Power Stone - Special, Prügeln & Kämpfen, Dreamcast

Power Stone
01.09.2020, Matthias Schmid

Special: Power Stone

Der besondere Prügler

Tolle 3D-Grafik, witzige Helden und ein extrem dreidimensionales Spielprinzip - mit diesem Dreamcast-Klopper stellte Capcom das Beat’em-Up-Genre auf den Kopf. Eine Liebeserklärung an ein außergewöhnliches Videospiel!

Toshinden mit seinen hohen Sprüngen, Ehrgeiz mit den verschiedenen Höhenebenen oder Virtua Fighter 3tb mit seinen an- und absteigenden Bodenprofilen haben einiges erreicht - für mehr 3D im Prügelspiel. Doch 1999 riss Capcom dem normalen Versus-Kampfspiel in 3D einfach mal so den Boden unter den Füßen weg: Power Stone machte beinahe alles anders - ersetzte Viertelkreis-Moves oder ellenlange Kombos durch simple Kicks und Punches, führte einen Sprungknopf ein, erlaubte das Werfen von Objekten, gab den Kämpfern aufsammelbare Waffen in die Hände und garnierte das Ganze mal eben mit Superverwandlungen à la Dragon Ball.

Mehr 3D, bitte

Konzept-Zeichnung für die Stage Londo - gar nicht so weit weg vom finalen Level.
Heute mag dieses Prügelspiel, das nur einen Nachfolger erhielt, wie eine klitzekleine Randnotiz der Videospielgeschichte anmuten - doch damals waren sich die Kritiker einig: Wer einen Dreamcast sein Eigen nannte, der musste sich diesen Vorzeigetitel holen. Auch um seinen Freunden die Grafikpower der neuen Sega-Hardware zu zeigen: Der europäische Starttitel Power Stone hatte vollgestopfte, abwechslungsreiche Arenen und sah dabei so knackscharf wie bunt aus, zudem bot er auch im Detail wirklich starke Texturen. Obendrein waren die Figuren echte Sympathieträger: Viele Jahre bevor ein Overwatch kultige Comic-Helden mit illustren Biografien zu den Hauptdarstellern machte, wagte sich schon Power Stone weg vom typischen Muskel-Haudrauf mit Badass-Attitüde: In dem leicht steampunkigen 19. Jahrhundert-Setting trafen wir den kecken Doppeldecker-Piloten Falcon, die orientalisch angehauchte Tänzerin Rouge - die Anleitung spricht von „Zigeunerin und Wahrsagerin“ (sic)-, den fröhlichen Martial-Arts-Lehrling Wang Tang, den grinsenden Bergarbeiter Gunrock oder einen bandagierten mysteriösen Verbrecher namens Jack.

Die Figuren unterschieden sich dabei nicht nur in puncto Spezialattacken (dazu später mehr), sondern verlangten aufgrund ihren körperlichen Eigenschaften nach ganz unterschiedlichen Spielstilen: Die großen, starken Figuren wie Gunrock, Galuda oder Sub-Boss Kraken sind schwerfällig und damit im von Kicksprüngen dominierten Nahkampf fast chancenlos gegen die flinke Fraktion um Ayame und Jack. Dafür müssen die sich in Acht nehmen, wenn zwischen den Figuren ein paar virtuelle Meter liegen und etwas zum Werfen in der Nähe ist - weil Gunrock und Galuda, aber auch schon Titelheld Falcon und natürlich Boss Valgas Kisten so schnell schleudern, dass nur Profis sie auffangen können.

Sagenhafte Balance

Sicheres Mismatch? Von wegen! Auch mit der zierlichen und flinken Ayame hat man eine Chance gegen Felsmann Gunrock (der verwandelt an Das Ding von den Fantastischen 4 erinnert).
Dabei ist die Balance, von den Bossen abgesehen, fantastisch - das kann ich nach 20 Jahren fortlaufender Power-Stone-Leidenschaft mit Gewissheit sagen: Ich gehe zwar mit meinem Lieblings-Allrounder Wang Tang eine Spur selbstsicherer ins nächste Duell, doch auch vermeintlich schwächere Figuren wie die zierliche Ninjadame Ayame können jeden Kampf für sich entscheiden. Zur hervorragenden Gewichtung gehören auch die Superattacken: Manche treffen fast immer (z.B. Falcons Raketen, Ryomas Sicheln oder Rouges Feuerball-Totelschädel), anderen ziehen dafür umso mehr Energie ab, sind aber schwerer anzubringen (z.B. Galudas Schnapp-Finisher oder Jacks Klingenpropeller). Andere Spezialattacken hatten in meinem Power-Stone-Freundeskreis wiederum den Ruf als besonders "edle" Finisher: Bei Rouges Kuss-Angriff oder Wang Tangs Überkopf-Kick ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Gegner ausweichen kann, extrem hoch - daher galt deren Einsatz immer als Zeichen für Mut und Fairplay.

