Das Spiel & die nationale Frage
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 23.06.2006

Ein Meer aus Schwarz, Rot, Gold. Kinder tragen die Farben im Haar, Frauen auf der Haut, Männer am Auto. Die Deutschen lassen die nationale Seele baumeln und versprühen eine überraschende Heiterkeit aus Sommer, Sonne, Wurst und Klose. Statt Miesepetern, Couchnörglern und Zauderern fluten Optimisten, Leinwandanbeter und Huphooligans die Straßen. Es wird gelacht, getrunken und gejohlt.

Das tut richtig gut. Denn es gab bisher so viele Gründe, an diesem Deutschland zu verzweifeln - nicht nur als Bürger, sondern auch und gerade als Spieler: das Jugendschutzgesetz, die Killerspieldebatte, die Frontal21-Berichte, Uwe Bolls Filmprojekte. Das Leben mit dem Bundesadler kann hart sein. Manchmal fühlte man sich wie in einem verkrampften Hosenscheißerland. Und jetzt? Jetzt fühlt man sich plötzlich wie in einem lockeren Aufbruchstimmungsland. Gibt es da etwa einen Mentalitätswechsel oder ist das die pure Partylaune?

Die ausländische Presse wundert sich jedenfalls über diese ganz anderen Deutschen, die nicht in das Klischee vom pessimistischen Michel passen wollen. Das Land feiert sich auf der Bühne der WM in eine nationale Euphorie, die morgen gegen Schweden einen hochprozentigen Höhepunkt erreichen dürfte - egal ob im Glas oder in der Glotze. Was hat das mit Spielen zu tun? Was hat unsere Nationalität mit der Spielebranche zu tun? Einiges.

Egal ob Stammtisch, Familie oder Spiegel: Viele stellen gerade die Frage : Ist das gut? Darf man so selbstbewusst Flagge zeigen? Ja, klar. Ich sehe lieber tausend Flaggenpanzer auf der Autobahn als einen Spürpanzer irgendwo im Kongo. Außerdem ist ohnehin bald Schluss mit lustig: Der Winter naht, die Mehrwertsteuer kommt, der FC Bayern setzt zum Alleingang an, das Jugendschutzgesetz wird ergänzt…

Aber genau diese Darf-man-Fragen sind nicht nur typisch deutsch. Sie bilden auch die psychologische Brücke in die Spielewelt. Auch heimische Zocker, Entwickler und Publisher fragen sich angesichts unserer Geschichte, ob man dieses oder jenes darf. Darf man z.B. ein Spiel entwickeln, das mich als Helden in die Zeit des Nationalsozialismus entführt?

Wie heikel diese Frage ist, hat bereits eine Ankündigung im Jahr 2004 gezeigt: Das PC-Spiel Das Reich 2005 sorgte bei einigen Journalisten für Entsetzen: "Will man da etwa eine rechtslastige Zielgruppe ködern?" Schnell waren sie wieder da: die Befürchtungen vor Propaganda, die Angst vor Verherrlichung, die moralischen Scheuklappen - dabei sollte man einen Widerstandskämpfer spielen. Das Spiel hat hier als Medium noch lange nicht die Reife des heimischen Films erreicht, der Hitler kinotauglich thematisieren konnte. Und selbst da gab es ja reichlich feuilletonistische Stellungskriege.

Die Debatte über historische Sensibilität ist gut und wichtig, aber die Angststarre ist schlecht - "Das Reich 2005" wurde auch aufgrund der Thematik eingestellt. Wir beschweren uns als Tester zurecht darüber, dass der Zweite Weltkrieg als Szenario langweilt, weil diese Zeitspanne nur als still stehende Klischeekulisse verwendet wird - vor allem, wenn man an Strategiespiele denkt. Aber es gibt einen interessanten Aspekt, der als Idee noch völlig unverbraucht ist: Die Rolle des Deutschen als Charakter, hin und her gerissen zwischen Patriotismus und Fanatismus, zwischen Vernunft und Wahnsinn. Ich will die First-Person mit all ihren Konflikten, ihre Ängsten und Zwängen.

Ich rede hier nicht davon, einfach die Uniformen auszutauschen und ein schnödes Call of Duty 2 aus Sicht eines Wehrmachtssoldaten zu entwickeln. Billigen Shooterkram mit Schmalzpathos und Armynostalgie gibt es genug, anspruchslosen Military-Trash erst recht. Ich rede davon, ein packendes Abenteuer im Stile eines Max Payne 2 oder Fahrenheit anzugehen, das eine dramatische Geschichte aus der Perspektive eines Deutschen erzählt. Ich kann GIs, Special Agents, Band of Brothers und Squads nicht mehr sehen. Der amerikanische Zocker findet genug spielerische Identifikationspunkte mit seiner Großvätergeneration - es wird Zeit, dass wir auch welche bekommen.

Nehmt einen Landser, der sich von der Ostfront verzweifelt nach Hause durchschlägt. Nehmt einen jungen Offizier, der an Stauffenbergs Attentat beteiligt wird. Oder nehmt einen Vater, der seinen Sohn, seine Frau oder Freunde aus den Fängen der SS befreien will. Zeigt die hässliche Fratze der Zeit in ihrer Schonungslosigkeit, aber zeigt auch die andere Seite. Arbeitet nicht nur mit Grafikern und Programmieren, sondern auch mit Historikern zusammen. Macht einen Shooter, macht Stealth-Action oder ein Adventure daraus!

Nur, weil morgen kurz vorm Anstoß wieder Schwarz-Rot-Gold und hektoliterweise Bier regieren, kann man nicht von einem neuen Patriotismus reden. Vielleicht ist es nur ein über vier Fußballwochen gegröhltes "Schlaaaaaaand". Erst, wenn dieses Land am Tag der deutschen Einheit so unbeschwert Flagge zeigt wie die Norweger am 17. Mai, die Argentinier am 25. Mai oder die Amerikaner am 4. Juli, kann man von einem Schritt hin zum Mentalitätswechsel sprechen. Erst wenn ein deutscher Entwickler selbstbewusst und ohne Aufschrei ein erwachsenes Spiel über den Zweiten Weltkrieg machen kann, hat sich etwas an der Mentalität geändert. Ich würde mich darauf freuen.


Jörg Luibl
Chefredakteur