Pöbelman & Gentleman
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 13.04.2007

Keine Manieren, keine Rücksicht, kein Fairplay - die Welt ist schlecht. Und die virtuelle von Xbox Live erst recht. Nicht, wenn man gemütlich mit Freunden spielt, sondern immer dann, wenn man sich in den gnadenlosen Wettbewerb der Ligen begibt. Statt auf Gentlemen trifft man da schnell auf Pöbelmen, Poserbacken und Punktefresser.

Warum man da überhaupt mitspielt? Der Stolz, die Gier, das Ego - das alte testosteron'sche Elend. Irgendwie bildet man sich ein, dass man was drauf hat, wenn man eine Kampagne Rainbow Six: Vegas gemeistert, eine Meisterliga in Konamis Fußballtempeln gewonnen oder ein paar Kumpels abgezogen hat. Der eitle Wunsch ist so oft Vater der süßen Selbstüberschätzung. Hatte der AS Rom nicht vor dem 10. April noch von der Champions League geträumt? Wieso soll man nicht mal selbst weltweit die Nummer 1 sein? Also will man es wissen und stürzt sich ehrgeizig in Ranked Matches. Dort angekommen, trifft man dann schnell auf die eigene Beschränktheit und die wahren Skills am anderen Ende der Leitung.

Und die gehören den Punktefressern. Sie reden nicht mehr, sie machen dich einfach fertig - wortlos, klinisch, unaufhaltsam: 1:0, 2:0, 3:0, 4:0. Am Anfang wehrt man sich, man meint, dass das alles nicht wahr sein kann, aber die natürliche Auslese lässt sich nicht aufhalten. Eigentlich kann man sich auch zurücklehnen und die Unaufhaltsamkeit der klaren Niederlage bestaunen - übrigens eine gute Übung für das Ego. Wird man im Angesicht der Deklassierung zum primitiven Pöbelman oder bleibt man schweigender, vielleicht sogar anerkennender Gentleman? Das kommt auf die psychologische Tagesform an.

Klare Niederlagen schmerzen. Und sie bleiben in Erinnerung. Das, was der AS Rom gegen Manchester erlebte, machen Hunderte, wenn nicht Tausende jeden Tag durch. Egal ob Virtua Tennis 3, Gears of War, NBA 2K7 oder Pro Evolution Soccer 6 - überall lauern zockende Biomonster mit Skills jenseits von nachvollziehbar und verständlich. Und spätestens nach 5:0. 6:0, 7:0, nach Headshot Nummer 35 oder nach Kettensägenkuss 53 zweifelt man sogar an der eigenen Videospielexistenzberechtigung. Warum überhaupt noch zocken? Was ist man doch für ein Wurm!

All das ist jedoch tatsächlich noch erträglich. Man krümmt sich ein wenig, man bemitleidet sich sehr viel, man schiebt die Schuld auf die schlechte Verbindung, den defekten Controller, das grottige Balancing oder eben EA. Letztlich tröstet die alte Weisheit, dass einer im Leben eben immer besser ist. Okay, es können auch zwei, zwölf oder 426 sein. Aber: Diese überlegenen Punktefresser schweigen und genießen.

Viel schlimmer sind die geschwätzigen, die mitteilungsbedürftigen Pöbelmen, die weder zur Spitze noch zum Keller der Zockerligen gehören. Also die ab Platz 534 abwärts bis runter auf 9856. Hier findet man die ehrgeizigen Idioten. Die, die nach oben kommen wollen - mit allen Mitteln. Die, die sich schwarz ärgern, wenn sie eine Niederlage wieder eine Stufe in der nicht akzeptierten Bedeutungslosigkeit zurückwirft. Denn sie fallen dramatisch von Platz 5327 auf 5333. Und dieser Sturz schmerzt so sehr, dass man das gleich live dem Gegenüber ins Ohr polemisieren muss. Hier wird nicht geschwiegen, sondern gepöbelt. Entweder gleich von Beginn an oder am Ende.