Doch bevor ich mich in zu vielen Details verliere, einige Worte zum grundlegenden Spielablauf: Zwei Figuren stehen sich in sehr dreidimensionalen Kampfarenen gegenüber, die Charaktere laufen flott, überwinden per Sprungknopf große Höhen und können sich in manchen Stages sogar an der Decke entlanghangeln. Vorsprünge, Geländer oder Dächer bieten Schutz vor feindlichen Geschossen - das ist sehr wichtig. Denn jeder Gegenstand (Tische, Stühle, Kisten) kann zum Werfen benutzt werden - per Zielautomatik fliegt das Ding dann dem Feind an die Rübe und kostet fast ein Fünftel der Lebensenergie. Außerdem tauchen an festen Stellen immer wieder Schatzkisten auf, die Waffen beinhalten: Mit Schwert, Flammenwerfer oder Hammer zieht man in den Nahkampf und treibt den Feind vor sicher her. Laserwumme, ausfahrbarer Kampfstab, Minigun oder Pistole eignen sich wiederum für den Fernkampf - und haben neben dem offensichtlichen Energie-Abzug noch eine wichtige Sekundärfunktion: Sie sorgen dafür, dass euer Gegner einer seiner Power Stones verliert. Das sind drei magische Steine, die - hat man alle drei eingesammelt - Super-Verwandlungen erlauben. Zum Spielstart besitzt jeder Kämpfer einen, der dritte taucht im Rundenverlauf an zufälliger Stelle auf. Wer dann schon einen Stein aus seinem Gegner rausgeprügelt hat und den dritten Klunker aufnimmt, verwandelt sich im Nu in seine Superform.

So geht Power Stone

Galuda ist transformiert und verwandelt seinen Rest Spezialenergie in einen Finishing Move.
Dann läuft eine Energieleiste langsam ab, währenddessen stehen vier besondere, natürlich charakterspezifische Attacken zur Verfügung. Nehmen wir Falcon als Beispiel: Statt seiner normalen Punches und Kicks hat er nun zielsuchende Raketen und eine Art Shoryuken-Aufwärtsschlag; per Schultertasten obendrein zwei Finisher - einmal startet er eine Raketen-Smartbomb, einmal wird er selbst zur Homing Missile. Das Portfolio der Attacken ist so gewaltig wie vielfältig: Wang Tang wirft einen bildschirmfüllenden Feuerball, Gunrock verwandelt sich in eine tödliche Felskugel, Jack beschwört einen Regen aus Schwertern, Rouge sorgt für ein feuriges Erdbeben, Kraken verschlingt seinen Gegner und Ayame lässt ihre Shurikens kreisen. All diese Moves kosten Super-Energie, die aber auch so ganz langsam weniger wird: Wer verwandelt ist, hat also etliche Sekunden Zeit zum Katz- und Mausspiel - man treibt seinen Gegner mit geworfenen Kisten vor sich her, weil der weiß, dass man mit den Spezialattacken jederzeit zuschlagen kann. Man wartet vor Schatztruhen, holt sich die besten Waffen und haut, kurz bevor die Verwandlung aus ist, noch einen Finisher raus. Gute Spieler leeren mit einer Transformation locker die komplette Lebensleiste ihres Kontrahenten!

