Grand Theft Zirkus
Ein Kommentar von Jörg Luibl, 18.09.2013

Als ich ein Knirps war und auf einen Elefanten gesetzt wurde, war ich für Minuten komplett hin und weg. In so einer Art Grinsestarre. Da schaukelte ich auf diesem Riesen und war der King! Ich hatte natürlich Schiss, aber es konnte ja eigentlich nix passieren – schließlich war ich nicht wirklich im Dschungel, sondern im Zirkus. Und was es da noch alles gab: Akrobaten, Popcorn, Affen, Clowns, Eis!

Je älter ich wurde, desto langweiliger wirkte dieses Spektakel auf mich. Mittlerweile verabscheue ich den Zirkus sogar für die Art, wie man dort mit wilden Tieren umgeht. Eigentlich schade: Aus der Faszination an dieser bizarren Welt ist Ernüchterung geworden. Man hat die Illusion irgendwann durchschaut. Jetzt könnte mich nur noch eine authentische Begegnung in der Wildnis reizen, ein ehrlicher Nervenkitzel. Und was schau ich mir abends an? Tierdokus!

Wenn ich Grand Theft Auto 5 spiele, fühle ich mich wie ein Erwachsener, den man in den Zirkus seiner Kindheit entführt. Aus den Elefanten und Clowns sind eben Schrotflinten und Nigger geworden – es wird geflucht, geballert, gefickt und gerast. Da ist so viel Schwanz, Muschi und Porno drin, dass sich der Kauf nicht nur für Männer in der Midlife-Crisis, sondern auch für Kids in der Pubertät lohnt.  All das, was einem als Jungen rote Backen und vielleicht Lust auf mehr macht, lässt mich hier allerdings kalt. Mal muss ich schmunzeln, mal lachen, aber von Immersion ist keine Spur.

Ich sehe da weder etwas Skandalöses noch etwas Faszinierendes. Heiß dürften lediglich konservative Amerikaner werden. Denn wer sich schon über die harmlose Hot-Coffee-Mod aufgeregt hat, müsste schon beim virtuellen Titten-Grabschen im Strip-Club in Schnappatmung verfallen. Und spätestens im Angesicht von Trevors totaler Primitivität samt Gemächt in HD müsste man zumindest im Bible Belt ohnmächtig werden. Aber meine Güte, wie albern, plump und unerotisch Spiele immer noch sind.

Mein Problem ist ohnehin nicht, dass es inklusive Fäkalsprache, Rassismus, Gewalt, Drogen und Sex politisch inkorrekt zugeht – im Gegenteil: Wer einer rücksichtslosen Gesellschaft den Spiegel vorhalten will, muss all die aufgesetzte Schminke mit ihrem breiten Alles-ist-schön-Grinsen weglassen, damit die hässliche Fratze sichtbar wird. Das gelingt Grand Theft Auto. Zwar lange nicht so wie etwa den Sopranos oder Breaking Bad, wo man angesichts der Entwicklung der Charaktere von der Gewalt überrascht wird. Hier sitzt man als Spieler sofort als King auf dem Ich-scheiß-auf-alles-Elefanten. Wenn ich will, mach ich alles platt!

Das kann cool sein, es gibt tolle Momente in diesem Spiel. Aber es bleibt so viel unbefriedigte Neugier, weil Rockstar Games hinsichtlich Spieldesign und Dramaturgie so wenig Interessantes in seiner offenen Welt inszeniert. An der Oberfläche ist alles schick und alleine aufgrund der Größe der Welt immer noch verlockend. Aber tausende Quadratkilometer sind auch nicht mehr dieser Magnet, der vor zehn Jahren so anzog. Die Herausforderung liegt mittlerweile eher darin, stimmungsvolle Milieus abzubilden, die nicht nach dem ersten Besuch in sich zusammen fallen. Sobald man in diesem Grand Theft Auto eine Etage tiefer geht und etwas piekst, findet man abseits von situativer Komik, lustigen und derben Missionen leider mehr Staffage als Substanz.

