Ich brauche Mittelmaß!
Eine Kolumne von Benjamin Schmädig, 09.02.2007

28. März 2038: Introversion bestätigt EA-Übernahme

Bereits vor zwei Wochen kursierten Gerüchte, denen zufolge der britische Publisher Introversion Software (Darwinia, Defcon) über den Kauf von Electronic Arts nachdenkt. In einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz erklärte Chris Delay, Creative Director bei Introversion, dass sämtliche EA-Studios ab sofort unter britischer Flagge operieren. Allerdings will Delay die Entwickler aus dem "Korsett der regelmäßigen Fortsetzung befreien". Statt jährlicher Updates sollen in Zukunft Kreativität und Innovation das Markenzeichen zukünftiger Titel von "IntrovEArsion Games" sein.

Horrorvorstellung? Traumwelt? Blödelei? Paradies?

Auf jeden Fall pure Fiktion - aber für viele Spieler Realität ihres Wunschdenkens. Denn wer von euch hat noch nicht die Faust wild fuchtelnd Richtung EA gehalten und einen Fluch auf das alljährliche Need for Speed oder den Einkauf von Digital Illusions (Battlefield) gezischt? Innovation heißt das Zauberwort, dem ihr als treue Glaubensbrüder huldigt. Eure Religion ist nicht das Christentum des schnöden Durchschnitts, sondern die Esoterik des Besonderen. "Die neue Spielidee" nennt sich eure Sekte der Dauerzocker; die das Wiederkauen verlernen wollen.

Doch so einfach ist das nicht. Weil nicht nur EA, sondern auch Microsoft, Take 2, Codemasters, Square Enix, Sony, Vivendi, Buena Vista, Eidos, Atlus, Atari, Sega, Activision, Namco, Ubisoft; LucasArts und wie sie alle heißen jeden Tag die gleiche Suppe kochen: Virtua Fighter 5, Splinter Cell: Double Agent, Pro Evolution Soccer 6, NBA 2K7, Burnout Dominator, Battlefield 2142 usw. usw.usw. Und selbst wenn es zu der Mahlzeit keine Vorspeise gibt, wirkt sie meist wie schon mal durchgekaut.

Warum hört niemand euren Schrei nach Abwechslung? Wieso stellt niemand den Ventilator für frischen Wind in die Büros der Entwickler? Weshalb sind dort scheinbar mehr Programmierer für die Grafik zuständig als insgesamt an den restlichen Projekten arbeiten? Es braucht doch nur einen kreativen Kopf und einen Batzen Kohle, damit die Grenze zwischen Echtzeitstrategie und Ego-Shooter schwindet. Damit euch Heavy Rain verzaubern kann. Damit Spiele unabhängiger Studios neben Halo 3 im MediaMarkt stehen. Dann würdet ihr um Mitternacht die Innenstadt belagern, um Darwinia Online zu kaufen.

Würdet ihr? Garantiert?

Natürlich nicht! Auch nicht die lautstarken Meckerer. Denn warum finden nur wenig Spiele, von deren Titelbildern das Herzblut der Programmierer tropft, zahlreiche Anhänger? Weil niemand gerne für etwas zahlt, das skurril, "anders" oder kompliziert aussieht. Das geniale Okami wirkt z.B. im Gegensatz zu Zelda wie ein impressionistisches Experiment und wer riskiert schon 50 Euro, damit dasselbe auf seiner Spielezunge keinen Rezeptor findet? Anders gefragt: Wo waren die lautstarken Weltverbesserer, als Capcom so wenige Einheiten loswurde, dass die Entwickler jetzt neue Arbeit suchen? Zählt mal durch: Wer von euch besitzt Defcon, REZ, ICO, Katamari, Fahrenheit, Killer 7 UND Homeworld, um nur ein paar zu nennen?

Deshalb steht EA für das, worüber ihr euch aufregt: Weil ihr sämtliche Underground-, Most Wanted-  und Carbon-Farbtupfer im Regal stehen habt. Welche Rolle hat es beim Kauf schon gespielt, dass sie nicht vom Gipfel des Kreativbergs gepurzelt sind? Welche Rolle spielt das noch, wenn der Wagen mit 300 Sachen den donnernden Carbon-Beats hinterher heizt! Der geldhungrige Schluckspecht im Herzen der EA-Zentrale ist zum Synonym der Ideenlosigkeit geworden - weil ihr dafür bezahlt!

Aber genug geschwafelt. Ich verabschiede mich ins heimische Wohnzimmer. Zu GTA: Vice City Stories, Final Fantasy XII, Splinter Cell: Double Agent, NHL 07 oder Half-Life 2: Episode 1. Nein, eure Regale sind nicht die einzigen, die in einem Meer aus Zahlen schwimmen; EA und die anderen Schluckspechte haben schon etliche hundert Scheine aus meinem Portemonnaie gefischt. Deshalb muss ich auch die Klappe halten, wenn sie jedes Jahr die gleiche Angel auswerfen. Ich kann mir Innovationen wünschen. Aber ich werde nicht nur Darwinias kaufen. Ich brauche auch Mittelmaß! Ich erwarte Fortsetzungen!

Und jetzt viel Spaß im innovationsarmen Alltag!

Benjamin Schmädig
Redakteur