Der Psychokrieg im Wettkampf kennt im Zeitalter des Voice-Chats keine Grenzen: Man neckt. Man lästert. Man beschimpft. Man lässt die Zeit ohne Aktion runterlaufen. Man lässt Zeitlupen ewig laufen. Man kommentiert ewig laufende Zeitlupen mit Sticheleien. Man unterlegt ewig laufende Zeitlupen mit Tokio Hotel. Man bricht irgendwann das Spiel ab. Man bewertet den Sieger aus Trotz schlecht. Man schickt dem Sieger nach der Niederlage orthografisch oder geistig fragwürdige Nachrichten: "Du bekloptes Hurenglüksschwein! Du kanns nur Tore schiessn, mehr nich! Ich mach dich nächstema so platt!"

Die Welt ist schlecht, vielleicht sogar primitiv, aber es gibt kulturell wertvolle Ausnahmen. Auch im knallharten Punktewettbewerb kann man den Gentleman treffen. Auch im Mittelstand. Auch im zockenden Ausland. Selbst nachts um 1:29 Uhr in einem Punktspiel. Zu später Stunde treiben sich eigentlich nur noch böse Ranglistenwölfe mit gefletschten Prollzähnen herum. Und wenn jemand "Steve da Beast" heißt, hört sich das nicht nach 5-Uhr-Tee und englischem Humor an, sondern nach "You f*cking noob will lose!".

Ich hatte ein Ranglistenmatch mit Steve. Und: Pro Evolution Soccer 6 fror mitten in der zweiten Halbzeit beim Stand von 2:2 ein - nichts ging mehr, keine Bewegung, kein Menü. Das hieß: Derjenige, der seine Xbox 360 ausgeschaltet hätte, hätte eine Niederlage, einen Verbindungsabbruch und einen Punktverlust in der Statistik hinnehmen müssen. Was macht man? Dieser Status quo war psychologisch brenzlig. Wer schaltet aus? Wer gibt nach? Ich hatte mich schon auf ein verbales Scharmützel eingestellt.

Immerhin waren Chat und Textmessages über Xbox Live noch möglich. Falls sich Pöbelman und Gentleman getroffen hätten, wäre die Sache schlecht ausgegangen. Sie hätte je nach Trotz und Stolz entweder zu einem Beschimpfungspingpong oder vielleicht sogar einem Grabenkampf zwischen zwei Sturköpfen geführt: Beide lassen ihre Konsole einfach laufen. Zur Not bis zum nächsten Morgen.

Aber nicht an diesem Abend. Steve und ich haben das Problem mit einem uralten Spiel gelöst: Schnickschnackschnuck. Scheresteinpapier. Scissor, Stone, Paper. Und zwar per synchroner Textmessage. Erst haben wir gelacht, man war auch misstrauisch ob der Cheatmöglichkeiten, aber dann haben wirs durchgezogen: Wir haben unsere Uhrzeit verglichen und abgemacht, dass jeder um genau 1:42 Uhr seine Wahl per Textmessage abgibt - den Zeitunterschied zu England einkalkuliert.

Das erste Ergebnis: Scissor, Scissor.

Darf das wahr sein? Also die nächste Wahl um 1:47 Uhr!

Das zweite Ergebnis: Stone, Stone.

Spätestens jetzt war dieses uralte Spiel spannender als unser Kick zuvor! Es knisterte in der Leitung, als wir den dritten Versuch um 1:52 Uhr starteten. Schließlich hatte ich mehr Glück mit Scissor, Steve das Biest hatte sich mit Paper verschätzt.

Und was kam danach? Kein Gejammer, kein Geflame, kein Pöbelman, sondern eine Freundesanfrage! Ist das zu fassen? Ein lupenreiner Gentleman um 1:53 Uhr! Ich hab ihm noch am selben Abend versprochen, dass ich daraus eine Kolumne mache. Also, hier ist sie mit einem Gruß aus tiefster Zockerseele:

Hail Steve da Beast!


Jörg Luibl
Chefredakteur