Und man spielt teilweise in totalem Widerspruch zu dem, wie das Drehbuch z.B. Franklin darstellt.
Er will eigentlich raus aus dem Gangsta-Leben. Und was muss (!) er in einer der ersten Missionen machen, ohne dass ich als Spieler eine Wahl habe? Den Bodycount mit der Schrotflinte hochtreiben – da werden auch Polizisten aus dem Heli rausgeballert. Danach kommt er nach Hause und echauffiert sich darüber, dass seine Tante mit ihren Freundinnen irgendeinen Aerobic-Tanz aufführt? Dann legt er sich mit dem Prollkumpel aus dem Knast an? Das passt einfach nicht. Ich kann Trevor gar nicht so spielen wie Rockstar ihn zeichnet.

Mein Problem ist gerade dieser fehlende Fortschritt in der Regie, die mich wie in der Steinzeit des Spieldesigns zur Marionette macht. All das Oberflächliche kenne ich schon. Kick-Ass-Action und anarchistische Attitüde gibt es zur Genüge. Es ist so, als würde GTA in seine eigene Vergangenheit reisen, ohne sich weiter zu entwickeln. Als ich mit Franklin unterwegs bin, während Eazy-E und NWA im Radio laufen, dachte ich mir nur: Been there, done that. Dieses coole Gangsta-Kapitel wurde nicht nur von San Andreas, sondern schon längst von Film, Literatur und anderen Spielen durchgenudelt. Richtig cool und rebellisch wäre GTA übrigens, wenn man das verdammte Handy wegschmeißen, zertreten und endlich frei in Los Santos sein könnte. Stattdessen werde ich totgebimmelt und Rockstar springt inklusive App und Facebook auf den Social-Media-Zug auf.

Nicht nur weil hinsichtlich der Figuren eine neue Dimension charakterlicher Tiefe und Entwicklung fehlt, die u.a. Spiele wie The Walking Dead auszeichnet, sondern weil auch der Anspruch an die eigenen Skills gering ist, sitze ich vor dem Fernseher und spiele so wie ich Chips esse: Mach diese eine Mission, grabsch mal in jene Tüte, fahre in einen Stadtteil, futter nochmal etwas Action. Selbst wenn ich auf der Flucht rase oder in einer Schießerei ballere, bin ich dabei nahezu komplett relaxt, ohne Anspannung und weit weg von einer Immersion, die den Puls in die Höhe treibt. Wo ist der Nervenkitzel? Dafür reicht Trevors Penis nicht aus.

Eine Mission nervt? Einfach überspringen und die Story geht so weiter, als hätte ich Erfolg gehabt! Warum soll ich mir dann überhaupt die Mühe machen, nach Bronze, Silber oder Gold zu jagen? Auch die Fähigkeiten hören sich zwar gut an, wirken sich aber kaum spürbar aus, zumal eine Spezialisierung zum Schleichen, Fahren oder Kämpfen durch den Charakterwechsel eigentlich gar nicht nötig ist – jeder kann ja von Beginn irgendwas besonders gut. Die erste Schlägerei gegen eine Gang mit vier Mann? Kein Problem, man macht sie mit Franklin in den ersten Minuten fertig. Es gibt auch zu wenig Konsequenzen: Ich hetze der Nachbarin aus Versehen den Hund auf den Hals, der sie am hellichten Tag totbeißt. Und was passiert? Nix. Niemand stört sich. Sie liegt da einfach rum.

Es ist diese Sicherheit und Beliebigkeit, die aus dem nach außen so chaotisch und anarchistisch anmutenden Spiel für mich eher eine spießige, voll angeschnallte und lineare Fahrt durch einen Freizeitpark alter Schule macht. Das ist kein ungewisses Abenteuer neuer Art, das mich lockt und reizt. Dass mir letztlich nichts passieren kann, ist ja gar nicht das Problem, sondern der ureigene Reiz eines jeden Spiels mit viel Action – dem Alltag entfliehen, Extreme erleben, aber sicher sein. Wie als Kind auf dem Elefanten. Aber die Illusion einer lebendigen Spielwelt mit glaubwürdigen Charakteren und Reaktionen wird auch in Los Santos zu schnell zerstört. Grand Theft Auto bleibt mit seiner Sogwirkung ein Phänomen, mit dem man seinen derben Spaß haben kann. Aber Rockstars Popikone grinst mittlerweile wie eine zu stark geschminkte Diva, die ihren Zenit überschritten hat.


Jörg Luibl
Chefredakteur