Quo vadis, Spielewelt?
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 15.05.2006

Zwei Tränen, ein Revolver, eine Frau. Als hätte sie schon lange in mörderischer Absicht gelauert, zieht sie in ihren Bann. Sie spielt, sie schießt und sie trifft. Mitten ins Herz hinein, da wo die Sehnsucht eines von uninspirierten Nachfolgern, großkalibrigen Waffenpornos und dreisten Plagiaten gelangweilten Zockers pocht. Egal, was aus Heavy Rain wird: Ich will dabei sein. Ich will wissen, was mir die Spielezukunft an Emotionen, Spannung und Dramaturgie zu bieten hat.

Ist das zu viel Pathos? Mag sein. Aber das ist keine individuelle, sondern eine kollektive Sehnsucht. Wie viele Spieler da draußen hat die weinende Lady mit ihrem Revolver erwischt? Hunderte? Tausende? Plötzlich hinterlässt ein Trailer ohne großes Werbetamtam und Marketinggerassel den schärfsten Eindruck der E3 . Eine scheinbar unspektakuläre Charakterstudie fesselt nicht nur eine ganze Redaktion, sondern eine ganze Nation - okay, hier zwingt der Reim zur Übertreibung; daher: Verzeihung.

Aber selbst, wenn ich hier im Stadium der Faszination ein bisschen auf den Putz haue: Ist das, was Heavy Rain als Echtzeitanimation auf der PlayStation 3 auslöst, nicht ein Indiz, ein Fingerzeig? Deutet das nicht darauf hin, dass man sich spätestens im Jahr 2006 in Zockerkreisen nach etwas anderem sehnt als brachialer Action, sexy Babes und technischer Power? Will man nicht endlich unter die Oberfläche der virtuellen Welten, die schon genug glitzern, partikeln, spiegeln und reizen? Will man nicht endlich die Tiefe eines Schauspiels, die Tiefe einer Person erleben?

Eigentlich sollte in Los Angeles die große Polygonbrunft zwischen PlayStation 3 und Xbox 360 die Frühlingsluft schwängern. Und zwar so gewaltig, dass man am Ende viele kreischende neue, noch hübschere und viel versprechende Babys hätte begrüßen können. Aber was kam raus? Laue Luft. Assassin's Creed, Gears of War und Solid der Vierte ließen noch verhalten staunen. Aber ansonsten: Beide Next-Gen-Mamas sind grafisch auf par. Ein Wettkampf lebt davon, dass einer das Tempo bestimmt. Die E3 glich einer Tandemfahrt zweier cool sein wollender Tanten, wobei Ms. Microsoft aufgrund ihres Trainingsvorsprungs noch einen Tick adretter wirkte.

John Carmack von id Software hat die Misere von Sony gut auf den Punkt gebracht: Jeder erwartet von der PS3 Großartiges, sie ist theoretisch leistungsstärker als die 360, aber praktisch schwerer zu programmieren. Das Fehlen von Killzone 2 glich einem Waterloo für Sony und alle polygonhungrigen Grafiknapoleons. Es ist eine Niederlage für den größten Spielekonzern der Welt, der als Marktführer eingestehen muss, dass es scheinbar unheimlich schwer ist, technisch so zu beeindrucken, dass der Gegner verblüfft im Schatten steht - es sei denn, man schneidet mal eben ein Rendermärchen zusammen. Selbst von Intel werden die Japaner mittlerweile attackiert…

Aber auch der PC hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Spore? War nicht spielbar. Und Blizzard ruht sich mittlerweile auf seiner WoW-Rente aus. Wer ist größer, fetter, geiler? Es ist an der Spitze der Branche zu einer Sackgasse gekommen - nur, dass diesmal nicht alle blind hinein rennen. Nintendo verabschiedet sich mit dem Wii vom pubertären Pixelvergleich und geht zurück zu den Wurzeln. Denn in Spielerkreisen grassiert nicht nur der Wunsch nach glaubwürdigeren Charakteren und Gefühlen, sondern noch ein anderer: der Wunsch nach frischen Spielerlebnissen. Genau den scheint der bewegungssensitive Nunchak-Controller von Nintendo zu befriedigen. Selbst Skeptiker wurden plötzlich überzeugt - genau so wie beim DS. Und das auf eine erfrischend einfache Art, die an den kreativen Pioniergeist der Geburtsstunde der Videospiele erinnert. Nintendos Kreativköpfe haben's immer noch drauf.

Das Schöne ist: Während sich die größte Bilder-, Info- und Trailerflut der Branche mit all ihren altbekannten Spielkonzepten gigaliterweise ins Netz ergoss, konnten sich tatsächlich abseits des Stroms diese zarten Pflanzen bemerkbar machen. Eines darf man nicht vergessen: Die Spielewelt ist immer noch der jüngste Spross im Unterhaltungswald. Auch wenn er schnell und millionenschwer wächst, steht er immer noch im Schatten der mächtigen Baumriesen Film und Literatur, die noch stärker in unserer Tradition verwurzelt sind: Dramaturgie und Regie, Entertainment und Faszination haben auf PC und Konsolen noch lange nicht dieselbe Reife und Qualität erreicht. Heavy Rain und der Wii bilden mutige Zweige in zwei komplett unterschiedliche, aber unheimlich wichtige Richtungen. Hoffentlich wachsen sie beide zu festen Größen.


Jörg Luibl
4P|Chefredakteur