Oben die erforschten Technologien und Gebäude sowie das Militär, darunter die blauen und gelben Bereiche für Nahrung und Bevölkerung; rechts die Staatsform.
Wichtig ist nur: Je mehr Arbeiter man aus der Bevölkerung rekrutiert, desto mehr Nahrung verbraucht man. Je mehr Nahrung bzw. Rohstoffe man verbraucht, desto größer wird die Gefahr der Korruption. Und je öfter man seine Bevölkerung erhöht, desto unzufriedener werden die Arbeiter - hat man genug in Kultur und Religion investiert, um das mit Glück auszugleichen? Man kann also nicht einfach maßlos in die eine oder andere Richtung wachsen, denn dann entstehen Engpässe. So gerät man schon in den ersten Runden der Antike in ein angenehmes Grübeln, in welche Richtung man sich am besten entwickelt. Zwar verlangt das Verschieben der gelben und blauen Steine zunächst einiges an Konzentration und Regelfestigkeit, aber es ist nach ein paar Übungen nachvollziehbar, weil die negativen Auswirkungen ein Teil der Illustration sind.

Der Kreislauf der Wirtschaft

Die Spannung steigt immer in der ersten Runde eines Zuges, wenn es um den Erwerb der Zivilkarten geht. Dann blickt man neugierig auf die Kartenreihe mit all dem, was man sich so kaufen könnte, um seine Zivilisation erfolgreicher zu machen - und gleichzeitig blickt man argwöhnisch zu seinem Mitspieler, denn der könnte einem ja eine Technologie oder gar ein exklusives Wunder wie die Hängenden Gärten oder den Koloss vor der Nase wegschnappen. Jedes Zeitalter hat sein eigenes Kartenset mit historischen Merkmalen, aber davon darf man auch nur eine bestimmte Zahl auf der Hand haben. Und eine Phase wie das Mittelalter währt mit ihren Angeboten an Persönlichkeiten und Technologien nicht ewig: Erstens werden jede Runde ein paar Karten ausgetauscht, zweitens steht irgendwann ein Epochenwechsel vor der Tür und ein neues Kartenset wird ausgelegt - es ist also immer historische Bewegung im Spiel.

Wer wird Anführer? Schon in der Antike sollte man sich gut überlegen, wer an der Spitze des Staates steht.
Grübel, grübel: Wie wäre es mit einem Anführer der Marke Hammurabi? Er gewährt immerhin eine weitere zivile, aber raubt mir eine militärische Aktion. Oder doch lieber Moses, der das Bevölkerungswachstum vergünstigt? Eine bessere Minentechnologie wäre auch nicht schlecht. Oder ein Tempel, der die Bevölkerung glücklicher macht? Vielleicht eine neue Regierungsform wie die Monarchie? Aber dann wird es eine Revolution geben - also eine komplette Runde aussetzen? Nein, ich baue lieber frühzeitig ein Wunder, und zwar die Pyramiden: Das braucht zwar ein paar Runden bis zur Fertigstellung, aber danach habe ich endlich eine Extra-Aktion zur Verfügung! Und es kann ein Vorteil sein, wenn man in seinem Zug mehr entwickeln, bauen oder verbessern darf als der Gegner.

Moses oder die Pyramiden?

Da liegen die Pyramiden endlich neben meinem Spielplan: Und spätestens jetzt entstehen doch Bilder im Kopf und auf dem Tisch, denn sobald man neue Gebäude oder Anführer anlegt, wächst das eigene Reich auch optisch - später legt man Koloniekarten und Universitäten, Labore und weitere Wunder an. Hoffentlich habe ich mich mit dem ersten Wunder nicht übernommen, denn es kann auch einen Baustopp geben, wenn man mit den Rohstoffen nicht nach kommt. Wer nicht aufpasst, kann es neben den horrenden Kosten für die Korruption auch mit einem Aufstand zu tun bekommen: Zu viele unglückliche Arbeiter sorgen dafür, dass man die eigene Produktions- und Versorgungsphase überspringen muss - dann geht nichts mehr im Land! Man kann gezwungen sein, bestehende Gebäude wieder einzureißen. Das ist natürlich ärgerlich, lässt sich aber durch weise Planung verhindern. Aber was ist bloß wichtiger?