Das Werfen von Gegenständen ist wichtig in Power Stone - hier sehen wir eine Illustration aus der (bunten) japanischen Anleitung; ins (graue) PAL-Booklet schafften es die Grafiken leider nicht.
Andererseits ist ein Erfolg, auch bei einer Verwandlung, nicht garantiert: Die Möglichkeiten zur Flucht und zum Kontern sind fast so vielfältig wie die zum Angreifen. Beginnen wir mit Deckung: In Ryomas Stage Mutsu zum Beispiel kann man aufs Dach flüchten - und dort locker eine ganze Verwandlung ohne Treffer überstehen. Im weitläufigen Londo bietet ein Brunnen Deckung, in Mahdad kraxelt man Stangen hoch und weicht so dem Feind aus. In Gunrocks Minenstage Dawnvolta lockt man den Feind in einen riesiges Stachelrad, in Ayames Dojo in Oedo versteckt man sich hinter Balken. Kniffliger wird es in den kleinen Arenen wie Tong An oder Manches, hier ist das Ausweichen und Fliehen um ein Vielfaches schwerer - bei Power Stone kann also auch die die Auswahl der Stage zur Spieltaktik gehören. Auch Kicksprünge kann man defensiv einsetzen: Rückt der Feind mit Hammer oder Flammenwerfer vor, kann ein gezielter (und automatisch zielsuchender) Tritt aus der Luft nicht nur dafür sorgen, dass die Waffe futsch ist, sondern es kullert auch noch ein Power Stone heraus - als Ausgleich zieht der Sprungkick fast keine Energie ab.

Alles ist möglich

Bleibt noch die Wurf-Taste, ein defensiv wie offensiv eingesetzbares, mächtiges Spielelement: Mit ein und demselben Knopf sammelt man Kisten auf (um sie per Schlagknopf zu schleudern), fängt die Wurfgeschosse aber auch wieder auf oder greift sich seine Feinde. Am Boden sowie in der Luft, aber natürlich mit anderen Animationen - hier ist Power Stone äußerst spendabel. Seinen Gegner direkt aus der Luft zu fischen und ihn zu schleudern, erfordert viel Übung und gutes Timing - beherrscht man die Technik aber, kann sich das Blatt schnell ändern und aus einem Gejagten wird der konternde Wurfmeister. Dieser Button kann aber noch mehr: Läuft man an eine Wand, hat jeder Kämpfer eine zusätzlichen, individuellen Wand-Abdrück-Move. Weil das noch nicht genug ist, kommen weitere Spezial-Moves hinzu, wenn man gerade von der Decke hängt oder sich an einen Pfosten klammert. Von wegen simples, partytaugles Spielprinzip - wer Power Stone wahrhaft meistern möchte, kann auch nach Jahren noch dazu lernen, welche Manöver in welcher Situation am vielversprechendsten sind.

Power Stone bietet für ein Spiel des Jahres 1999 überraschend viel Freispiel-Kram: Neben einer Jukebox (die Musik des Spiels ist übrigens klasse) und einem gewöhnungsbedürftigen Klopp-Modus in Ego-Sicht schaltet man auch drei Minispiele für den Bildschirm der Dreamcast-Memory-Card, Zusatzwaffen und Extra-Optionen frei. Darunter zwei sehr reizvolle Spiel-Einstellungen, mit denen ich Power Stone heute meist spiele: Die eine ist recht simpel - man kann einstellen, dass dezent unberechenbare Extra-Waffen wie der Teleskop-Stab und die Minigun nicht auftauchen. Das sorgt für ein Plus an Fairness, weil vor allem beim Stab die komplexe Trefferabfrage in den verwinkelten Arenen nicht optimal funktioniert. Die andere Einstellung betrifft das Energie-System: Ich schalte die sogenannte „After-Rounds-Recovery“ stehts ab - damit startet man exakt mit der Lebenenergie in Kampfrunde zwei, mit der man die erste Runde überstanden hat. Aus Erfahrung kann ich sagen: Das mindert nicht die Spannung am Rundenende und sorgt dafür, dass sich die Duelle auf Dauer ausgeglichener und fairer gestalten.

Freischaltbares & Optionen

Sollte sich Capcom irgendwann zu einem dritten Teil mit Online-Modus überzeugen lassen - Takeshi Tezuka, Produzent des Originals, sprach unlängst von der Möglichkeit (für Switch) - für einen fairen und sportlichen Wettkampf auf E-Sport-Niveau wurden die Grundlagen also bereits vor zwei Jahrzehnten gelegt.

