Als ich meinen Wehrdienst absolviert habe, lange ist es her, kam das Spielen fast zum Erliegen. Es war sogar kurz davor, aus meinem Leben zu verschwinden. Mein Amiga verstaubte, die alten Kumpel verloren sich und die vielen durchzockten Wochenenden verblassten mit all den schönen Erinnerungen an Highscores. Am Wochenende war Party angesagt, aber nicht mit Bits und Bytes, sondern mit Bier und Babes - zumindest auf Postern.
Das famose Spielejahr 1993 rauschte an mir vorbei. Spätestens beim ersten Alarm in der Kaserne, als wir mitten in der Nacht mit ABC-Schutzmaske durch einen Tunnel fliehen mussten und ein Kamerad vor mir keine Luft mehr bekam, fühlte sich alles verdammt ernst an. Wir mussten beruhigend auf ihn einreden, damit er den Weg nicht blockierte. Das war nur eine Übung, niemand verletzte sich und ich war nie in Gefahr.
Aber meine Perspektive änderte sich. Und existenzielle Fragen sorgten für Unruhe: Könnte es tatsächlich nochmal einen Krieg geben? Was sollte überhaupt aus mir werden? Soll ich Grafikdesigner werden, weil ich so gerne Comics zeichne? Oder Fantasyromane schreiben, weil ich schon dreimal Dungeons & Dragons geleitet habe? Wach auf, Junge, mach was Vernünftiges! Es gibt Wichtigeres im Leben als deinen Spaß oder Spiele! Erwachsen werden, Verantwortung übernehmen, malochen gehen - das war die Hauptquest.
Jetzt haben wir eine richtige Krise, in der es wirklich um Menschenleben geht und der Alltag drastisch verändert wird. Das ist keine Übung, sondern tatsächlich ein Ernstfall. Bei all der Tragik für all jene, die gerade Verwandte, ihren Job oder ihr Geschäft verlieren: Eine Epidemie ist kein Krieg. Niemand muss an eine Front, wir müssen nicht um unsere Kinder fürchten oder vor Bomben flüchten.
Im Gegenteil: In dieser Krise steckt ein großer Luxus. Man kann sich abseits von Arbeit, Schule & Co auf das Wesentliche besinnen - auf sich, seine Freunde oder Familie. Man darf ja nicht vergessen, dass für viele auch Home Office und Zeit für Spiele etwas Kostbares ist. Man muss nicht täglich ins Büro, nicht in die Klasse oder zur Prüfung, nicht in den elenden Stau oder die übervolle Bahn.
Man hat mehr Zeit zur Verfügung - auch für digitalen Spaß. Wir gehen immer von einer Gesellschaft aus, in der jeder spielt. Aber wer weiß, wie viele Großeltern, Väter und Mütter zum ersten Mal mit ihren Enkeln oder Kids gerade jetzt, weil die Gelegenheit da ist, viel mehr und anders zusammen spielen - egal ob übers Internet, an einem TV oder auf dem Tisch. Zum ersten Mal steht die ganze Welt quasi still für Press Start.
Dieses Spielejahr 2020 wird jedenfalls nicht einfach so an der Gesellschaft vorbei rauschen. Es wird auf seine Art als etwas Besonderes in Erinnerung bleiben. Ihr solltet das Beste daraus machen.
Jörg Luibl
Chefredakteur
Luxus in der Krise
Ein Kommentar von Jörg Luibl, 21.03.2020