Auch die Staatsform ist wichtig, denn sie bestimmt, wie viele zivile (weiß) und militärische (rot) Aktionen man hat und wieviele Gebäude eines Typs (grau) man bauen darf: Im Despotismus z.B. max. zwei Labore.
Nicht verhindern lassen sich die historischen Ereignisse wie Unruhen, Flüchtlinge oder Kreuzzüge, die für zusätzliche Würze sorgen: Sie werden von einem Stapel aufgedeckt und können sowohl positive als auch negative Effekte haben - etwa wenn alle Spieler zwei Nahrung oder Kultur bekommen. Es kann aber auch fruchtbares Territorium entdeckt werden, das sowohl Nahrung als auch Bevölkerungswachstum einbringt. Und dann profitiert die stärkste Zivilisation, also jene mit der größten militärischen Kraft. Allerdings kann man bestimmte Ereigniskarten auch ziehen, ansehen und dann auf den Stapel der kommenden Ereignisse legen, um sich darauf vorzubereiten. Wenn man weiß, dass demnächst der Spieler mit dem größten wissenschaftlichen Fortschritt einen Bonus bekommt, sollte man über Labore darauf hinarbeiten!

Überraschende Ereignisse

Apropos Kampf und Territorien: Gerade im Mittelteil des Spiels steigen die militärischen Möglichkeiten und es kann zu Konflikten um lukrative Territorien oder einfachen Angriffen kommen, die im letzten Zeitalter sogar mit Bombern aus der Luft ausgetragen werden - auch dieses mögliche explosive Finale erinnert an Civilization. Man kann sich bis dahin eine schlagfertige Armee aus Infanterie, Kavallerie und Fernkämpfern aufbauen, indem man sie mit Taktikkarten in Formationen gruppiert - allerdings muss man hier auch auf das Alter des Truppentyps achten, denn mit einfachen Kriegern der Antike wird man keinen Grabenkrieg der Moderne ausfechten können. Allerdings verschlingt die ständige Modernisierung viele wichtige Rohstoffe. Kann man über die Kriegsbeute genug Kulturpunkte gewinnen, um das auszugleichen?

  

Je nach Epoche gibt es andere militärische Einheiten.
Allerdings läuft die Eroberung nicht à la Risiko mit Würfeln: Zunächst braucht der Angreifer z.B. eine Kriegs-, Überfall- oder Spionagekarte als politische Aktion, auf der genau steht, welche Folgen sein Sieg hätte - es kann sein, dass der Verteidiger ein paar Gebäude oder Wissenschaft vernichten bzw. abgeben müsste oder sogar empfindlich in der Bevölkerung dezimiert wird. Genau das könnte schmerzhafte Folgen haben, wenn es zu Engpässen im eigenen wirtschaftlichen Kreislauf führt.

Pokern um militärische Stärke

Aber bevor es so weit kommt, erklärt zuerst der Angreifer seine totale Kraft, die aus seiner aktuellen militärische Stärke plus geopferter Einheiten besteht - er entblößt sich also auf gewisse Weise und muss pokern, ob sein Gegenüber noch einen Joker besitzt, denn die aktuelle und für alle sichtbare Stärke des Verteidigers muss nicht seine finale sein. Der Verteidiger kann nämlich zusätzlich zu all dem auch noch Bonuskarten aus der Hand spielen, die seine Kraft weiter steigern. Letztlich hat er auch dadurch einen Vorteil, dass ihm ein Unentschieden für den Sieg reicht. Das sorgt dafür, dass man sich aggressive Aktionen sehr gut überlegen muss.