Acht Figuren bot das Spiel zum Start (von links): Falcon, Ayame, Wang Tang, Gunrock, Jack, Galuda, Rouge und Ryoma.
Nintendos heutige Kassenschlager-Serie Smash Bros. debütierte in Japan auf dem N64 im Januar 1999, Power Stone auf Dreamcast gute vier Wochen später - dass eines dieser beiden turbulenten, außergewöhnlichen und auf den ersten Blick chaotischen Prügelspiele also vom anderen geklaut hat, ist also auszuschließen. Die sehr unterschiedlichen Karrieren, die beide Spielereihen machten, sind bekannt - sicherlich trug die Dreamcast-Exklusivität von Power Stone ihren Teil dazu bei. Teil 2 erschien übrigens auch für die erfolglose Sega-Konsole und erweiterte das Spielprinzip auf interessante Weise - dort durften nun plötzlich vier Spieler zeitgleich ran und durch scrollende Arenen hetzen, die fast schon an Jump’n’Run-Level erinnerten. Ein Schelm, wer übrigens daran denkt, dass sich Capcom für Teil 2 dezent an Smash Bros. orientierte: Die Erweiterung auf vier Spieler könnte man noch als Zufall deuten, die Neuzugänge Gourmand (ein feister Koch) und Julia (eine Dame mit Kleid und Schirm) erinnerten aber etwas zu deutlich an Nintendos Poster-Päärchen Mario und Peach.

Konkurrenz für Smash Bros.?

Profi-Stage: In Tong An ist es so eng, dass man Feinden mit Waffen oder geworfenen Gegenständen kaum ausweichen kann. Pad-Künstler schmeißen dem Gegner sogar einen Topf auf die Rübe, was für eine kurze Stun-Phase sorgt.
Power Stone war übrigens Capcoms erstes Spiel für Dreamcast und das Spielhallen-Board Naomi, und es war ein Starttitel zum europäischen DC-Launch im Oktober 1999. Den interessanten, aber in der Kampfmechanik (keine Kicksprünge, keine Würfe) doch verwässerten Nachfolger habe ich bereits angesprochen - nicht aber die Neu-Veröffentlichung beider Teile als Collection für die PSP im Jahr 2006. Die war technisch sauber und spielerisch klasse - hatte auf dem Handheld aber natürlich weniger Mehrspieler-fokussiert also auf der Sega-Konsole. Einen ganz netten Anime der renommierten Pierrot-Studios (Naruto, Bleach, Tokyo Ghoul) zum Spiel gab es übrigens auch, allerdings nur zwei Staffeln lang. Damit wäre auch schon fast alles gesagt zu diesem wundervollen Titel, den ich nach wie vor für das beste Multiplayer-Kampfspiel überhaupt halte. Und schließe mit einem Zitat von Designer Hideaki Itsuno aus einem 2019er Interview mit dem englischen Guardian: „Wir wollten ganz anders sein als jedes bisher existierende Prügelspiel.“ Ich stimme vollumfänglich zu und füge an: Auch über 20 Jahre nach Release ist diese Prämisse noch gültig!

 
Kommentare
4P|Matthias

Das klingt in der Tat außergewöhnlich und spricht mich an. Danke abermals für einen richtig richtig gut geschrieben Klassiker. Macht so viel Lust und Laune das (fast schon jeden Monat) von dir zu lesen. Grandios!
Ich bedanke mich - das freut mich sehr.

vor 4 Jahren
djsmirnof

Ein Remake oder einen HD Auflage gerne.Am liebsten mit einen Online Anbindung.Ein 3 Teil lieber nicht.Der kann nur in die Hose gehen.

vor 4 Jahren
P0ng1

Was haben wir damals die beiden Power Stone Teile auf der Dreamcast rauf und runter gespielt.
Ja, war eine wunderschöne Zeit vorm dicken Röhrenfernseher ...

vor 4 Jahren
JudgeMeByMyJumper

Das klingt in der Tat außergewöhnlich und spricht mich an. Danke abermals für einen richtig richtig gut geschrieben Klassiker. Macht so viel Lust und Laune das (fast schon jeden Monat) von dir zu lesen. Grandios!

vor 4 Jahren
HaZzZrD

Oh man ich hab das damals zum vollen Preis gekauft und eine Woche später war es bei Karstadt in der Krabbelkiste für 5 Kröten hahaha. Ich hab mich so geärgert.
Aber das Ding war unfassbar gut, gehört für die Switch remastered.

vor 4 Jahren