Im Spiel zu dritt oder zu viert kommt noch die Diplomatie hinzu, die diesem historischen Wettlauf die letzte Würze verleiht, wenn man sich an die Regeln hält. Jeder Spieler kann einen Pakt mit einem anderen schließen - das können gleiche und ungleiche sein. Man liest den Kartentext vor und bietet die Bedingungen einem anderen an, der sie komplett akzeptieren oder ablehnen kann. Wenn man z.B. bemerkt, dass man militärisch nicht mithalten kann oder will, dann hat man die Möglichkeit, einem potenteren Spieler etwas Tribut zu zahlen, um nicht attackiert zu werden. Dieses Abkommen bleibt so lange aktiv, bis es über eine politische Aktion gebrochen wird.

Die Zivilisation wächst: Hier hat sich schon einiges hinsichtlich neuer Gebäude, Einheiten und Staatsformen getan.
Erst die Lektüre, dann das Vergnügen: Wer mit bis zu vier Freunden "Im Wandel der Zeiten" spielen möchte, sollte ein paar Stunden für das Studium der 32-seitigen Anleitung einplanen. Zwar gibt es auch ein ausführliches Einstiegsszenario und die Anleitung bildet den Leser quasi stufenweise aus, so dass man immer mehr dazu lernt. Aber viele Begriffe erschließen sich erst, wenn man wirklich alle Mechanismen kennen gelernt hat, indem man das Spiel einmal selbst aufgebaut und dabei die Anleitung komplett gelesen hat - sonst könnte es am ersten Abend diverse Nachschlagestaus geben.

Willkommen im historischen Proseminar

Natürlich ist dieses historische Wettrennen ein Stundenfresser: Zu zweit muss man schon mindestens zwei Stunden bis zum Mittelalter einrechnen; zu viert kann man locker fünf Stunden spielen. Je nach Zeit und Lust kann man sich aber eine Grenze setzen, Vorgänge beschleunigen oder früher abrechnen - außerdem gibt es Einsteiger-, Fortgeschrittenen- und Expertenmodi, in denen das Spiel nur bis zu einer bestimmten Epoche ohne alle Funktionen läuft. Hinzu kommen einige Regelvarianten, falls man z.B. den Krieg zu Gunsten des Aufbaus eindämmen will. Das Schöne ist, dass man alles den eigenen Wünschen anpassen kann.

 Was für eine Hommage an Sid Meiers Klassiker! Vlaada Chvatil hat hier einige der besten Spielmechaniken aus Civilization auf den Tisch gebracht, bereichert das Ganze um kreative Ideen und beschwört damit ein ganz eigenes Flair. Man braucht Geduld und Zeit für dieses auf den ersten Blick spröde Spiel, aber man wird mit enormer strategischer Tiefe belohnt. Wir spielen "Im Wandel der Zeiten" meist zu zweit über mehrere Tage, immer eine gute Stunde am Stück. Es ist ein bisschen wie beim ruhenden Schachbrett: Man kann die aktuelle Machtlage sacken lassen und über kommende Züge nachdenken. Innerhalb der komplexen Brettspiele gehört dieser historische Aufbau von der Antike bis in die Moderne zu den empfehlenswerten, weil taktisch offenen Varianten. Man kann seine Zivilisation ähnlich wie im Computerspiel vom ersten Tempel bis zur Weltraumerkundung begleiten und dabei sowohl passiv als auch aggressiv vorgehen, um am Ende zu gewinnen. Anspruchsvolle Brettspieler mit einem Faible für historische Szenarien sollten sich dieses strategische Highlight nicht entgehen lassen - ideal für lange Winterabende!

Fazit

Für alle, die eine Wertung vermissen: Wir werden hier nur unsere Highlights vorstellen. Natürlich gibt es auch in der Brettspielwelt einen bunten Mainstream und billigen Murks, aber wir haben keine Zeit für Verrisse. Das ist zunächst ein Angebot, das wir euch zusätzlich bieten. Deshalb konzentrieren wir uns auf die empfehlenswerten Vertreter und die kreativen Geheimtipps, die man vielleicht nicht in jedem Kaufhaus findet.

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